Moderne Ahnenverehrung?

Wohl in fast jedem (bildungsbürgerlichen) Haushalt wird man beim Durchstöbern der Bücherregale auf mindestens ein bis zwei Bücher zur lokalen Geschichte stoßen. Die Geschichte einer Heimatstadt ist zwar oft kein alltäglich präsentes Thema, doch viele Menschen wissen etwas, einige etwas mehr, über den Ort, an dem sie leben, und dessen Geschichte.
Woher kommt das Interesse daran, die Geschichte des Wohnortes zu kennen, das Bedürfnis, etwas über frühere Bewohner der Stadt zu erfahren? Vielleicht ist es bloßes Geschichtsbewusstsein, Interesse an Faktenwissen, oder das diffuse Gefühl, man müsse dem nächsten Besucher von auswärts doch zumindest ein paar Dinge über die Geschichte der Stadt erzählen können. Ich möchte hier einen etwas anderen Gedankengang ausprobieren und vorschlagen, im lokalen Geschichtsbewusstsein des modernen Bildungsbürgers ein Beispiel für die Existenz des ‚Vormodernen‘ im ‚Modernen‘ zu sehen.

Weshalb ist das so? In ‚vormodernen‘ oder ‚traditionellen‘ Gesellschaften spielen die Beziehungen zu den verstorbenen Ahnen eine wichtige Rolle, viel mehr als es in ‚modernen‘ Gesellschaften der Fall ist bzw. der Fall zu sein scheint. In Südostasien beispielsweise ist die rituelle Ahnenverehrung ein Bestandteil des alltäglichen Lebens, wie unter anderem die Forschungen von Josephus Platenkamp in Indonesien und Laos gezeigt haben.1 Und schon 1907 hat einer der ‚Vorväter‘ der Religionswissenschaft, Robert Hertz, in seinem heute klassischen Aufsatz zur Totenverehrung auf Borneo demonstriert, welch zentrale Rolle die Toten im Leben der Menschen dort spielen.2
Für das Fortbestehen und die Existenz von Familie und Dorfgemeinschaft, so verdeutlichen diese ethnologischen Arbeiten, ist es zentral, dass die Beziehungen zu den Toten gepflegt werden. Dies geschieht durch Rituale. Die Toten ‚leben weiter‘, in gewissem Sinne, wenn sie exhumiert und unter dem Dachgiebel aufbewahrt werden oder wenn ihnen im Ahnenschrein Opfer gebracht werden. Krankheiten und Unglücke werden darauf zurückgeführt, dass man die Beziehung zu den Ahnen nicht entsprechend gepflegt hat.
Und selbst wenn man sich nicht mehr namentlich an seine Vorfahren erinnern kann, sind diese immer noch Teil des sozialen Ganzen, so in der Kosmologie der Tobelo (Nord-Halmahera, Indonesien), wo die Vorfahren, die im kollektiven Gedächtnis aufgehen, mit den Plejaden gleichgesetzt werden, einem Sternbild, dass ungefähr ein halbes Jahr am Nachthimmel sichtbar ist und dessen Verschwinden den Termin für die Reisaussaat setzt.3

Eine solche ‚direkte‘ Beziehung zu den Ahnen ist hierzulande und in vielen anderen ‚modernen‘ Gesellschaften undenkbar. Die Toten werden bestattet, man erinnert sich ihrer, aber eine beeinflussbare und wirksame Beziehung zu ihnen mag es – abgesehen von alternativ-spirituellen Bereichen – nur in Einzelfällen geben.
Als Ersatzhandlung sozusagen – und hier folgt nun meine Idee der Existenz des ‚Vormodernen‘ in der ‚Moderne‘ – stellen Einzelne eine Beziehung zu abstrakten Vorfahren her, indem sie die Geschichte ihres Wohnortes kennenlernen; indem sie ‚Wurzeln schlagen‘ durch Stadtführungen und Lektüre der Lokalgeschichte.
Auch der moderne Mensch ‚braucht‘, so dürfte man weiter vermuten, eine wie auch immer geartete Beziehung zur Vergangenheit, um sich ‚heimisch‘ zu fühlen – daher vielleicht auch der unvergängliche Bezug auf ‚Tradition‘ in sämtlichen wertbehafteten Diskursen, von der Werbung bis hin zur leidvollen Leitkulturdebatte.

Doch wenn ich vermute, die Beschäftigung mit der Lokalgeschichte sei eine ‚quasi-prämoderne‘ Handlung, die dem modernen Menschen eine Verbindung zu abstrakten Ahnen ermöglicht, folgt ein nicht zu unterschätzendes erkenntnistheoretisches Problem. Denn allzu schnell kann die Argumentation darauf hinauslaufen, dass hinter den verschiedenen kulturellen und gesellschaftlichen Ausdrucksformen universale Muster stünden, die sich durch die Menschheitsgeschichte hinweg immer wieder in vielfältigen Formen zeigen.
Es ist jedoch empirisch schwer nachzuweisen, dass zum Menschsein immer und überall eine wie auch immer geartete Beziehung zu den Ahnen gehört. Mein Versuch ist hier eher vergleichend als verallgemeinernd zu verstehen. Eine haltbare These nach aktuellen religionswissenschaftlichen Maßstäben lässt sich aber (noch) nicht entwickeln. Doch die Idee, das Geschichtsbewusstsein heutiger Bildungsbürger als ‚moderne Ahnenverehrung‘ zu betrachten, durchbricht gängige Dichotomien von ‚modern‘ und ‚traditionell‘ oder ‚wir‘ und die ‚anderen‘ und zeigt vielmehr, dass ‚vormoderne‘ Charakteristika auch in der ‚modernen‘ Gesellschaft aufscheinen.

mr

  1. Platenkamp, Josephus (2000), Temporality and Male-Female Distinctions in the Tobelo Vocabulary of Relationships. In: Alés, C.: Sexe relatif ou sexe absolu?, 241–262; Platenkamp, Josephus (2010), Becoming a Lao Person. In: Berger, P. L. et al.: The Anthropology of Values, 180–200.
  2. Hertz, Robert (1907), Contribution à une étude de la représentation collective de la mort. Année Sociologique, Vol. X, 48–137.
  3. Platenkamp, Josephus (2015), On the Confrontation Between Perennial Models in 19th Century Halmahera (Indonesia). In: Hartmann, A., Murawska, O.: Repräsentationen der Zukunft – Representing the Future, 61–98.

Quelle: http://marginalie.hypotheses.org/45

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Moderne Ahnenverehrung?

Wohl in fast jedem (bildungsbürgerlichen) Haushalt wird man beim Durchstöbern der Bücherregale auf mindestens ein bis zwei Bücher zur lokalen Geschichte stoßen. Die Geschichte einer Heimatstadt ist zwar oft kein alltäglich präsentes Thema, doch viele Menschen wissen etwas, einige etwas mehr, über den Ort, an dem sie leben, und dessen Geschichte.
Woher kommt das Interesse daran, die Geschichte des Wohnortes zu kennen, das Bedürfnis, etwas über frühere Bewohner der Stadt zu erfahren? Vielleicht ist es bloßes Geschichtsbewusstsein, Interesse an Faktenwissen, oder das diffuse Gefühl, man müsse dem nächsten Besucher von auswärts doch zumindest ein paar Dinge über die Geschichte der Stadt erzählen können. Ich möchte hier einen etwas anderen Gedankengang ausprobieren und vorschlagen, im lokalen Geschichtsbewusstsein des modernen Bildungsbürgers ein Beispiel für die Existenz des ‚Vormodernen‘ im ‚Modernen‘ zu sehen.

Weshalb ist das so? In ‚vormodernen‘ oder ‚traditionellen‘ Gesellschaften spielen die Beziehungen zu den verstorbenen Ahnen eine wichtige Rolle, viel mehr als es in ‚modernen‘ Gesellschaften der Fall ist bzw. der Fall zu sein scheint. In Südostasien beispielsweise ist die rituelle Ahnenverehrung ein Bestandteil des alltäglichen Lebens, wie unter anderem die Forschungen von Josephus Platenkamp in Indonesien und Laos gezeigt haben.1 Und schon 1907 hat einer der ‚Vorväter‘ der Religionswissenschaft, Robert Hertz, in seinem heute klassischen Aufsatz zur Totenverehrung auf Borneo demonstriert, welch zentrale Rolle die Toten im Leben der Menschen dort spielen.2
Für das Fortbestehen und die Existenz von Familie und Dorfgemeinschaft, so verdeutlichen diese ethnologischen Arbeiten, ist es zentral, dass die Beziehungen zu den Toten gepflegt werden. Dies geschieht durch Rituale. Die Toten ‚leben weiter‘, in gewissem Sinne, wenn sie exhumiert und unter dem Dachgiebel aufbewahrt werden oder wenn ihnen im Ahnenschrein Opfer gebracht werden. Krankheiten und Unglücke werden darauf zurückgeführt, dass man die Beziehung zu den Ahnen nicht entsprechend gepflegt hat.
Und selbst wenn man sich nicht mehr namentlich an seine Vorfahren erinnern kann, sind diese immer noch Teil des sozialen Ganzen, so in der Kosmologie der Tobelo (Nord-Halmahera, Indonesien), wo die Vorfahren, die im kollektiven Gedächtnis aufgehen, mit den Plejaden gleichgesetzt werden, einem Sternbild, dass ungefähr ein halbes Jahr am Nachthimmel sichtbar ist und dessen Verschwinden den Termin für die Reisaussaat setzt.3

Eine solche ‚direkte‘ Beziehung zu den Ahnen ist hierzulande und in vielen anderen ‚modernen‘ Gesellschaften undenkbar. Die Toten werden bestattet, man erinnert sich ihrer, aber eine beeinflussbare und wirksame Beziehung zu ihnen mag es – abgesehen von alternativ-spirituellen Bereichen – nur in Einzelfällen geben.
Als Ersatzhandlung sozusagen – und hier folgt nun meine Idee der Existenz des ‚Vormodernen‘ in der ‚Moderne‘ – stellen Einzelne eine Beziehung zu abstrakten Vorfahren her, indem sie die Geschichte ihres Wohnortes kennenlernen; indem sie ‚Wurzeln schlagen‘ durch Stadtführungen und Lektüre der Lokalgeschichte.
Auch der moderne Mensch ‚braucht‘, so dürfte man weiter vermuten, eine wie auch immer geartete Beziehung zur Vergangenheit, um sich ‚heimisch‘ zu fühlen – daher vielleicht auch der unvergängliche Bezug auf ‚Tradition‘ in sämtlichen wertbehafteten Diskursen, von der Werbung bis hin zur leidvollen Leitkulturdebatte.

Doch wenn ich vermute, die Beschäftigung mit der Lokalgeschichte sei eine ‚quasi-prämoderne‘ Handlung, die dem modernen Menschen eine Verbindung zu abstrakten Ahnen ermöglicht, folgt ein nicht zu unterschätzendes erkenntnistheoretisches Problem. Denn allzu schnell kann die Argumentation darauf hinauslaufen, dass hinter den verschiedenen kulturellen und gesellschaftlichen Ausdrucksformen universale Muster stünden, die sich durch die Menschheitsgeschichte hinweg immer wieder in vielfältigen Formen zeigen.
Es ist jedoch empirisch schwer nachzuweisen, dass zum Menschsein immer und überall eine wie auch immer geartete Beziehung zu den Ahnen gehört. Mein Versuch ist hier eher vergleichend als verallgemeinernd zu verstehen. Eine haltbare These nach aktuellen religionswissenschaftlichen Maßstäben lässt sich aber (noch) nicht entwickeln. Doch die Idee, das Geschichtsbewusstsein heutiger Bildungsbürger als ‚moderne Ahnenverehrung‘ zu betrachten, durchbricht gängige Dichotomien von ‚modern‘ und ‚traditionell‘ oder ‚wir‘ und die ‚anderen‘ und zeigt vielmehr, dass ‚vormoderne‘ Charakteristika auch in der ‚modernen‘ Gesellschaft aufscheinen.

mr

  1. Platenkamp, Josephus (2000), Temporality and Male-Female Distinctions in the Tobelo Vocabulary of Relationships. In: Alés, C.: Sexe relatif ou sexe absolu?, 241–262; Platenkamp, Josephus (2010), Becoming a Lao Person. In: Berger, P. L. et al.: The Anthropology of Values, 180–200.
  2. Hertz, Robert (1907), Contribution à une étude de la représentation collective de la mort. Année Sociologique, Vol. X, 48–137.
  3. Platenkamp, Josephus (2015), On the Confrontation Between Perennial Models in 19th Century Halmahera (Indonesia). In: Hartmann, A., Murawska, O.: Repräsentationen der Zukunft – Representing the Future, 61–98.

Quelle: http://marginalie.hypotheses.org/45

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auf der Recherche nach dem bespitzelten Volontariat der Bürgerpresse

Die Spitzelaffäre bei der taz hat Bov Bjerg dazu veranlasst, nachzufragen, ob die Bezeichnung der taz als ausgelagertes Volontariat der bürgerlichen Presse von Wiglaf Droste oder Hermann L. Gremliza stammt; Gremliza war meine spontane Antwort, ich nahm dies aber gleich zum Anlass zu einer Recherche auf der löblichen Konkret-CD, voilà das Ergebnis:

Seit 1989 wird das Zitat Gremliza zugeschrieben und taucht in folgenden Versionen auf:

Konkret 07/1989, S. 6 (Leserbrief Heini Nadalet/Benn Wagner)
"Aber warum dann ausgerechnet das »ausgelagerte Volontariat« (Gremliza) der bürgerlichen Presse"

Konkret 11/1991, S. 37 (Michael Schilling, Trotzköpfchens Wechseljahre):
"»Das ausgelagerte Volontariat der Bürgerpresse« hat sie wiederum mein Freund G. schon vor zehn Jahren genannt,"

Konkret 05/1994, S. 44 (Kunst & Gewerbe):
"die »Taz«, das ausgelagerte Volontariat der Bürgerpresse."

Konkret 06/2001, S. 66 (Gremlizas Express)
"in jenem ausgelagerten Volontariat der Bürgerpresse"

Und dies hier dürfte die 1985 gedruckte Originalversion des Zitats sein:

Konkret 06/1985, S. 8 (Kolumne Hermann L. Gremliza)
"So gewiß die kesse »Tageszeitung« auch das ausgelagerte Volontärsheim für »Spiegel«-, »Zeit«- und Privatfunk-Nachwuchs ist, so sicher werden die »politischen Talente« vom rechten Flügel der Grünen demnächst zu J. Rau »Genosse« sagen."

Quelle: http://adresscomptoir.twoday.net/stories/1022400299/

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Die Tegernseer Schlossbibliothek, keine Geschichtsquelle?

Florian Sepp hat im Weblog Geschichte Bayerns eine gründliche Dokumentation vorgelegt: ”Die Tegernseer Schlossbibliothek und ihr Ende” – zur Zerstreuung und Verscherbelung der vor allem im 19. Jahrhundert zusammengetragenen Bibliothek der Herzöge in Bayern, einer Wittelsbacher Nebenlinie, in dem in ihrem Eigentum stehenden Schloss Tegernsee (dem früheren Kloster). Der Beitrag ist ausgezeichnet belegt, wobei neben Online-Quellen vor allem Auskünfte des Kirchenhistorikers Dr. Roland Götz von Bedeutung waren.

Frühestens seit dem Ende des 19. Jahrhundert lagerte im Tegernseer Psallierchor ein wertvoller Buchbestand von etwa 11.000 Bänden, der nach einem Gutachten von Zisska & Schauer in München 2010 von der Kreissparkasse Miesbach unter dem skandalträchtigen Vorstandsvorsitzenden Georg Bromme für 150.000 Euro erworben wurde. Das gleiche Auktionshaus hatte zuvor wertvolle Bestände aus der Bibliothek versteigert (mit der üblichen Provenienz-Verschleierung) – und zwar ohne ein Wort dazu im Gutachten zu sagen. Die Bewertung eines Bestands, ohne dass die frühere Gesamtheit in den Blick genommen wird, halte ich für unredlich. Inwieweit auch eine juristische Relevanz durch die Befangenheit besteht, vermag ich nicht zu sagen. In jedem Fall ist es nicht ganz abwegig anzunehmen, dass die Sparkasse vom Kauf abgesehen oder einen niederen Betrag bezahlt hätte, wäre ihr bekannt gewesen, dass ein Gutteil vorab aus dem Ensemble herausgebrochen wurde. Unter dem Gutachten steht der Name von Herbert Schauer, inzwischen berüchtigt durch die Girolamini-Affäre und weitere Unregelmäßigkeiten.

Die Kreissparkasse stellte zur Erschließung der geplanten “kulturhistorischen Perle” des Kreises einen “Archivar” ein. Was aus seinen Erschließungsbemühungen geworden ist, erfährt man nicht. 2012 wurde er wieder entlassen.

In einem Prüfungsbericht der Regierung von Oberbayern wurde auch der Erwerb der Bücher als unzulässig beanstandet. Mit Blick auf die verbreitete, jüngst durch die Kunstwerk-Verkäufe in Nordrhein-Westfalen wieder ins Rampenlicht geratene Praxis, Kunstwerke durch von der öffentlichen Hand beherrschte Wirtschaftsunternehmen ankaufen zu lassen, um sie für die Allgemeinheit zu sichern, darf man ein dickes Fragezeichen hinter diese Bewertung setzen.

Obwohl Bromme gegen die “Barbarei” lautstark protestierte, entschloss sich die Bank 2014, den Verkauf der Bände dem Antiquariat Hauff & Auvermann zu übertragen, das im Mai 2014 die erste Tranche unter den Hammer brachte – ohne Provenienzangaben! 65 Bücher, die noch aus der Klosterbibliothek stammen, wurden für den Altertumsverein Tegernsee und dessen Museum erworben.

Skandalös darf man die Ausführungen des Bayerischen Landesamts für Denkmalpflege nennen, soweit sie im Merkur greifbar sind:

“Der ehemals im Psallierchor verwahrte Buchbestand lässt weder einen Bezug zum ehemaligen Kloster und jetzigen Schloss noch zur ehemaligen Kloster- und jetzigen Pfarrkirche erkennen”, heißt es in der Stellungnahme. “Weder die Sammlungsgeschichte noch ein Sammlungsschwerpunkt steht im Bezug zu den beiden Baudenkmälern.” Die Sammlung für sich genommen lasse keine Bedeutung nach dem Denkmalschutzgesetz erkennen und “erfüllt damit nicht die Voraussetzungen für ein bewegliches Denkmal”.

Wieso legt das Landesamt sein Gutachten nicht offen? Man verschanzt sich dort gern, wie ich aus eigener leidiger Recherche-Erfahrung weiß, gern hinter den Eigentümerinteressen.

Einmal mehr versagt in Bayern die amtliche Denkmalpflege beim Schutz beweglicher Kulturdenkmale. Aus dem Jahr 2007 stammt meine Zusammenstellung “Bayern schützt seine Kulturgüter nicht”. Inzwischen ist es nicht besser geworden.

Nur auf Facebook1, nicht aber in seinem Blogbeitrag hat Sepp die in der Tat berechtigte Frage gestellt, wieso man denn nicht die Bayerische Staatsbibliothek als staatliche Fachbehörde für das Bibliothekswesen befasst habe. Aufgrund meiner bisherigen Erfahrungen mit der Bibliothek vermute ich aber, dass nichts besseres herausgekommen wäre. Vor kurzem hatte ja Falk Eisermann die unsägliche Aussage der Staatsbibliothek, das derzeit geprüfte Konvolut aus der Schweinfurter Schäfer-Sammlung enthalte kein national wertvolles Kulturgut, in INETBIB öffentlich kritisiert.

Adelsbibliotheken, auch wenn sie erst aus dem 19. Jahrhundert stammen, sind Geschichtsquellen2 und erfüllen daher die Definition des Kulturdenkmals. Sie sind eine Sachgemeinschaft, an deren Erhaltung ein öffentliches Interesse besteht. Es ist für diese Definition erst einmal irrelevant, ob sie “Ausstattung” eines anderen Kulturdenkmals sind. Diese Bestimmung bezieht sich auf den Konsens der Denkmalschutzgesetze der Länder und nicht auf die bayerische Landesgesetzgebung, die für bewegliche Kulturgüter inakzeptable Hürden errichtet hat. Die verkommene Praxis, die Artikel 141 der Bayerischen Landesverfassung ins Gesicht schlägt (“die Denkmäler der Kunst, der Geschichte und der Natur sowie die Landschaft zu schützen und zu pflegen”), darf hier kein juristischer Leitstern sein. Sepp trägt umsichtig Kriterien für die Bewertung des offenbar aufschlussreichen Ensembles, das Rückschlüsse auf die geistigen Interessen der Herzöge in Bayern und ihres Umkreises erlaubt, zusammen:

Demnach wurde der der Aufbau der Bibliothek von Herzog Wilhelm in Bayern begonnen (gest. 1837) und durch Pius in Bayern (1786-1837), Max in Bayern (1808-1888) und Carl Theodor in Bayern (1839-1909) fortgeführt. Dazu kamen kleinere Bestände aus dem Besitz von Vorfahren, der jeweiligen Prinzen und Prinzessinnen. Letzter größerer Beitrag waren die Bücher der letzten Königin von Bayern, Marie Therese von Österreich-Este (1849-1919). Die Bücher der Herzöge Wilhelm und Pius befanden sich ursprünglich in Banz (bis 1933 Eigentum der Herzöge) und wurden erst im 20. Jahrhundert nach Tegernsee gebracht. Der größte Teil des Bestandes kam aus der Bibliothek von Herzog Max in Bayern.

Wieso die Reste des Buchbestands der letzten bayerischen Königin, also einer hinreichend bedeutenden Persönlichkeit, keine sozialgeschichtlichen, kulturgeschichtlichen, adelsgeschichtlichen, mentalitätsgeschichtlichen, geistesgeschichtlichen, gendergeschichtlichen usw. Fragestellungen zulassen sollten, die nur mit den erhaltenen Büchern zu klären wären, leuchtet nicht ein. Wie oft führt man beim Abbruch von Häusern auf Geheiß der Denkmalpflege eine Baudokumentation durch, bei Funden Rettungsgrabungen – und wieso nie vor Zerschlagung einer Adelsbibliothek? Wenigstens die provenienzgeschichtlich wichtigen Daten wären so gesichert. Dass die merkantil motivierten Katalogbeschreibungen der Händler keine wirkliche Rekonstruktion erlauben, durfte man schon oft feststellen. Diverse Materialien zur Bibliotthek, darunter eine systematische Fotodokumentation, sind anscheinend in Privatbesitz – also nicht öffentlich zugänglich.

Wir brauchen auf lange Sicht eine gut ausgestattete Provenienz-Stiftung, die sich nicht nur für NS-Raubgut und Vergleichbares interessiert, sondern auch historische Bestände wie den hier zur Rede stehenden virtuell rekonstruiert.

Im Strudel eines lokalen Skandals konnte sich der an sich löbliche Impetus, ein kulturgeschichtlich bedeutsames Ensemble zu retten und für Forschung und Öffentlichkeit zugänglich zu machen, nicht durchsetzen. Die Gesamtheit wurde zerschlagen. Aus früheren Beispielen mir sattsam bekannt: die dubiose Rolle des Handels, die Ignoranz der Denkmalpflege. Über 20 Jahre, seit der Versteigerung der Inkunabeln der Hofbibliothek Donaueschingen, recherchiere ich über die Verluste von Adelsbibliotheken. Es freut mich, dass mit Florian Sepp nun auch jemand anderes sich in fundierter Weise an dieser “Trauerarbeit” beteiligt hat.

  1. Obwohl in einer öffentlichen Gruppe diskutiert, lässt sich der Link https://www.facebook.com/groups/1426956144186780/permalink/1534016486814078/ nur für registrierte Nutzer aufrufen. Friedrich Ulf Röhrer-Ertl (ebenfalls BSB) äußerte sich dort befremdet über die Zerschlagung der Bibliothek. Eine kleine Diskussion auch in Archivalia vom 20. August 2014.
  2. Siehe etwa meine “Oberschwäbischen Adelsbibliotheken”: http://eprints.rclis.org/7542/ (ungekürzte Fassung) und die Literaturhinweise in meinem Beitrag: Fiktion und Geschichte: Die angebliche Chronik Wenzel Grubers, Greisenklage, Johann Hollands Turnierreime und eine Zweitüberlieferung von Jakob Püterichs Ehrenbrief in der Trenbach-Chronik (1590). In: Frühneuzeit-Blog der RWTH vom 10. Februar 2015.

Quelle: http://kulturgut.hypotheses.org/426

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Die Tegernseer Schlossbibliothek, keine Geschichtsquelle?

Florian Sepp hat im Weblog Geschichte Bayerns eine gründliche Dokumentation vorgelegt: ”Die Tegernseer Schlossbibliothek und ihr Ende” – zur Zerstreuung und Verscherbelung der vor allem im 19. Jahrhundert zusammengetragenen Bibliothek der Herzöge in Bayern, einer Wittelsbacher Nebenlinie, in dem in ihrem Eigentum stehenden Schloss Tegernsee (dem früheren Kloster). Der Beitrag ist ausgezeichnet belegt, wobei neben Online-Quellen vor allem Auskünfte des Kirchenhistorikers Dr. Roland Götz von Bedeutung waren.

Frühestens seit dem Ende des 19. Jahrhundert lagerte im Tegernseer Psallierchor ein wertvoller Buchbestand von etwa 11.000 Bänden, der nach einem Gutachten von Zisska & Schauer in München 2010 von der Kreissparkasse Miesbach unter dem skandalträchtigen Vorstandsvorsitzenden Georg Bromme für 150.000 Euro erworben wurde. Das gleiche Auktionshaus hatte zuvor wertvolle Bestände aus der Bibliothek versteigert (mit der üblichen Provenienz-Verschleierung) – und zwar ohne ein Wort dazu im Gutachten zu sagen. Die Bewertung eines Bestands, ohne dass die frühere Gesamtheit in den Blick genommen wird, halte ich für unredlich. Inwieweit auch eine juristische Relevanz durch die Befangenheit besteht, vermag ich nicht zu sagen. In jedem Fall ist es nicht ganz abwegig anzunehmen, dass die Sparkasse vom Kauf abgesehen oder einen niederen Betrag bezahlt hätte, wäre ihr bekannt gewesen, dass ein Gutteil vorab aus dem Ensemble herausgebrochen wurde. Unter dem Gutachten steht der Name von Herbert Schauer, inzwischen berüchtigt durch die Girolamini-Affäre und weitere Unregelmäßigkeiten.

Die Kreissparkasse stellte zur Erschließung der geplanten “kulturhistorischen Perle” des Kreises einen “Archivar” ein. Was aus seinen Erschließungsbemühungen geworden ist, erfährt man nicht. 2012 wurde er wieder entlassen.

In einem Prüfungsbericht der Regierung von Oberbayern wurde auch der Erwerb der Bücher als unzulässig beanstandet. Mit Blick auf die verbreitete, jüngst durch die Kunstwerk-Verkäufe in Nordrhein-Westfalen wieder ins Rampenlicht geratene Praxis, Kunstwerke durch von der öffentlichen Hand beherrschte Wirtschaftsunternehmen ankaufen zu lassen, um sie für die Allgemeinheit zu sichern, darf man ein dickes Fragezeichen hinter diese Bewertung setzen.

Obwohl Bromme gegen die “Barbarei” lautstark protestierte, entschloss sich die Bank 2014, den Verkauf der Bände dem Antiquariat Hauff & Auvermann zu übertragen, das im Mai 2014 die erste Tranche unter den Hammer brachte – ohne Provenienzangaben! 65 Bücher, die noch aus der Klosterbibliothek stammen, wurden für den Altertumsverein Tegernsee und dessen Museum erworben.

Skandalös darf man die Ausführungen des Bayerischen Landesamts für Denkmalpflege nennen, soweit sie im Merkur greifbar sind:

“Der ehemals im Psallierchor verwahrte Buchbestand lässt weder einen Bezug zum ehemaligen Kloster und jetzigen Schloss noch zur ehemaligen Kloster- und jetzigen Pfarrkirche erkennen”, heißt es in der Stellungnahme. “Weder die Sammlungsgeschichte noch ein Sammlungsschwerpunkt steht im Bezug zu den beiden Baudenkmälern.” Die Sammlung für sich genommen lasse keine Bedeutung nach dem Denkmalschutzgesetz erkennen und “erfüllt damit nicht die Voraussetzungen für ein bewegliches Denkmal”.

Wieso legt das Landesamt sein Gutachten nicht offen? Man verschanzt sich dort gern, wie ich aus eigener leidiger Recherche-Erfahrung weiß, gern hinter den Eigentümerinteressen.

Einmal mehr versagt in Bayern die amtliche Denkmalpflege beim Schutz beweglicher Kulturdenkmale. Aus dem Jahr 2007 stammt meine Zusammenstellung “Bayern schützt seine Kulturgüter nicht”. Inzwischen ist es nicht besser geworden.

Nur auf Facebook1, nicht aber in seinem Blogbeitrag hat Sepp die in der Tat berechtigte Frage gestellt, wieso man denn nicht die Bayerische Staatsbibliothek als staatliche Fachbehörde für das Bibliothekswesen befasst habe. Aufgrund meiner bisherigen Erfahrungen mit der Bibliothek vermute ich aber, dass nichts besseres herausgekommen wäre. Vor kurzem hatte ja Falk Eisermann die unsägliche Aussage der Staatsbibliothek, das derzeit geprüfte Konvolut aus der Schweinfurter Schäfer-Sammlung enthalte kein national wertvolles Kulturgut, in INETBIB öffentlich kritisiert.

Adelsbibliotheken, auch wenn sie erst aus dem 19. Jahrhundert stammen, sind Geschichtsquellen2 und erfüllen daher die Definition des Kulturdenkmals. Sie sind eine Sachgemeinschaft, an deren Erhaltung ein öffentliches Interesse besteht. Es ist für diese Definition erst einmal irrelevant, ob sie “Ausstattung” eines anderen Kulturdenkmals sind. Diese Bestimmung bezieht sich auf den Konsens der Denkmalschutzgesetze der Länder und nicht auf die bayerische Landesgesetzgebung, die für bewegliche Kulturgüter inakzeptable Hürden errichtet hat. Die verkommene Praxis, die Artikel 141 der Bayerischen Landesverfassung ins Gesicht schlägt (“die Denkmäler der Kunst, der Geschichte und der Natur sowie die Landschaft zu schützen und zu pflegen”), darf hier kein juristischer Leitstern sein. Sepp trägt umsichtig Kriterien für die Bewertung des offenbar aufschlussreichen Ensembles, das Rückschlüsse auf die geistigen Interessen der Herzöge in Bayern und ihres Umkreises erlaubt, zusammen:

Demnach wurde der der Aufbau der Bibliothek von Herzog Wilhelm in Bayern begonnen (gest. 1837) und durch Pius in Bayern (1786-1837), Max in Bayern (1808-1888) und Carl Theodor in Bayern (1839-1909) fortgeführt. Dazu kamen kleinere Bestände aus dem Besitz von Vorfahren, der jeweiligen Prinzen und Prinzessinnen. Letzter größerer Beitrag waren die Bücher der letzten Königin von Bayern, Marie Therese von Österreich-Este (1849-1919). Die Bücher der Herzöge Wilhelm und Pius befanden sich ursprünglich in Banz (bis 1933 Eigentum der Herzöge) und wurden erst im 20. Jahrhundert nach Tegernsee gebracht. Der größte Teil des Bestandes kam aus der Bibliothek von Herzog Max in Bayern.

Wieso die Reste des Buchbestands der letzten bayerischen Königin, also einer hinreichend bedeutenden Persönlichkeit, keine sozialgeschichtlichen, kulturgeschichtlichen, adelsgeschichtlichen, mentalitätsgeschichtlichen, geistesgeschichtlichen, gendergeschichtlichen usw. Fragestellungen zulassen sollten, die nur mit den erhaltenen Büchern zu klären wären, leuchtet nicht ein. Wie oft führt man beim Abbruch von Häusern auf Geheiß der Denkmalpflege eine Baudokumentation durch, bei Funden Rettungsgrabungen – und wieso nie vor Zerschlagung einer Adelsbibliothek? Wenigstens die provenienzgeschichtlich wichtigen Daten wären so gesichert. Dass die merkantil motivierten Katalogbeschreibungen der Händler keine wirkliche Rekonstruktion erlauben, durfte man schon oft feststellen. Diverse Materialien zur Bibliotthek, darunter eine systematische Fotodokumentation, sind anscheinend in Privatbesitz – also nicht öffentlich zugänglich.

Wir brauchen auf lange Sicht eine gut ausgestattete Provenienz-Stiftung, die sich nicht nur für NS-Raubgut und Vergleichbares interessiert, sondern auch historische Bestände wie den hier zur Rede stehenden virtuell rekonstruiert.

Im Strudel eines lokalen Skandals konnte sich der an sich löbliche Impetus, ein kulturgeschichtlich bedeutsames Ensemble zu retten und für Forschung und Öffentlichkeit zugänglich zu machen, nicht durchsetzen. Die Gesamtheit wurde zerschlagen. Aus früheren Beispielen mir sattsam bekannt: die dubiose Rolle des Handels, die Ignoranz der Denkmalpflege. Über 20 Jahre, seit der Versteigerung der Inkunabeln der Hofbibliothek Donaueschingen, recherchiere ich über die Verluste von Adelsbibliotheken. Es freut mich, dass mit Florian Sepp nun auch jemand anderes sich in fundierter Weise an dieser “Trauerarbeit” beteiligt hat.

  1. Obwohl in einer öffentlichen Gruppe diskutiert, lässt sich der Link https://www.facebook.com/groups/1426956144186780/permalink/1534016486814078/ nur für registrierte Nutzer aufrufen. Friedrich Ulf Röhrer-Ertl (ebenfalls BSB) äußerte sich dort befremdet über die Zerschlagung der Bibliothek. Eine kleine Diskussion auch in Archivalia vom 20. August 2014.
  2. Siehe etwa meine “Oberschwäbischen Adelsbibliotheken”: http://eprints.rclis.org/7542/ (ungekürzte Fassung) und die Literaturhinweise in meinem Beitrag: Fiktion und Geschichte: Die angebliche Chronik Wenzel Grubers, Greisenklage, Johann Hollands Turnierreime und eine Zweitüberlieferung von Jakob Püterichs Ehrenbrief in der Trenbach-Chronik (1590). In: Frühneuzeit-Blog der RWTH vom 10. Februar 2015.

Quelle: http://kulturgut.hypotheses.org/426

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Forderung nach europäischem Web-Index

Die Schaffung einer EU-Suchmaschine als Alternative zu Google ist wahrscheinlich weder realistisch noch wünschenswert; sehr wohl möglich ist aber ein öffentlich finanzierter Web-Index, den dann Start-Ups, Softwareschmieden, Medienkonzernen usw. als Grundlage ihrer eigenen Suchmaschinen verwenden. Von diesem Vorschlag habe ich erstmals bei der Society of the Query # 2 in Amsterdam November 2013 gehört, geäußert hat ihn damals Dirk Lewandowski. Nun hat es diese Forderung in Spiegel Online geschafft und wird auch in EU-Gremien zumindest mal diskutiert.

Quelle: http://adresscomptoir.twoday.net/stories/1022399772/

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