Hausnummern in München
Ganztagsschulen verändern den Alltag
Deutsche Kinder- und Jugendstiftung unterstützt die Umwandlung von Schulen. Ein Beitrag von Claudia Laak auf Deutschlandfunk vom 04.11.2011.
Quelle: http://lernen-aus-der-geschichte.de/Online-Lernen/content/9953
Ö1 zum C64
Die Werkstatt des Historikers öffnen: Soziale Medien und Wissenschaftsblogs
Aus dem Französischen übersetzt von Inger Brandt und Mareike König.
In welcher Weise verändern die digitalen Technologien die Arbeitsbedingungen des Historikers? Bereits seit mehreren Jahrzehnten gibt es darauf Antworten. Die Erstellung quantitativer Datenbanken, die Digitalisierung wichtiger Quellen, die kartografische Darstellung und die Analyse sozialer Netzwerke mit IT-Werkzeugen sind dabei die ältesten und wichtigsten Meilensteine. Die Retrodigitalisierung und Online-Veröffentlichung akademischer Literatur der Disziplin, seien es Zeitschriften oder Bücher, stellen eine weitere Etappe in dieser Richtung dar. Die digitale Technologie hat bis heute zugleich den Werkzeugkasten des Historikers – um den schönen Ausdruck aus dem gleichnamigen Blog La Boite à Outil des Historien aufzugreifen – und seine Publikationsmöglichkeiten grundlegend verändert.
Einige berühmte Beispiele aus der Vergangenheit haben Historiker gelehrt, dass nicht immer eindeutig bestimmt werden kann, ab wann es Zeit ist, die „Revolution zu beenden“. Revolutionäre Phänomene nähren sich mitunter selbst. Man kann daher von einer „permanenten Revolution“[1] sprechen, wie es der Soziologe Philippe Breton mit Blick auf das Internet tut. Es sind heute also die neuen Werkzeuge und vor allem die neuen Praktiken der vernetzten Kommunikation, die – nachdem sie seit einigen Jahren immer stärker von der breiten Öffentlichkeit genutzt wurden – seit kurzem auch in den Sozial- und Geisteswissenschaften auftauchen. Es handelt sich um die Werkzeuge des Web 2.0, die sich von der Vorgängergeneration durch ihre einfache Nutzung und durch ihren gleichzeitig unkonzentrierten, horizontalen und unmittelbaren Charakter der Kommunikationspraktiken unterscheiden: Plattformen für content sharing (Dokumente, Fotos, bibliografische Referenzen), Blogs und soziale Netzwerke stellen ein Ensemble an „sozialen Medien“ dar. Deren Anwendung durch Historiker wird zunehmend selbst Gegenstand der Debatte. Das zeigt auch das kürzlich vom Deutschen Historischen Institut Paris organisierte Kolloquium „Im Netz der sozialen Medien – Neue Publikations- und Kommunikationswege in den Geisteswissenschaften“[2]. Es war besonders interessant, im Verlauf des Kolloquiums Wissenschaftler unterschiedlicher Herkunft darüber reden zu hören, wie sie sich die neuen Werkzeuge aneignen, um ihre Kommunikationspraktiken von Grund auf zu erneuern. Man traf dort Historiker wie Peter Haber von der Universität Basel mit seinem Blog bei Hist.net, André Gunthert von der EHESS, der die Plattform Culture visuelle für wissenschaftliche Blogs in visueller Geschichte aufgebaut hat, oder auch Klaus Graf, der das berühmte Weblog Archivalia vorstellte und mit der provokanten These „ein Wissenschaftler ohne Blog ist ein schlechter Wissenschaftler“ für Aufsehen sorgte[3].
Eine Arbeit bei „geöffneter Werkstatt“
Trotz der Polemik kann es interessant sein nachzuvollziehen, welche Rolle ein Wissenschaftsblog bei der Arbeit eines Forschers spielen kann und ab welchem Moment des Forschungsprozesses er eingesetzt wird. Und da es sich offensichtlich um ein Kommunikationsmittel handelt, stellt sich die Frage nach der Einordnung von Blogs im Vergleich zu den traditionellen Publikationen wie Zeitschriften und Büchern, die mittlerweile auch im Internet vertrieben werden. Bei aufmerksamer Betrachtung wissenschaftlicher Blogs wie den gerade erwähnten oder denen auf der von Cléo betriebenen Plattform hypotheses.org gehosteten Blogs kristallisiert sich folgendes Hauptmerkmal heraus: Während die traditionellen Publikationen scharf die interne Kommunikation (Forschungsergebnisse adressiert an Kollegen) von der externen Kommunikation (an die breite Öffentlichkeit gerichtete populärwissenschaftliche Aufbereitung) trennen, neigen die Wissenschaftsblogs dazu, beide Bereiche an einem Veröffentlichungsort zusammenzuführen. In seinem Blog arbeitet der Historiker bei „geöffneter Werkstatt“; er enthüllt seine tagtägliche Arbeitsroutine, seine Lektüren, seine Erkenntnisse, seine Hypothesen, seine Zweifel. Schließlich legt er einen Aspekt seiner Forschung offen, noch „während diese im Entstehen“ ist, wie es bei den Soziologen aus der Schule von Bruno Latour heißt[4]. Das weckt sowohl das Interesse der unmittelbaren Kollegen, die möglichst schnell Zugang zu dieser Information erhalten und diese eventuell nach wissenschaftlichen Gepflogenheiten kritisieren möchten, als auch das Interesse einer breiteren Öffentlichkeit, die aus unterschiedlichen Gründen am jeweiligen Thema interessiert ist. Wie dem auch sei, eines unterscheidet das Blog deutlich von den kanonischen Publikationsformen, die sowohl in der Form als auch im Erscheinungsrhythmus festgelegt sind: und das ist die Freiheit, die der Autor im Hinblick auf Tonfall, Form, Länge, Thema und Publikationsrhythmus hat. Diese große Freiheit der Ausdrucksmöglichkeiten macht dem Wissenschaftler Spaß und motiviert ihn daher zum Schreiben. Gleichzeitig zieht sie eine hybride Leserschaft an, die mit dem Autor ein Gespräch beginnen kann. Das Ergebnis ist erstaunlich: Die wissenschaftlichen Blogs unterscheiden sich stark voneinander; die Forscher, ob allein oder gemeinsam in einem Forschungsteam, veröffentlichen hier alle Arten von Informationen in unterschiedlichen Rhythmen und in variierender Länge. Im Vergleich zu Zeitschriften und anderen konzeptionell stärker eingeschränkten Publikationsformen geben Blogs ein völlig uneinheitliches Bild ab. Sie zeigen das „Sammelsurium des Wissenschaftlers“, wie es Marin Dacos so treffend ausdrückt[5]. Und über genau diese Vielfalt begreift man das Wesen der Blogs erst richtig, indem die verschiedenen Arten von Informationen, die auf den Blogs verbreitet werden, genauer betrachtet.
Am häufigsten findet man dort kurze Anmerkungen zu den Neuigkeiten aus dem Fachgebiet des Autors: Ankündigungen über Kolloquien und Studientage, call for papers, Meldungen über Neuerscheinungen oder Ausstellungen. Oftmals begnügt sich der bloggende Wissenschaftler damit, die Texte der Aufrufe, die Programme der Kolloquien, den Klappentext des erschienenen Werks wiederzugeben, ohne einen besonderen Kommentar hinzuzufügen. Dies ist beispielsweise beim Blog Emma der Fall, das aus dem von Damien Boquet und Piroska Nagy geleiteten Forschungsprogramm zu Emotionen im Mittelalter hervorgegangen ist. Man kann vielleicht nach dem Nutzen eines solchen Blogs fragen, das anscheinend nur aus einer Ansammlung von hier und da erschienen Annoncen besteht. In Wirklichkeit handelt es sich um ein wertvolles Monitoring-Tool, da diese Blogs eine – manchmal in Kategorien geordnete – qualitative Auswahl an Neuigkeiten zu einem Fachgebiet bieten. Für die gleiche Aufgabe könnten auch andere Tools genutzt werden (wie Anzeige-Services oder Ressourcen-Aggregatoren), aber das Blog ist ein ebenso interessanter Informationsträger. Auf hypotheses.org haben einige Blogs diese Vorgehensweise systematisiert, in dem sie „den Radar eingeschaltet“ und „Monitoring-Blogs“ eingerichtet haben. So steht beispielsweise Nuevo Mundo Radar für das wissenschaftliche Monitoring des lateinamerikanischen Raums durch das Redaktionsteam der gleichnamigen Zeitschrift. Es sei angemerkt, dass die Praxis des minimalistischen sharing von Meldungen durch die zunehmende Anzahl von unterstützenden Tools verschiedenster Art eine wunderbare Dynamik besitzt. So ist auch das von Dan Cohen geleitete Center for History and New Media in Washington dabei, mit Pressforward[6] ein Tool basierend auf eben diesem Prinzip zu entwickeln.
Lektürenotizen
Einige Wissenschaftsblogger entscheiden sich, alle oder einen Teil ihrer Auswahl zu kommentieren. Dabei handelt es sich dann um richtige Postings in Form von Kurzberichten, wie man sie beispielsweise im kürzlich von Raphaëlle Bats gestarteten Blog Les Préfaces du Griffon zur Geschichte des Lyoner Verlagswesens im 16. Jahrhundert findet. Diese knappen Notizen, aufgeschrieben und sogleich im Eifer des Gefechts veröffentlicht, diese ersten Kommentare zu einer Veröffentlichung müssen deutlich unterschieden werden von Buchbesprechungen, die in Wirklichkeit eigene Artikel sind und in Zeitschriften veröffentlicht werden. Die verschiedenen Formen decken sich nicht, sondern ergänzen sich vielmehr: Der im Blog veröffentlichte Eintrag bietet den Vorteil der Schnelligkeit und der Freiheit im Tonfall (häufig ist man dort bissiger), während eine Buchbesprechung formal und inhaltlich überprüft wird, und somit oft umfassender und sachlicher ist. Es ist nicht ausgeschlossen, dass das Eine in gewisser Weise der Entwurf für das Andere wird. Beim Blogbeitrag handelt sich dann um eine Art vorbereitende Stufe, die zu einer peer-review-Veröffentlichung führt.
Andere Wissenschaftsblogs bieten ausgearbeitete Notizen, die zwar dem Texttyp entsprechend kurz sind, aber über einen bestimmten Forschungsaspekt Bericht erstatten. Hier wäre Rwanda zu erwähnen, ein vielversprechendes Blog, in dem der Doktorand Rémi Korman von seinen Recherchen in den Archiven Ruandas zur Geschichte des Genozids und dem Gedenken daran berichtet. Er erzählt in seinen Notizen relativ sachlich vom Zustand der Quellen, die er bearbeitet, und zwar in dem Moment, in dem er seine Forschungen durchführt. Es ist einer der Vorteile dieser Art von Online-Publikation, die auf einer sehr simplen Blogtechnik beruht, dass sie von überall her und selbst bei schwieriger Internetverbindung durchgeführt werden kann. Andere Forschergruppen, wie das Team, das sich im Blog Terriat mit „Warteräumen“ (territoires de l’attente) im Migrationsprozess in den amerikanischen und atlantischen Gesellschaften befasst, entscheiden sich eher für kurze Notizen, die historische Quellen wie Fotos und Interviewausschnitte kommentieren. Hier wird das Schriftstück weder durch einen umfassenden Anmerkungsapparat noch durch einen Zweifel an der Kohärenz oder der Konstruktion gestört. Es handelt sich um Notizen, die Tag für Tag in dieser Form im Blog landen und veröffentlicht werden. Im Gegensatz zur Zeitschrift, in der die Artikel lektoriert und von Fachkollegen überprüft werden, handelt es sich beim Blog ausschließlich um das Forschungsjournal des Wissenschaftlers – und um nichts weiter. Aber als solches stellt es eine unschätzbare Quelle für Informationen aus erster Hand dar. Das Blog kann auch kollektiv organisiert sein, was den Charakter von Aimos widerspiegelt. Dort hat sich eine Gruppe junger Wissenschaftler zusammengefunden, die untereinander, aber auch mit einer breiteren Öffentlichkeit, Ressourcen über die Kunst und Bilder der Arbeiter- und Sozialbewegung austauchen wollen.
Das Blog besitzt darüber hinaus gelegentlich auch einen historischen Wert an sich, was das Team vom Centre d’étude des mondes africains deutlich erkannt hat. Sie veröffentlichen in Les Cahiers de Terrain de Raymond Mauny online eine digitalisierte Version der Aufzeichnungen des bekannten Archäologen. Dabei erfolgt die Publikation der einzelnen Aufzeichnungen im gleichen Zeitabstand, in dem sie der Forscher damals notierte… nur 60 Jahre später. Abgesehen von der Neugier, die eine solche Aktion weckt, und dem Geschick, mit dem dieser Teil des wissenschaftlichen Erbes gewürdigt wird, kann man nur erstaunt sein über die historische Kontinuität einer wissenschaftlichen Tradition, die sich so von einem Informationsträger zum nächsten einstellt. Und jenseits der revolutionären Bejahung, die die Entwicklung digitaler Technologien oftmals begleiten: das Wissenschaftsblog oder das online Forschungsjournal ist nichts anderes als ein gemeinsames Ausgrabungsjournal, was gleichzeitig alles und nichts verändert. Im Übrigen wollte Christian Jacob genau das im zweiten Band seiner von ihm herausgegebenen meisterhaften historischen Untersuchung über die „Lieux de Savoirs“[7] erreichen, in dem er ein Kapitel über wissenschaftliche Blogs einforderte.
Eine schizophrene Kommunikation?
Über das Ausgrabungsjournal hinaus entscheiden sich einige Forscherteams, ihre Beiträge stärker zu edieren, indem sie Textstil und Präsentation der Information angleichen. Dies trifft beispielsweise auf das Blog de la Grotte des Fraux zu, das sich mit den Ausgrabungen in der gleichnamigen Höhle im Departement Dordogne befasst. Dieses reich bebilderte Blog berichtet äußerst gewissenhaft vom Fortschritt der Arbeiten in den Tiefen der Grotte. Ein interessanter Fall, da es zugleich eine fachlich sehr spezialisierte Leserschaft (die Texte sind oft sehr technisch) und ein breites Publikum von Liebhabern der Archäologie anspricht:
„Die spezifische Welt der Kunst und der Höhle, mit all den Bildern, Vorstellungswelten und dem Verbotenen, das damit verbunden ist, verkörpert die Schwierigkeiten, mit einem speziellen Forschungsgegenstand konfrontiert zu sein. Da sowohl die wissenschaftliche Gemeinschaft wie auch die Öffentlichkeit nur schwer Zugang zu diesen physischen und geistigen Orten finden, ist es unser Anliegen, den Forschern und der Öffentlichkeit diese Gedankenelemente zur Verfügung zu stellen.
Diese Haltung mag schizophren erscheinen! Wie soll die korrekte Durchführung eines Forschungsvorhabens – das ein Abwägen der Hypothesen, eine Prüfung der Protokolle und eine Bestätigung der Ergebnisse erfordert – mit der Veröffentlichung von vorläufigen Rohdaten, die Gefahr laufen widerlegt zu werden, zusammengeführt werden? Das ist die große Herausforderung in diesem Forschungsblog: möglichst schnelle Verbreitung der Daten auf einem wissenschaftlichen Portal, bei gleichzeitiger Wahrung der Freiheit, sich widersprechen und sein Urteil ändern zu können. Das ist die Idee, die uns an diesem Projekt so fasziniert hat.“
Schizophren gestaltet sich das Projekt Blog de la Grotte des Fraux allerdings keineswegs, ganz im Gegenteil. Denn es wird versucht, im selben editorischen Rahmen zugleich nicht belegte Arbeitshypothesen, bestätigte Ergebnisse und Erläuterungen für ein fachfremdes Publikum zu vereinen. Aus diesem Grund stellt das Blog eines der interessantesten und innovativsten Experimente auf dem Gebiet der wissenschaftlichen Kommunikation dar.
Von einem Blog mit Textentwürfen bis zum stärker ausgearbeiteten Grabungsjournal hat das online Forschungsjournal den Vorteil einer großen Flexibilität, die jedem Autor erlaubt, die Art und Weise der Nutzung seines Blogs selbst festzulegen. Die Distanz zum Blog ist nicht leicht aufzubauen und wird in tausend aufeinanderfolgenden Anpassungen vorgenommen, wie Benoît Kermoal in einem seiner letzten Beiträge seines Blog Enklask/ Enquête, bei dem es wie in seiner gleichnamigen Doktorarbeit um die Geschichte der sozialistischen Bewegung in der Bretagne geht, erkennen lässt.
„Trotz meiner Vorsicht scheinen einige Leser zu glauben, dass die Notizen in diesem Blog meine gesamte Forschungsarbeit ausmachen. Es handelt sich aber lediglich um Skizzen, um Teile eines Puzzles ohne Vorlage, um eine Ansammlung von Legosteinen, die schlecht zusammengefügt sind und noch kein Objekt bilden. Ich mache aber dennoch weiter, und zwar vor allem, um mich im Schreiben zu üben. Ich betreibe diese Form der Übung aber auch deshalb weiter, weil sie mir erlaubt, meine Forschung zu ordnen, zu klassifizieren, gedankliche Pfade zu kreuzen und zu verfolgen und nicht den lähmenden Eindruck zu bekommen, auf der Stelle zu treten.
Das kann dem Leser natürlich als Entwurf erscheinen, als zu skizzenhaft und zweifellos auch als ähnlich egozentrisch wie ein Forschungsjournal, das man für sich behält. Aber Enklask/ Enquête ist kein Notizheft mit Textentwürfen (davon habe ich bereits genug); es ist auch keine Aneinanderreihung von Beiträgen, die zusammen fertige und redigierte Artikel nach den Regeln der Geschichtskunst bilden. Es handelt sich um eine hybride Form, eine Erforschung mehrerer Wege, bevor der richtige gefunden ist. Man sollte sich nicht davor fürchten, wieder zurück zu gehen, sich einzugestehen, dass man sich verlaufen hat oder seine Fehler anzuerkennen. Das Wichtige ist jedoch, mit seinen Forschungen voranzukommen. Eine solche hybride Form impliziert zusätzlich eine Vielzahl von Änderungen im Ton, in der Sichtweise und im Ansatzpunkt.“[8]
Die Archive öffnen?
Der Bereich der Archive spielt eine zentrale Rolle in der Werkstatt des Historikers. Hier tut er sich schwer mit der Preisgabe von Informationen. Die Entdeckungen, die er dort machen kann, könnten ihm möglicherweise einen Wettbewerbsvorteil gegenüber seinen Kollegen verschaffen. Obwohl es für den Historiker oft schwierig ist, Informationen aus „seinen“ Archiven öffentlich zu machen, insbesondere solange seine Arbeit bisher noch nicht in einem oder mehreren Werken veröffentlicht wurde, haben einige Wissenschaftler dennoch beschlossen, bei „offenem Archiv“ zu arbeiten. Ein solcher Fall ist Isabelle Brancourt, die seit mehreren Jahren über das Parlament von Paris forscht. In ihrem Blog betreibt sie seit zwei Jahren vor allem „die Bereitstellung [ihres] persönlichen Forschungsjournals mit der Analyse der Sammlung des Gerichtsschreibers Jean-Gilbert Delisle, im Dienste des zivilen Urkundsbeamten des Pariser Parlaments in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts“[9]. Es sind nicht viele Beispiele von Wissenschaftlern bekannt, die ihre Rohdaten während des laufenden Forschungsprozesses zur Verfügung stellen. Die Vorgehensweise ist selten genug, scheint es, so dass sie hier besonders hervorgehoben werden soll, denn sie hinterfragt die gängigste Gewohnheit der Disziplin.
Es wäre schade, diesen Überblick der verschiedenen Nutzungsmöglichkeiten von wissenschaftlichen Blogs abzuschließen, ohne die methodologischen Blogs zu erwähnen, die in mehreren Disziplinen entstehen. Dazu gehören zum Beispiel in der Soziologie Quanti, aber auch in der Geschichtswissenschaft Devenir Historien-ne, oder auch interdisziplinär das Blog Les Aspects concrets de la Thèse, das nicht nur Historiker, sondern auch andere Disziplinen anspricht. Thinking with my fingers: Für die Mehrheit der Blogger wie auch für die Wissenschaftlerin Torill Mortensen, die diesen Titel für ihr Blog gewählt hat, handelt es sich beim wissenschaftlichen Blog zunächst um ein Werkzeug zur Selbstreflexion, da das Blog ihnen erlaubt, durch die Erklärung ihrer Forschung in ihrer Arbeit voran zu kommen. Jedoch sind Blogs nicht trivial: online gestellt, wird es veröffentlicht und weiter verbreitet. Das bringt eine Mehrdeutigkeit mit sich, die von Benoît Kermoal schön zusammengefasst wurde: „An wen richten sich die Beiträge? Das kommt darauf an, mal an mich selbst, mal an alle Leser, manchmal an Doktoranden oder an Liebhaber der lokalen Geschichte oder der Geschichte der Arbeiterbewegung. Aber es ist vor allem eine Arbeit, die mir erlaubt, meine Forschungen zu strukturieren.“[10] Diese Mehrdeutigkeit ist der Preis für die Freiheit und sie kann mit gutem Recht kritisiert werden. Und das wird sie im Übrigen auch oft. Sie macht aber auch den Reichtum eines wissenschaftlichen Blogs aus. Ein Blog kann Kreativität freisetzen, weil es den Schreibenden von jeglichem akademischen Formalismus befreit. Allerdings kann dieser Prozess nur funktionieren, wenn das Blog der öffentlichen Lektüre unterworfen wird, sei es mit Blick auf unterschiedliche oder unbestimmte Empfänger. Es stellt also für Doktoranden wie auch für erfahrene Wissenschaftler ein nicht zu leugnendes Risiko dar. Das ist die Sache jedoch wert.
Autorenversion eines Artikels für die Zeitschrift „Bulletin de la Societe d’histoire moderne et contemporaine“.
Originalversion Ouvrir l’atelier de l’historien: médias sociaux et carnets de recherche en ligne <http://www.homo-numericus.net/spip.php?article304>
[1] Philippe Breton, Le culte de l’internet: une menace pour le lien social?, Paris (Editions La Découverte) 2000.
[2] Pierre Mounier, Dans la toile des médias sociaux / Im Netz der sozialen Medien 27-28 Juin 2011, in: Digital Humanities à l’IHA, 24.5.2011, http://dhiha.hypotheses.org/25 .
[3] Mareike König, Tweets und Gedanken zur Tagung “Im Netz der sozialen Medien“, in: Digital Humanities à l’IHA, 11.7.2011, <http://dhiha.hypotheses.org/284>.
[4] Antoine Blanchard, Comment montrer la “science en train de se faire”?, in: La Science, La Cité, 31.5.2008, <http://www.enroweb.com/blogsciences/index.php?2008/05/31/261>.
[5] Marin Dacos, Pierre Mounier, Les Carnets de recherches en ligne. Espace d’une conversation scientifique décentrée, in: Lieux de savoir, Paris (Albin Michel), im Druck, S. ii.
[6] Roy Rosenzweig, Introducing PressForward, in: Center for History and New Media, 24.6.2011, <http://chnm.gmu.edu/news/introducing-pressforward/>.
[7] Christian Jacob (Hg.), Lieux de savoir?, t. 2, Les mains de l’intellect, Paris (Editions Albin Michel) 2011.
[8] Benoît Kermoal, Seulement la partie visible de l’iceberg, Enklask / Enquete, 6.9.2011, <http://enklask.hypotheses.org/257>.
[9] Isabelle Brancourt, Mon „carnet“ Delisle?: Son Journal pour l’année 1730 (I), in: Parlement de Paris (XVIe-XVIIIe siècle), 9.2.2010, <http://parlementdeparis.hypotheses.org/218>.
[10] Benoît Kermoal, Seulement la partie visible de l’iceberg, Enklask / Enquete, 6.9.2011, <http://enklask.hypotheses.org/257>.
Quelle: http://dhdhi.hypotheses.org/591
Kritik einer Kapitalismuskritik
Am vergangenen Mittwoch (2.11.11) trug Jürgen Kocka in Göttingen (SOFI) seine sozialhistorische Perspektive auf die Finanz- und Wirtschaftskrise des Jahres 2008 fortfolgende vor. Ich habe diesen Vortrag besucht in der Hoffnung, von einem Veteran historischer Sozialforschung eine Analyse der derzeitigen Kapitalismuskrise zu hören, die dem Pragmatismus oder soll man sagen der Banalität der öffentlichen Analysen eine Tiefendimension verleiht. Diese Hoffnung hat sich nur zu einem Teil erfüllt. Allerdings haben mich Kockas Reflexionen in Kombination mit seinem Hinweis auf die neuen Perspektiven der Globalgeschichte auf einige Ideen gebracht, die man m.E. bei einer historischen Kapitalismusanalyse berücksichtigen müsste. Diese möchte im Folgenden kurz zur Diskussion stellen, im Bewußtsein als wirtschaftsgeschichtlicher Laie damit ein gewisses Risiko einzugehen: die meisten haben damit zu tun, nicht von Kapitalismus, sondern von Kapitalismen oder einer Pluralität marktwirtschaftlicher Systeme zu sprechen. Doch zuerst zu Jürgen Kocka:
Jürgen Kockas Vortrag
Kocka interpretierte unter Rückgriff auf die Herausbildung des westlichen Industriekapitalismus seit dem 19. Jahrhundert sowie die Krisen von 1873 („Gründerkrach“) und 1929 die Krise von 2008 einerseits als systemisch bedingtes mithin für den in Wirtschaftszyklen verlaufenden Kapitalismus typisches Phänomen, das durch eine Reihe von rezenten Entwicklungen verschärft werde: durch den Übergang zum postindustriellen Kapitalismus, den in immer kürzeren Rhythmen agierenden Aktienmärkten und durch die mit Finanzprodukten zweiter und dritter Ordnung handelnden Finanzmarktmanager, die für ihre Aktionen nicht zur Verantwortung zu ziehen seien. Der von Kocka als „Wirtschaftssystem“ definierte Kapitalismus brauche aufgrund seiner Krisenanfälligkeit die Kritik als Systembedingung – dies lasse sich an den vergangenen Großkrisen beobachten. Nach 1929 hätten sich in den USA mit dem New Deal ein Regulativ für Finanzmärkte, Instrumente staatlicher Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik sowie mit dem Keynesianismus eine neue wirtschaftpolitische Theorie etabliert. In den letzten Jahren vor der Krise allerdings habe sich die Kritik auffällig zurückgehalten. Soweit so bekannt und auch etwas enttäuschend.
Verweis auf ein globalgeschichtliches Paradigma
Allerdings betonte Kocka in der Einleitung, dass die Geschichtswissenschaft womöglich vor einem neuen Paradigmenwechsel stünde – im Blick hatte er dabei die Globalgeschichte. Sie könne eine neue Perspektive auf das Problemfeld des Sozialen eröffnen. Wer nun aber in Kockas Kapitalismuskritik die ersten Auswirkungen dieser neuen Perspektive suchte, tat dies vergeblich. Sie verlief feinsäuberlich in den Bahnen der Bielefelder (man möchte, um den Raum zu umreißen, dem Kocka verhaftet blieb, beinahe sagen bundesrepublikanischen) Sozialgeschichte: Ein langer europäischer Sonderweg, beginnend mit den oberitalienischen Bankiers des 13. Jahrhunderts, richtig einsetzend am Ende des 18. Jahrhunderts mit der Industrialisierung in England und endend im Modernisierungsexport von Europa bzw. den USA aus in die Welt in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und dem Ende der Systemalternative Sozialismus 1990. Der Vortrag schloss einerseits in dem Appell zu bedenken, dass sich der Sozialismus eben nicht als Alternative erwiesen habe, und forderte andererseits einen eingebetteten Kapitalismus mit verantwortlichen Unternehmerpersönlichkeiten, kritischer Zivilgesellschaft und regulierender Politik. Das klang haarscharf nach dem Rheinischen Kapitalismus der Bonner Republik, nach „sozialer“ Marktwirtschaft, und so gar nicht nach einem globalgeschichtlichen Paradigmenwechsel.
Kapitalismenkritik “jenseits des Eurozentrismus”
Dieser Kontrast allerdings wirft eindringlich die Gegenfrage auf, wie eine kritische Geschichte des Kapitalismus in globalgeschichtlicher Perspektive zu denken wäre. Globalgeschichte wäre hier dann nicht nur als räumliche Ausweitung des nordatlantischen Wirtschafts-, Gesellschafts- und Politikmodells zu verstehen, sondern als Geschichtsschreibung „jenseits des Eurozentrismus“ (Conrad/Randeria), die offen ist für den Perspektivenwechsel, bis hin zu der Idee, Europa tatsächlich „als Provinz“ (D. Chakrabarty) zu betrachten. Hier ein paar Überlegungen mehr oder weniger von Jürgen Kocka inspiriert:
1. Zunächst wäre nicht vom Kapitalismus zu sprechen, sondern von Kapitalismen, von ganz unterschiedlichen Formen in unterschiedliche geografische, kulturelle und historische Kontexte eingebetteten Marktwirtschaften. Dementsprechend wären analytische Definitionen zu finden, die nicht sofort auf das europäische Modell hinauslaufen – also eine ganz spezifische Art der Organisation von Klassenbildung, Angebot und Nachfrage auf Märkten oder Produktionsweisen voraussetzen -, um überhaupt von „Kapitalismus“ sprechen zu können. Diese Definitionen könnten sich dementsprechend nicht einfach auf bekannte Gewährsmänner der europäischen Wissenschaftsgeschichte berufen – Marx, Weber, Vertreter der neoklassischen Wirtschaftstheorie o. ä. – ohne zu überprüfen, ob durch die genuin nordatlantische Erfahrung dieser Denker bestimmte Formen der Marktwirtschaft apriori ausgeschlossen werden. Die Analogie zur Diskussion um den Begriff der „vielfältigen Moderne(n)“ (S. Eisenstadt) liegt natürlich auf der Hand.
2. Diese Art, Pluralität von sozio-ökonomischen Reproduktionssystemen zu denken, wird allerdings erst wirklich möglich, wenn sich die historische Sozialgeschichte aus dem Rahmen der cold war science heraus begibt. Solange, wie bei Kockas Vortrag, die Angst vor der Systemalternative – 20 Jahre, nachdem der realexistierende Sozialismus in den meisten Ländern der Erde zu Ende ging – noch immer weit in die Episteme der historischen Sozialwissenschaft hineinreicht, fällt es schwer vielfältige Kapitalismen zu denken. Kapitalismus wird dann nur als Differenzbegriff zu Sozialismus gedacht und definiert – dies gilt natürlich umgekehrt genauso für diejenigen die Sozialismus denken wollen. Sollte es wirklich so etwas wie Lernen aus der Krise geben, wird dieser Vorgang durch die binären, aus dem Kalten Krieg stammenden Denkweisen abgewürgt.
3. Eine Lösung der Frage, wie eine adäquate, globalgeschichtliche Analyse von sozioökonomischen Krisen geschehen könne, kann ich hier nicht bieten, nur einen ersten Schritt aufzeigen: taking stock – Bestandsaufnahme. Welche Formen und Gestalten von marktwirtschaftlichen Systemen gibt es jenseits der nordatlantischen Welt? Wie werden diese von den Forschern in den jeweiligen Regionen untersucht, definiert, der Kritik unterzogen? Wie sind diese ganz unterschiedlichen Formen untereinander verflochten – oder nicht? Letzteres nur angesichts der Beobachtung, dass keineswegs alle Marktwirtschaften der Welt von der Finanz- und Wirtschaftskrise gleichermaßen betroffen waren, also die Verflechtungen zu den amerikanischen und europäischen Finanzplätzen und ihrem hochriskanten Handelspraxen weniger stark waren? Dies gilt keineswegs nur für Rohstoffökonomien wie Saudi Arabien, sondern auch für Länder wie Argentinien (nach dem Staatsbankrott), Brasilien, Indien oder Südafrika. Aus welchen historischen Kontexten sind diese Unterschiede erwachsen? Welche politisch-ökonomischen, welche geschichtswissenschaftlichen Erklärungsmuster werden von den Forschern jenseits des anglo-deutschen Mainstream angeboten? Als wirtschafts- und regionalhistorischer Laie fällt es mir natürlich schwer die jeweilige Spezialforschung zu überblicken und einem Urteil zu unterziehen. Aus meiner umweltgeschichtlichen Warte heraus allerdings lässt sich sagen, dass beispielsweise die indische geschichtswissenschaftliche Forschung zur Ressourcenausbeutung und ihren sozialen und ökologischen Folgen weltweit impulsgebend wirkt. Auch die politische Ökologie von Juan Martinez Alier (z.B. El Ecologismo de los pobres: conflictos ambientales y lenguajes de valoración, Neuauflage Barcelona 2011, zuerst: engl. 2002 ), der selbst mit historischen Perspektiven arbeitet und von spanischen und lateinamerikanischen Historiker adaptiert wird, ist weiteres Beispiel.
Es hat verschiedene Ursachen, dass diese Regionen und ihre Fragen sowie Kritiken so wenig in den Blick der sozialhistorischen Forschung kommen – die binäre Struktur des Kalten Kriegs, die noch immer wirkt, ist eine. Eine generelle Fixierung der deutschen Öffentlichkeit auf die eigene – deutsche, nordatlantische – Welt ist eine andere Ursache. Beides ist zu überwinden. Wahrscheinlich gibt es jenseits der Grenzen viel zu entdecken.
Einsortiert unter:Geschichte, Globalgeschichte, Historiker, Methodik, Sozialgeschichte, Veranstaltung
Quelle: http://kritischegeschichte.wordpress.com/2011/11/04/kritik-einer-kapitalismuskritik/
R.I.P. – heute: Google SideWiki
Mainzer Stadtbibliothek soll zerschlagen werden
Die Mainzer Stadtbibliothek ist eine der reichsten Altbestandsbibliotheken in kommunaler Trägerschaft mit großartigen Beständen zur Frühen Neuzeit. Pläne, ihre Bestände aufzuteilen, sorgen derzeit für Aufregung. Die Mainzer Bibliotheksgesellschaft hat eine Petition aufgesetzt: “Die Mainzer Wissenschaftliche Stadtbibliothek ist in akuter Gefahr! Bitte helfen Sie mit, dass die historisch gewachsene Sammlung von 670.000 Büchern nicht zerteilt wird, sondern als Ganzes in städtischer Trägerschaft erhalten bleibt. Bibliotheken sind nicht nur Büchersammlungen, sie sind Schatzhäuser des Geistes, Zeugen der Kultur einer Stadt und Region. Dies gilt seit 200 Jahren auch für die Mainzer Stadtbibliothek, die Nachfolgeeinrichtung der Bibliotheca Universitatis Moguntinae. Ihre historischen und regionalen Sammlungen bergen einzigartige Schätze vom 9. Jahrhundert bis heute. Seit 200 Jahren haben Privatpersonen und Institutionen, Vereine und Schulen, ihre Büchersammlungen der städtischen Bibliothek gestiftet oder testamentarisch hinterlassen. Sie haben sich mit der Bürgerbibliothek identifiziert. Auch heute engagieren sich Buchpaten aus allen Kreisen der Bevölkerung bei der Restaurierung von historischen Druckwerken der Stadtbibliothek, weil ihnen die Erhaltung des Kulturguts in dieser Stadt und für diese Stadt ein Anliegen ist. Will man den Zusammenhalt dieser gewachsenen Bürgerbibliothek, die den zweiten Weltkrieg im Wesentlichen überdauert hat, nun zerschlagen, so zerstört man die Bedeutung des Ganzen und nimmt den Bürgern einen Brennpunkt kultureller Identifikation. Nur wenn man das Ganze in den Blick nimmt, erhält man den Wert und die Gebrauchsfähigkeit der Mainzer Stadtbibliothek. Die Bibliothek muss auch in Zukunft eine lebendige Regionale Forschungsbibliothek sein”. Unterzeichnen kann man hier.