Auf eine Tagung einzugehen, die man selbst nicht besucht hat, und das nur auf Grund eines Tagungsberichtes, von dem man nicht weiß, ob er der Tagung auch gerecht wird, ist nicht unbedingt zu empfehlen. Gerechtfertig erscheint es mir, wenn man im Tagungsbericht Formulierungen wiederfindet, die man auch andernorts schon gesehen – und nicht verstanden hat.
So wurde ausweislich des Berichts (http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=5358) dem Geschichtsbewusstsein vorgeworfen, “dass gängige Theoriedebatten des Geschichtsbewusstseins allzu sehr die dualistischen Denkstrukturen des 19./20. Jahrhunderts spiegeln würden” (und später wird gefragt, “ob eine solche binäre Auflösung [migrantisch vs. biodeutsch; A.F.] nicht bereits in der Theorie des Geschichtsbewusstseins grundgelegt sei”). Themen und Inhalte von Geschichte und Geschichtsunterricht seien eurozentristisch und allein an Fakten und Ereignisse gebunden. Diese Kritik gipfelt in der revolutionären (?) Forderung, “Geschichte könne nicht an Nation gebunden und ebenso wenig nur rückwärtsgewandt sein”. Dabei wird die Frage aufgeworfen, “ob von Theorien, die dem Denken des 19./20 Jahrhunderts verhaftet sind, positive Impulse für aktuelle Debatten um historisches Denken und Lernen ausgehen könnten und nicht stattdessen postmoderne Theorien stärker rezipiert werden müssten”. Kritisiert wird auch, “dass das Individuum bislang zu stark vernachlässigt worden sei”. Ein weiterer Stein des Anstoßes ist die “Normativität gängiger Theorien des Geschichtsbewusstsein”. Der Rüsenschen Konzeptualisierung wird schließlich vorgeworfen, dass sie “stark homogenisierend sei, da diese normierenden Prüfungskategorien beinhalte und zudem einer kulturellen Orientierung diene, welche an einer nationalen Fokussierung festhielte”.
Kritik am Geschichtsbewusstsein ist nicht selten und lässt sich in Variationen auch in den Diskussionen auf Public History Weekly finden. Was kann man da tun?
Hilft der Rückgriff auf empirische Forschung? So wurde offenbar vorgeschlagen, “alle möglichen Modelle und Ebenen des Geschichtsbewusstseins zu operationalisieren und als Kompetenz zu testen, um sich dem Ziel einer bildungsorientierten Geschichtsdidaktik zu nähern”. Aus der Perspektive einer empirischen Forschung ist das nicht sinnvoll, denn Theorie geht vor Empirie; alles andere wäre ein ziemlich naiver Induktivismus und/oder Positivismus.
Wäre es denn eine Alternative, “auf die Kategorie Geschichtsbewusstsein zu verzichten und stattdessen auf ‘historische Mündigkeit’ im schulischen und wissenschaftlichen Diskurs zurückzugreifen”? Das hat den Charme einer klassischen Begrifflichkeit für sich; aber es ist nichts anderes als eine Spielart des Geschichtsbewusstseins aus der ja schon etwas älteren Diskussion. Dass “eher der Prozess der Begegnung mit Vergangenheit, genauer die „eigen-sinnig“ produktive Aneignung von Geschichte und Vergangenheit, in den Fokus rücken müsste”, passt just in diese Diskussionsrichtung. Dazu später mehr.
Ein weiterer Weg aus der postulierten Krise des Geschichtsbewusstseins besteht in der Forderung, “Prozesse historischen Lernens, aber auch die Struktur des Geschichtsbewusstseins, auf Basis einer gegenwärtig relevanten Gesellschaftstheorie abzubilden, da Geschichte immer nur aus der Gegenwart heraus gedacht werden könne”. Welche gegenwärtig relevante Gesellschaftstheorie soll das sein, und wieso ist das zwingend vorgängig? Geht es um eine Theorie der modernen Gesellschaft? Oder doch nur um eine Besinnung auf den eigenen Standpunkt, was ja selbstverständlich wäre – und in den diversen Konzepten des Geshcichtsbewusstseins ja durchaus angelegt?
Vor allem irritiert mich die offenkundig virulente Kritik an den Konzepten von Jörn Rüsen, die ja noch für das FUER-Projekt zumindest auf der argumentativen und der strukturierenden Ebene wegweisend waren – ob sie immer Rüsen entsprachen, kann man diskutieren. Ich habe auch selbst schon Kritik an Rüsen geübt – vgl. mein Beitrag unter dem Titel “Historik oder Wissenschaftstheorie der Geschichtswissenschaft?” in: Erwägen, Wissen, Ethik : EWE = Deliberation, knowledge, ethics 22 (2011) 4, S. 521-524. Mich stört aber eher, dass Rüsens Überlegungen nichts dazu beitragen, den spezifischen Wissenschaftscharakter von Geschichtswissenschaft klar gegen nicht-wissenschaftliche oder sogar unwissenschaftliche Beschäftigungen mit Geschichte abzugrenzen. Dass Rüsens Konzeption des Geschichtsbewusstseins normativ ist, stört mich nicht – wenn sie unterrichtsrelevant sein soll, muss sie das sein. Auch die “Fortschrittsfokussierung des genetischen Erzählens” stört mich nicht, da es nicht Rüsens einziges Modell des Erzählens ist – und auch nicht sein bevorzugtes. (Man mag allerdings darüber streiten, wie hilfreich die Typologie dieser Erzählweisen wirklich ist.) Die Vorstellung, dass die “Rüsensche Theorie des Geschichtsbewusstsein stark homogenisierend sei, da diese normierenden Prüfungskategorien beinhalte und zudem einer kulturellen Orientierung diene, welche an einer nationalen Fokussierung festhielte”, verstehe ich erst recht nicht; da hoffe ich einfach auf Erläuterungen. Ich erkenne bei Rüsen weder eine starke Intention der Homogenisierung noch eine nationale Fixierung.
Doch damit zurück zu dem Gedanken, den ich oben noch zurückgestellt hatte. “Dass sich die Beiträge dabei primär auf Rüsen und Pandel stützen, mag vielleicht eine kleinere Schwäche des Workshops gewesen sein, hätten doch zumindest die Arbeiten von Jeismann und v. Borries (noch) prominenter einbezogen werden können” – so der Bericht, und das möchte ich gerne unterstützen. Die Zielbestimmung von Geschichtsunterricht, die Jeismann 2000 im Anschluss an eigene, weit ältere Beiträge formuliert hat, weist m.E. einen guten Weg:
“Geschichtsunterricht […] muss sich das Ziel setzen, die Heranwachsenden zu befähigen, mit den unterschiedlichen und in Zukunft sich stets wandelnden Angeboten historischer Deutung im Horizont Ihrer Gegenwart sich auseinanderzusetzen und selber in wichtigen Fragen zu einer begründeten geschichtlichen Vorstellung zu finden […].” (Karl-Ernst Jeismann, “Geschichtsbewußtsein” als zentrale Kategorie der Didaktik des Geschichtsunterrichts, in: Ders. (Hg), Geschichte und Bildung. Beiträge zur Geschichtsdidaktik und zur historischen Bildungsforschung, Paderborn 2000, S. 46–72, hier S. 48)
Mit diesem Konzept ist Geschichtsbewusstsein im Grunde angelegt als die Fähigkeit, sich mit historischen Zumutungen der das Individuum umgebenden Welt produktiv und eigen-sinnig auseinanderzusetzen. Das kann man dann auch “historische Mündigkeit” nennen, und in der Tat ist “Geschichts-bewusstsein” keine glückliche Benennung (das “Bewusstsein” stört hier tatsächlich) – aber es ist ein eingebürgerter Terminus, und es spricht zu wenig dafür, auf ihn zu verzichten.
Wäre ein solches (in meinen Augen sehr pragmatisches und alltagstaugliches und zugleich durchaus theoriefähiges) Begriffsverständnis nicht der gleichen Kritik ausgesetzt, wie sie oben schon anklang? Teilweise sicher. Diese Begriffsverwenudng wäre normativ. Darin sehe ich kein Problem. Ich sehe allerdings nicht, wieso dieses Begriffsverständnis (genau so wenig wie Rüsens oder Pandels Konzeptualisierungen) hier Dualismen und binäre Weltordnungen reproduzieren sollten. Sie könnten auch im Gegenteil dazu dienen, solche Dualismen zu zertrümmern. Eurozentrismen sind diesem Begriffsverständnis auch nicht inhärent, es sei denn, man sieht schon in der Orientierung an Grundsätzen moderner Wissenschaftlichkeit einen Ausdruck von westlicher Hegemonie (was ich nicht tue).
Kurzum: Statt “Geschichtsbewusstsein revisited” plädiere ich für “Geschichtsbewusstsein rehabilitated”.
Quelle: http://geschichtsadmin.hypotheses.org/244