Eine kleine Ungenauigkeit ist mir bei der Lektüre der sonst bisher verlegerisch perfekt aussehenden “Sammelkladden” aufgefallen (der nächste Teil der Rezension kommt noch). Jetzt lese ich gerade das Gästebuch der Merzausstellung, die vom 19. März bis 30. April 1922 in Hildesheim lief.
Schwitters, dieser Gedankenfänger, stellte das Gästebuch zur Verfügung, damit die Ausstellungsbesucher ihre Meinung äussern könnten. Was sie auch taten, in einer ungeschminkten Art und Weise. Schwitters wiederum verarbeitete viele, insbesondere negativen Feedbacks in seiner TRAN-Serie (das war eine bitterböse Abrechnung mit Kritiken in einer bunten Mischung aus verschiedenen Genres und Stils). Andererseits haben viele Besucher der Ausstellung in ihren Einträgen Schwitters Werke zitiert, die bereits erschienen waren – vor allem die ominöse Anna Blume, daran haben viele ihre eigenen dicherischen Kräfte versucht, mit Parodien und Persiflagen.
Nun erscheint auf der Seite 52 des Gästebuchs (Die Sammelkladden, S. 81) folgender Eintrag (oder gar ein angeblicher Dialog zweier Besucher (?)):
Hier in diesen stillen Räumen möcht mein Dasein ich verträumen.
Auguste Schwanen [?]
Unsinn Auguste heiraten mußte.
In Kommentaren zu diesem Eintrag schreiben die Herausgeber:
Der Gast zitiert den Text Tran Nr. 30 Auguste Bolte (ein Lebertran), der in KS’ Reihe der gegen die Kunstkritik polemisierenden Tran-Texte gehört. Auch das Wort Schwanen im Eintrag bezieht sich auf Tran Nr. 30, in dessen Einleitung Die Schwanenjungfrau erwähnt wird (Die Sammelkladden, S. 744)
Nun ich bin leider kein Experte, was die deutsche Kurrentschrift angeht, bin daher nicht sicher, ob auf der glücklicherweise in “Sammelkladden” abgebildeten Seite des Gästebuches tatsächlich “Schwanen” steht.
Seite 223 in: Kurt Schwitters. Die Sammelkladden 1919-1923.Bearbeitet von Julia Nantke und Antje Wulff. Reihe: Kurt Schwitters. Alle Texte, hrsg. von Ursula Kocher und Isabel Schulz, Kurt und Ernst Schwitters Stiftung in Kooperation mit dem Sprengel Museum Hannover, Bd. 3. De Gruyter, Berlin 2014.
Doch die eigentliche Ungenauigkeit besteht im Folgenden: Der Gästebucheintrag ist irgendwann zwischen dem 6. und 16. April 1922 gemacht worden. Der erwähnte Text Tran Nr. 30 Auguste Bolte jedoch erschien erst 1923 in “Der Sturm“. Also hat höchstwahrscheinlich Schwitters diesen gassenhauermässigen Spruch aus dem Gästebuch in sein Tran Nr 30 Auguste Bolte übernommen, und nicht umgekehrt, wie die Herausgeber schreiben.
So wird dieser enigmatische Spruch erklärt, der mich bei der Lektüre von Auguste Bolte ständig beschäftigte.
Denn was und wer ist Auguste Bolte? Eine anarchische Geschichte, deren namengebende Protagonistin Auguste Bolte sich durch ihre ausgewogen ausgerastete Mischung aus eiserner Logik, monströser Zielstrebigkeit und kindlicher Naivität jener prominenten Amelie aus dem cineastischen Meisterwerk “Le fabuleux destin d’Amélie Poulain” ähnelt. Den Text finden Sie nicht nur in der 5-bändigen Lach-Ausgabe, sondern neulich auch in einem von Christian Demand im Arche-Verlag herausgegebenen Hardcover (für Interessierten – das Buch habe ich bei CULTurMAG rezensiert).
Kurz zum Inhalt: das Fräulein verfolgt konsequent 10 Passanten auf der Strasse, weil sie den Grund wissen möchte, welches Ziel diese Passanten so konsequent verfolgen. Die Gruppe spaltet sich immer mehr auf und die lineare Verfolgung bekommt Fraktal-Züge. Nebenbei zieht sich Auguste Bolte fast vollständig aus, macht beiläufig ihren Doktortitel und mutiert plötzlich von einer Stalkerin zu einer tröstenden Autorität. Auf einmal aber wird sie von allen Seiten mit dem Spruch in Berlinerisch (?) zugeschüttet: “Unsinn Aujuste, heiraten mußte“, der in seiner Penetranz, Reaktionarität und Ignoranz dem Leser zusammen mit Auguste ständig auf die Nerven geht.
Was ist das??? Dieser Spruch gab mir keine Ruhe bei der Lektüre von Tran 30, und jetzt schon erst nicht. Ich kann es nicht so stehen lassen, ich muss recherchieren! Eine Recherche zeigt jedoch ein interessantes Auftreten des Spruchs, nicht nur bei Schwitters und im Merz-Ausstellungs-Gästebuch.
Mal soll es (laut einer unverlässlichen Quelle) bereits von Goethe ausgesprochen worden sein, im Bezug auf ein junges Fräulein namens Auguste, die ihm ihre Gedichte zwecks Kritik zugesandt haben soll (http://www.multitran.ru/c/m.exe?a=4&MessNum=150611&topic=41&l1=1&l2=2#topic).
Carl Zuckmayer hat diesen Spruch in seinem 1931 uraufgeführten Theaterstück “Der Hauptmann von Köpenick” eingebaut.
Und bereits 1897 schrieb Theodor Lessing in “Christus und Venus” (Quelle)
Scheinbar sehr geläufig war dieser reaktionär-chauvinistisch angehauter Spruch gewesen, mit dem man Argumente einer Frau auf eine sexistische Art und Weise unreflektiv zurückwies, indem man sie in die konventionelle Genderrollen bzw. zum Herde (wenn auch im übertragenen Sinne) schickt.
Suchen wir mal weiter. Dieser Spruch hat bis zum Münsterer Soziolekt Masematte geschaft, wie der Geheimsprachen- und Soziolektforscher Klaus Siewert in seinem “Textbuch Masematte” notiert:
Anscheinend gab es einen running gag um die besagte Auguste, die uns nur in Bruchstücken und Literaturwerken überliefert kam.
Denn in der berühmten Zeitschrift “Jugend” (die Namensgeberin des Jugendstils, die auch mal Georg Grosz und Tucholsky veröffentlichte, aber in den 30 Jahren sich an die NS-Partei orientierend irgendwohin abdriftete), in der Ausgabe Nr. 25 vom 1937 (http://www.simplicissimus.info/uploads/tx_lombkswjournaldb/pdf/2/42/42_25.pdf) wurde auf der Seite 16 eine Anekdote abgedruckt, die interessanterweise nicht nur die reaktionäre Antwort widergibt, sondern auch den Text der Auguste selbst, die dem Text im Merz-Gästenbuch erstaunlich ähnelt:
Der (zugegebenerweise gendermässig präkere) Lachfaktor dieses Witzes liegt in der prosaischen Zurechweisung eines Inspirationsmoments einer gewissen Auguste durch einen gewissen Friedrich Wilhelm III. höchstpersönlich. “Du sollst net träumen, sondern gesellschaftstauglich untergebracht werden, Weib” – so in etwa.
Einige Jahre früher (springen wir mal wieder in der Zeit), genauer: am 30. Juli 1922 (d.h. einige Monate nach der Merz-Ausstellung) veröffentlicht der liberale Rosenheimer Anzeiger (jetzt: Oberbayerisches Volksblatt) folgende Posse, als ein Eintrag aus einem Fremdenbuch (Quelle):
Der leicht abgewandelter Dialog zweier Personen ähnelt immerhin erstaunlich dem Merz-Gästebuch-Eintrag:
[...] Eine andere Dame hatte im Gefühl der Freude über den Bergwald die Worte in das Fremdenbuch geschrieben:
Ach, könnt’ ich unter diesen Bäumen
Meine Lebenszeit verträumen!
Die Dame hieß Augiste Schmidt. Ein Wanderer schrieb darunter:
Ach, Unsinn, Auguste,
Heiraten mußte.
Und endlich, in Bayern angekommen, finden wir den Ursprung dieses textuellen Zwiegesprächs. Laut “Berlinisch, eine Sprache mit Humor” von Edda Prochownik, (1964 von der Haude und Spenersche Verlagsbuchhandlung herausgegeben), soll sich dieser textuelle Dialog auf Seiten eines Gästebuches in einem oberbayerischen Gebirgsgasthaus im Jahre 1889 abgespielt haben.
So wurde der meme über “Auguste” geboren und schmuggelte sich in das Gästebuch der Merzausstellung, aber auch bei Lessing und Zuckmayer rein. Und natürlich kam die Auguste, die mußte, zu Schwitters in seinen Tran 30. Ein weiterer Teil seiner Kollage.
Möglicherweise könnte dieser Spruch sogar für die Namengebung der Protagonistin verantwortlich sein, da im Text mit Ihrem Vornamen lauter gereimt wird. Weil Auguste wußte, was sie mußte.
Interessant, welche Geschichten verbergen sich hinter weiteren Mosaikteilen des MERZ-Gesamtkunstwerks…
Quelle: http://merzdadaco.hypotheses.org/102