von Gunnar B. Zimmermann -
Nicht erst in der jüngsten Vergangenheit haben Fragen der Organisation schulischer Bildung und Ausbildung im Hamburger Stadtstaat das Potential zu politischen wie gesellschaftlichen Kontroversen gehabt. Wie der folgende Blick in der Vergangenheit zeigt, gehört das diesbezügliche Ringen vielmehr zum Traditionsbestand der Hansestadt.
Antwort auf Industrialisierung und Urbanisierung – Das Gewerbeschulwesen
Als die Patriotische Gesellschaft sich in den 1860er Jahren erfolgreich für die Schaffung eines staatlichen Gewerbeschulwesens in Hamburg einsetzte, lag die Notwendigkeit dieses Zieles klar auf der Hand: Im Zuge der Industrialisierung und des stetigen Anwachsens der Stadt waren zahlreiche neue Branchen und Berufe entstanden, die jenseits der akademischen (Funktions-)Eliten auf gut ausgebildete Menschen angewiesen waren. In der neugeschaffenen Schulform verbanden sich emanzipatorische Aufstiegs- und Bildungschancen für bislang unterprivilegierte Teile der Gesellschaft mit hinreichend ökonomisch orientierter Substanz für die bislang führenden Kreise der Stadt. So basierte die Entstehung des Gewerbeschulwesens auf einem soliden gesellschaftlichen Konsens.
Weimar als Eldorado der schulreformerischen Modellversuche
Die pluralistische Offenheit der Weimarer Jahre führte in Hamburg zu einer ganzen Reihe von schulreformerischen Modellversuchen, von denen die ehemalige Lichtwarkschule sicherlich das heute den meisten Hamburgern noch geläufige Beispiel ist (das Ehepaar Schmidt durchlief hier seine schulische Ausbildung). Ein neuer inhaltlicher Zuschnitt des Lehrplans, eine veränderte Ausrichtung der pädagogischen Rolle des Lehrers im Verhältnis zu den Schülern und auch die Einführung von musisch orientierten Fächern sollte den als autoritär empfundenen pädagogischen Mief der wilhelminischen Jahre vertreiben. Ziel war es, die Schüler in einem emanzipatorischen Klima zu gleichwertigen Mitgliedern einer demokratisch verfassten Gesellschaft zu erziehen. Dieser aufklärerische Impetus lag auch den 1919 erfolgten Gründungen von Universität und Volkshochschule zugrunde, die im Rahmen der Erwachsenenbildung die Partizipation breiterer Bevölkerungskreise an Bildung und Wissenschaft ermöglichen sollten (hierzu und zum Folgenden vgl. Milberg: Schulpolitik 1970).
Insgesamt blieb der reformerische Flügel in der hamburgischen Lehrerschaft aber in der Minderheit. Die Lehranstalten klassischen Zuschnitts bildeten nach wie vor das Gros der Bildungseinrichtungen der Stadt. Ein Blick in die Hamburger Lehrerzeitung (dem ab 1922 erscheinenden Organ der hamburgischen Lehrerschaft) zeigt, mit welcher kontroversen Dynamik über die Entwicklung der Modellschulen, und damit indirekt stets auch über den Bestand der klassischen Organisation von Schule überhaupt, diskutiert wurde.
Vor allem die akademisch gebildeten, konservativ ausgerichteten Oberlehrer (so hießen bis Ende der Weimarer Republik die Lehrkräfte an den höheren Schulen) konnten sich mit Teilen der Reformanstrengungen nicht anfreunden. Sie bemühten sich im Rahmen ihrer Möglichkeiten um den Erhalt traditioneller Bildungspatente, was in der Auseinandersetzung um den Bestand des humanistischen Gymnasiums mit seiner altsprachlichen Ausrichtung (Griechisch und Latein) einen auch für die Öffentlichkeit wahrnehmbaren Ausdruck fand. Doch für einen offenen Widerstand waren den Oberlehrern die Hände gebunden. Die Neuausrichtung von Schule und Bildung war politisch gewollt und wurde durch die sozialdemokratisch dominierten Senate der Weimarer Jahre und deren Schulsenatoren gestützt. Breite Unterstützung bekamen die Reformgegner hingegen aus Kreisen der städtischen Bildungs- und Funktionselite, die sich um den Verlust des privilegierten Zugangs zu höherer Bildung für den eigenen Nachwuchs und somit auch um den Zugang zu Spitzenpositionen im Machtgefüge des Stadtstaates sorgte.
Hamburger Schule im NS-Staat
Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten war es in Hamburg ab 1933 erst einmal mit der offenen Diskussion über die (Aus-)Bildungsorganisation vorbei. Zwar führten die Apologeten des NS-Systems ständig das Wohl der „Volksgemeinschaft“ als Motiv ihres Handelns an, doch hatte ihre Politik auch im Bildungsbereich wenig umwälzenden und keinerlei emanzipatorischen Charakter.
Die demokratische Verfasstheit der Schulleitung (ab 1919 hatten die Lehrerkollegien ihre Schulleiter wählen dürfen) und die Elternmitbestimmung sowie die Reformschulprojekte wurden zugunsten einer straffen, am Führerprinzip orientierten Schulorganisation kassiert (Schmidt: Schulen 2010, S. 31 f.). Die Gleichschaltung aller Lehrer im Nationalsozialistischen Lehrerbund sorgte schnell dafür, dass für abweichende Vorstellungen kein öffentlicher Raum mehr vorhanden war (Schmidt: Schulen 2010, S. 153 ff.). Entscheidungen zur Form der Bildungsorganisation oblagen nun nur noch der mit Nationalsozialisten besetzten Schulbehörde .
Doch wie in vielen anderen politischen Ressorts waren die Nationalsozialisten auch im Bereich der Bildung mit keinem ausgereiften Plan angetreten. Seit ihrer Entstehung hatten sie sich stets in Abgrenzung zu anderen definiert (gegen Demokratie, gegen Pluralismus, gegen den Versailler Vertrag usw.) und hatten darüber die Entwicklung konkreter Pläne vernachlässigt. Auch wenn unter den Nationalsozialisten die Rolle der Volksschulen gestärkt wurde, bedeutete das Jahr 1933 in der äußeren Form der Schulorganisation letztlich eine Rückkehr zum Status quo der wilhelminischen Zeit. Vorhandene Pläne zur Umgestaltung des Bildungs- und Schulsystems wurden in ihrer Entwicklung und Umsetzung durch den Beginn des Zweiten Weltkriegs abgewürgt. Ein trügerischer Pluralismus und hoher Aktivismus herrschte in den Friedensjahren der NS-Herrschaft lediglich in der Frage, wie die nationalsozialistische Weltanschauung in die Lehrpläne zu integrieren sei, wobei aber kein Zweifel daran gelassen wurde, dass die Schulen am Ende lauter stramme Nationalsozialisten hervorbringen sollten.
Nimmt man den starken, durch erlassene Zugangsbeschränkungen erzwungenen Rückgang der Studierendenzahlen an Universitäten und Hochschulen hinzu, wird der bildungsfeindliche Charakter des NS-Systems deutlich. Die Jahre zwischen 1933 und 1945 zementierten letztlich also den seit jeher bestehenden engen Zusammenhang von sozialer Herkunft auf der einen sowie Bildungserfolg und Karrierechancen auf der anderen Seite für weitere zwölf Jahre.
Wider den Untertanengeist – Bildungsreform in der Nachkriegszeit
Mit dem Zusammenbruch des NS-Regimes im Frühjahr 1945 setzte sowohl bei den Alliierten als auch bei den neuen politischen Kräften auf deutscher Seite eine intensive Auseinandersetzung mit der Frage ein, wie es zur „deutschen Katastrophe“ hatte kommen können.
Als Faktoren, die Aufstieg und Akzeptanz des Nationalsozialismus begünstigt haben, machte man damals das weitgehende Versagen der Funktionseliten in Staat und Gesellschaft sowie die zu große Undurchlässigkeit zwischen den einzelnen gesellschaftlichen Schichten aus. Die Anfälligkeit der deutschen Gesellschaft für die Versprechungen Hitlers und seiner Gefolgsleute sah man unter anderem im ausgeprägten Untertanenbewusstsein und einer unterentwickelten demokratisch-emanzipatorischen Grundausrichtung begründet.
Da neben dem Elternhaus die Schule der zentrale Ort zur Vorbereitung junger Menschen auf das Leben ist, versuchten die von der SPD dominierten Senate der frühen Bundesrepublik genau hier auch reformerisch anzusetzen, um stabile Grundlagen für eine pluralistische Demokratie zu schaffen. Vor diesem Hintergrund war es folgerichtig, dass 1945 mit Heinrich Landahl (1895-1971) ein bekennender linksliberaler Demokrat der Weimarer Jahre als Schulsenator eingesetzt wurde.
In den ersten Nachkriegsjahren ging es zwar noch fast ausschließlich um rein materielle Dinge, wie zum Beispiel den Wiederaufbau der zerstörten Schulgebäude, die Anstellung einer ausreichenden Anzahl an Lehrkräften und die Beschaffung geeigneter Lehrmittel (Schmidt: Schule 2010, S. 685 ff.). Doch Landahl bemühte sich auch zeitnah darum, die aus dem Nationalsozialismus gezogenen Lehren in eine Reform der generellen Schulorganisation in Hamburg einmünden zu lassen. Dass Landahl für diese Aufgabe die geeignete Kraft war, stand außer Zweifel. In den Weimarer Jahren hatte er nicht nur als Bürgerschaftsabgeordneter demokratisches Engagement bewiesen, Landahl war auch von 1927-33 als Schulleiter für die eingangs erwähnte Lichtwarkschule verantwortlich gewesen. Somit kannte er sich auch in praktischer Hinsicht mit den Möglichkeiten und Grenzen einer alternativen Schulorganisation bestens aus (Schmidt: Schule 2010, S. 698 ff.).
Ergebnis der politischen und pädagogischen Überlegungen war das Schulgesetz vom 25. Oktober 1949, das einen tiefen Einschnitt in die traditionelle Schulorganisation der Hansestadt darstellte. Eine für Alle verpflichtende sechsjährige Allgemeine Volksschule sollte der Auftakt der Bildungskarriere der Schüler werden. Daran schloss sich je nach Bildungserfolg und Berufsziel ein dreigliedriges System weiterführender Schulen an: Eine auf drei Jahre angelegte Praktische Oberschule sollte die ehemaligen Volksschulen ersetzen. Die Realschulen wurden von einer vierjährigen Technischen Oberschule abgelöst und eine dem Gymnasialabschluss äquivalente Qualifikation sollte nun in sieben Jahren auf der Wissenschaftlichen Oberschule erworben werden. An der Zeitspanne, die zum Erreichen der jeweiligen Bildungspatente nötig war, änderte sich im Vergleich zu früher nichts. Neu war in der äußeren Form nur das um zwei Jahre verlängerte gemeinsame Lernen aller Schüler.
Die Initiatoren versprachen sich von der Reform die Auflösung der beklagten wilhelminischen Untertanenmentalität, eine Liberalisierung und Demokratisierung der Bildungs- und Karrierechancen für alle Menschen sowie daraus resultierend auch einen verbesserten Zugang zu den Machtstrukturen des Landes. Das längere gemeinsame Lernen hielt man pädagogisch für den zentralen Schlüssel, um diese Ziele zu erreichen (vgl. Böhling: Schulsystem 2004, S. 6 ff.).
Rolle rückwärts – Bildungsstreit im Bürgerschaftswahlkampf 1953
Doch wie schon in den Weimarer Jahren formierte sich von Seiten der traditionellen konservativen Funktionseliten der Stadt und ihrer politischen Vertreter von Beginn an Widerstand gegen diese Neustrukturierung der (Aus-)Bildungsorganisation. In der offiziellen Beschneidung des Gymnasiums sah man den Untergang der traditionellen humanistischen Bildung gekommen und das längere gemeinsame Lernen stellten Kommentatoren unter Kommunismusverdacht (vgl. Böhling: Schulsystem 2004, S. 62 ff.).
Schon bald nach Gründung der Bundesrepublik sorgte somit die in Hamburg stets aktuelle Frage, wer wann und unter welchen Bedingungen einen Zugang zur schulischen Bildung bekommen soll, für neue Frontlinien in der Gesellschaft und zu langwierigen Kontroversen zwischen Befürwortern und Gegnern der Schulreform.
Die Diskussion ebbte auch in den folgenden Jahren nicht ab und begleitete die Hamburger als eines der zentralen Themen in den Wahlkampf der für den Herbst 1953 anstehenden Neubesetzung von Senat und Bürgerschaft. Die konservativen Parteien versprachen bei einem Wahlsieg die Rücknahme der Schulreform und die Rolle rückwärts zum Schulsystem alter Ausprägung. Erneut wurde der Untergang des Abendlandes und der heimliche Sieg des Kommunismus beschworen, für den Wahlkampf öffentlichkeitswirksam zugespitzt und mit einer breiten Pressekampagne begleitet. Diese Zuspitzung verlieh dem durchaus zutreffenden Argument, dass nun die letzte Gelegenheit gegeben sei, ohne große negative Folgen für die Schüler das Bildungsexperiment abzubrechen, die notwendige Stoßkraft.
Der Streit um die Ausrichtung der Schulorganisation in Hamburg trug wesentlich zum Wahlsieg des konservativen Wahlbündnisses mit dem Namen Hamburger-Block aus CDU, FDP, DP (Deutsche Partei) und BHE (Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten) bei. Der neue Senat unter Bürgermeister Kurt Sieveking löste sein Wahlkampfversprechen ein und nahm die Schulreform von 1949 zurück (John: Wahlkampf 1997, S. 205).
PISA zum neuen Jahrtausend in Deutschland angekommen
Seit jenem bewegten Herbst des Jahres 1953 gab es in Hamburg in Fragen der äußeren Schulorganisation scheinbar nur wenig Bewegung. Und so weckte erst die im Jahr 2000 von der OECD erstmals publizierte PISA-Studie die Bildungspolitiker und die Öffentlichkeit aus ihrem Dornröschenschlaf. Die Studie stellte dem deutschen Bildungssystem eine schlechte Note beim Wissensstand der Schüler in bestimmten Lehrfächern aus. Viel gravierender war jedoch die Feststellung, dass es in keiner anderen wohlhabenden Industrienation westlicher Prägung einen derart engen Zusammenhang zwischen Bildungserfolg und -chancen der Schüler und der sozialen Herkunft ihrer Eltern gibt.
Dieser Befund hat in der letzten Dekade zu einer nachhaltigen Diskussion über die Organisation von Bildung in Deutschland geführt und auch in Teilen neue Modelle hervorgebracht, ohne dass die PISA-Nachfolgestudien in der Frage der sozialen Bedingtheit von Lebenschancen eine wesentliche Verbesserung festgestellt haben. Fest steht, dass diese Fragen bis in die jüngste Vergangenheit ihre gesellschaftspolitische Brisanz nicht verloren haben. Schließlich verfolgte die 2010 per Volksentscheid gestoppte schwarz-grüne Schulreform ganz ähnliche Ziele (längeres gemeinsames Lernen, höhere Durchlässigkeit zwischen den Schulformen) wie sie die Reformer 1949 abgestrebt hatten. Und wie damals scheiterte die Reform an einer gebildeten Mittelschicht, die aus subtiler Angst um die Aufstiegschancen ihres Nachwuchses nicht bereit war, die sozialen Schranken bei der Verteilung von Zukunftschancen abzubauen. So scheint Bildungsgerechtigkeit in der Zukunft nur erreichbar, wenn die Pfade der in Hamburg nun schon seit beinahe neunzig Jahren andauernden Diskussion um die Organisation von Bildung verlassen werden und eine von ideologischen Scheuklappen befreite Auseinandersetzung mit dem Themenkreis Raum greift.
Literatur
- Böhling, Björn: Die Auseinandersetzung um das Hamburger Schulsystem 1949-1954, Norderstedt 2004.
- John, Thomas: Wahlkampf und Bürgerschaftswahlen 1953 in Hamburg, in: Zeitschrift des Vereins für Hamburgische Geschichte 83/2 (1997), Seite 205-236.
- Milberg, Hildegard: Schulpolitik in der pluralistischen Gesellschaft. Die politischen und sozialen Aspekte der Schulreform in Hamburg 1890-1935 (Veröffentlichungen der Forschungsstelle für die Geschichte des Nationalsozialismus in Hamburg 7), Hamburg 1970.
- Schmidt, Uwe: Hamburger Schulen im „Dritten Reich“ (Beiträge zur Geschichte Hamburgs 64), Band 1, hrsg. v. Rainer Hering, Hamburg 2010.
Gunnar B. Zimmermann, M. A. hat an der Universität Hamburg Geschichts- und Politikwissenschaft studiert und arbeitet seit Sommer 2007, u. a. unterstützt durch eine Stipendium der Hamburger Landesgraduiertenförderung, an einer Dissertation über die Entwicklung des Vereins für Hamburgische Geschichte. Seit 2010 ist er in das Forschungsprojekt der Hamburgischen Biografie eingebunden. Arbeits- und Publikationsschwerpunkte liegen im Bereich der politischen Kultur der Weimarer Republik, bei Prozessen kultureller Erinnerung und auf biografischen Skizzen bedeutender hamburgischer Persönlichkeiten.
Nicht erst in der jüngsten Vergangenheit haben Fragen der Organisation schulischer (Aus-)Bildung im Hamburger Stadtstaat das Potential zu politischen wie gesellschaftlichen Kontroversen gehabt. Wie der folgende Blick in der Vergangenheit zeigt, gehört das diesbezügliche Ringen vielmehr zum Traditionsbestand der Hansestadt.
Antwort auf Industrialisierung und Urbanisierung – Das Gewerbeschulwesen
Als die Patriotische Gesellschaft sich in den 1860er Jahren erfolgreich für die Schaffung eines staatlichen Gewerbeschulwesens in Hamburg einsetzte, lag die Notwendigkeit dieses Zieles klar auf der Hand: Im Zuge der Industrialisierung und des stetigen Anwachsens der Stadt waren zahlreiche neue Branchen und Berufe entstanden, die jenseits der akademischen (Funktions-)Eliten auf gut ausgebildete Menschen angewiesen waren. In der neugeschaffenen Schulform verbanden sich emanzipatorische Aufstiegs- und Bildungschancen für bislang unterprivilegierte Teile der Gesellschaft mit hinreichend ökonomisch orientierter Substanz für die bislang führenden Kreise der Stadt. So basierte die Entstehung des Gewerbeschulewesen auf einem soliden gesellschaftlichen Konsens.
Weimar als Eldorado der schulreformerischen Modellversuche
Die pluralistische Offenheit der Weimarer Jahre führte in Hamburg zu einer ganzen Reihe von schulreformerischen Modellversuchen, von denen die ehemalige Lichtwarkschule sicherlich das heute den meisten Hamburgern noch geläufige Beispiel ist (das Ehepaar Schmidt durchlief hier seine schulische Ausbildung). Ein neuer inhaltlicher Zuschnitt des Lehrplans, eine veränderte Ausrichtung der pädagogischen Rolle des Lehrers im Verhältnis zu den Schülern und auch die Einführung von musisch orientierten Fächern sollte den als autoritär empfundenen pädagogischen Mief der wilhelminischen Jahre vertreiben. Ziel war es, die Schüler in einem emanzipatorischen Klima zu gleichwertigen Mitgliedern einer demokratisch verfassten Gesellschaft zu erziehen. Dieser aufklärerische Impetus lag auch den 1919 erfolgten Gründungen von Universität und Volkshochschule zugrunde, die im Rahmen der Erwachsenenbildung die Partizipation breitere Bevölkerungskreise an Bildung und Wissenschaft ermöglichen sollten (hierzu u. zum folgenden vgl. Milberg: Schulpolitik 1970).
Insgesamt blieb der reformerische Flügel in der hamburgischen Lehrerschaft aber in der Minderheit. Die Lehranstalten klassischen Zuschnitts bildeten nach wie vor das Gros der Bildungseinrichtungen der Stadt. Ein Blick in die Hamburger Lehrerzeitung (dem ab 1922 erscheinenden Organ der hamburgischen Lehrerschaft) zeigt, mit welcher kontroversen Dynamik über die Entwicklung der Modellschulen, und damit indirekt stets über den Bestand der klassischen Organisation von Schule überhaupt, diskutiert wurde.
Vor allem die akademisch gebildeten, konservativ ausgerichteten Oberlehrer (so hießen bis Ende der Weimarer Republik die Lehrkräfte an den höheren Schulen) konnten sich mit Teile der Reformanstrengungen nicht anfreunden. Sie bemühten sich im Rahmen ihrer Möglichkeiten um den Erhalt traditioneller Bildungspatente, was in der Auseinandersetzung um den Bestand des humanistischen Gymnasiums mit seiner altsprachlichen Ausrichtung (Griechisch und Latein) einen auch für die Öffentlichkeit wahrnehmbaren Ausdruck fand. Doch für einen offenen Widerstand waren den Oberlehrern die Hände gebunden. Die Neuausrichtung von Schule und Bildung war politisch gewollt und wurde durch die sozialdemokratisch dominierten Senate der Weimarer Jahre und deren Schulsenatoren gestützt. Breite Unterstützung bekamen die Reformgegner hingegen aus Kreisen der städtischen Bildungs- und Funktionselite, die sich um den Verlust des privilegierten Zugangs zu höherer Bildung für den eigenen Nachwuchs und somit auch um den Zugang zu Spitzenpositionen im Machtgefüge des Stadtstaates sorgte.
Hamburger Schule im NS-Staat
Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten war es in Hamburg ab 1933 erst einmal mit der offenen Diskussion über die (Aus-)Bildungsorganisation vorbei. Zwar führten die Apologeten des NS-System ständig das Wohl der „Volksgemeinschaft“ als Motiv ihres Handelns an, doch hatte ihre Politik auch im Bildungsbereich wenig umwälzenden und keinerlei emanzipatorischen Charakter.
Die demokratische Verfasstheit der Schulleitung (ab 1919 hatten die Lehrerkollegien ihre Schulleiter wählen dürfen) und die Elternmitbestimmung sowie die Reformschulprojekte wurden zugunsten einer straffen, am Führerprinzip orientierten Schulorganisation kassiert (Schmidt: Schulen 2010, S. 31 f.). Die Gleichschaltung aller Lehrer im Nationalsozialistischen Lehrerbund sorgte schnell dafür, dass für abweichende Vorstellungen kein öffentlicher Raum mehr vorhanden war (Schmidt: Schulen 2010, S. 153 ff.). Entscheidungen zur Form der Bildungsorganisation oblagen nun nur noch der mit Nationalsozialisten besetzten Schulbehörde .
Doch wie in vielen anderen politischen Ressorts waren die Nationalsozialisten auch im Bereich der Bildung mit keinem ausgereiften Plan angetreten. Seit ihrer Entstehung hatten sie sich stets in Abgrenzung zu anderen definiert (gegen Demokratie, gegen Pluralismus, gegen den Versailler Vertrag usw.) und hatten darüber die Entwicklung konkreter Pläne vernachlässigt. Auch wenn unter den Nationalsozialisten die Rolle der Volksschulen gestärkt wurde, bedeutete das Jahr 1933 in der äußeren Form der Schulorganisation letztlich eine Rückkehr zum Status quo der wilhelminischen Zeit. Vorhandene Pläne zur Umgestaltung des Bildungs- und Schulsystems wurden in ihrer Entwicklung und Umsetzung durch den Beginn des Zweiten Weltkriegs abgewürgt. Ein trügerischer Pluralismus und hoher Aktivismus herrschte in den Friedensjahren der NS-Herrschaft lediglich in der Frage, wie die nationalsozialistische Weltanschauung in die Lehrpläne zu integrieren sei, wobei aber kein Zweifel daran gelassen wurde, dass die Schulen am Ende lauter stramme Nationalsozialsten hervorbringen sollten.
Nimmt man den starken, durch erlassene Zugangsbeschränkungen erzwungenen Rückgang der Studierendenzahlen an Universitäten und Hochschulen hinzu, wird der bildungsfeindliche Charakter des NS-Systems deutlich. Die Jahre zwischen 1933 und 1945 zementierten letztlich also den seit jeher bestehenden engen Zusammenhang von sozialer Herkunft auf der einen sowie Bildungserfolg und Karrierechancen auf der anderen Seite für weitere zwölf Jahre.
Wider den Untertanengeist – Bildungsreform in der Nachkriegszeit
Mit dem Zusammenbruch des NS-Regimes im Frühjahr 1945 setzte sowohl bei den Alliierten als auch bei den neuen politischen Kräften auf deutscher Seite eine intensive Auseinandersetzung mit der Frage ein, wie es zur „deutschen Katastrophe“ hatte kommen können.
Als Faktoren, die Aufstieg und Akzeptanz des Nationalsozialismus begünstigt haben, machte man damals das weitgehende Versagen der Funktionseliten in Staat und Gesellschaft sowie die zu große Undurchlässigkeit zwischen den einzelnen gesellschaftlichen Schichten aus. Die Anfälligkeit der deutschen Gesellschaft für die Versprechungen Hitlers und seiner Gefolgsleute sah man unter anderem im ausgeprägten Untertanenbewusstsein und einer unterentwickelten demokratisch-emanzipatorischen Grundausrichtung begründet.
Da neben dem Elternhaus die Schule der zentrale Ort zur Vorbereitung junger Menschen auf das Leben ist, versuchten die von der SPD dominierten Senate der frühen Bundesrepublik genau hier auch reformerisch anzusetzen, um stabile Grundlagen für eine pluralistische Demokratie zu schaffen. Vor diesem Hintergrund war es folgerichtig, dass 1945 mit Heinrich Landahl (1895-1971) ein bekennender linksliberaler Demokrat der Weimarer Jahre als Schulsenator eingesetzt wurde.
In den ersten Nachkriegsjahren ging es zwar noch fast ausschließlich um rein materielle Dinge, wie zum Beispiel den Wiederaufbau der zerstörten Schulgebäude, die Anstellung einer ausreichenden Anzahl an Lehrkräften und die Beschaffung geeigneter Lehrmittel (Schmidt: Schule 2010, S. 685 ff.). Doch Landahl bemühte sich auch zeitnah darum, die aus dem Nationalsozialismus gezogenen Lehren in eine Reform der generellen Schulorganisation in Hamburg einmünden zu lassen. Dass Landahl für diese Aufgabe die geeignete Kraft war, stand außer Zweifel. In den Weimarer Jahren hatte er nicht nur als Bürgerschaftsabgeordneter demokratisches Engagement bewiesen, Landahl war auch von 1927-33 als Schulleiter für die eingangs erwähnte Lichtwarkschule verantwortlich gewesen. Somit kannte sich er auch in praktischer Hinsicht mit den Möglichkeiten und Grenzen einer alternativen Schulorganisation bestens aus (Schmidt: Schule 2010, S. 698 ff.).
Ergebnis der politischen und pädagogischen Überlegungen war das Schulgesetz vom 25.10.1949, das einen tiefen Einschnitt in die traditionelle Schulorganisation der Hansestadt darstellte. Eine für Alle verpflichtende sechsjährige Allgemeine Volksschule sollte der Auftakt der Bildungskarriere der Schüler werden. Daran schloss sich je nach Bildungserfolg und Berufsziel ein dreigliedriges System weiterführender Schulen an: Eine auf drei Jahre angelegte Praktische Oberschule sollte die ehemaligen Volksschulen ersetzen. Die Realschulen wurden von einer vierjährigen Technischen Oberschule abgelöst und eine dem Gymnasialabschluss äquivalente Qualifikation sollte nun in sieben Jahren auf der Wissenschaftlichen Oberschule erworben werden. An der Zeitspanne, die zum Erreichen der jeweiligen Bildungspatente nötig war, änderte sich im Vergleich zu früher nichts. Neu war in der äußeren Form nur das um zwei Jahre verlängerte gemeinsame Lernen aller Schüler.
Die Initiatoren versprachen sich von der Reform die Auflösung der beklagten wilhelminischen Untertanenmentalität, eine Liberalisierung und Demokratisierung der Bildungs- und Karrierechancen für alle Menschen sowie daraus resultierend auch des Zugangs zu den Machtstrukturen des Landes. Das längere gemeinsame Lernen hielt man pädagogisch für den zentralen Schlüssel, um diese Ziele zu erreichen (vgl. Böhling: Schulsystem 2004, S. 6 ff.).
Rolle rückwärts – Bildungsstreit im Bürgerschaftswahlkampf 1953
Doch wie schon in den Weimarer Jahren formierte sich von Seiten der traditionellen konservativen Funktionseliten der Stadt und ihrer politischen Vertreter von Beginn an Widerstand gegen diese Neustrukturierung der (Aus-)Bildungsorganisation. In der offiziellen Beschneidung des Gymnasiums sah man den Untergang der traditionellen humanistischen Bildung gekommen und das längere gemeinsame Lernen stellten Kommentatoren unter Kommunismusverdacht (vgl. Böhling: Schulsystem 2004, S. 62 ff.).
Schon bald nach Gründung der Bundesrepublik sorgte somit die in Hamburg stets aktuelle Frage, wer wann und unter welchen Bedingungen einen Zugang zur schulischen Bildung bekommen soll, für neue Frontlinien in der Gesellschaft und zu langwierigen Kontroversen zwischen Befürwortern und Gegnern der Schulreform.
Die Diskussion ebbte auch in den folgenden Jahren nicht ab und begleitete die Hamburger als eines der zentralen Themen in den Wahlkampf der für den Herbst 1953 anstehenden Neubesetzung von Senat und Bürgerschaft. Die konservativen Parteien versprachen bei einem Wahlsieg die Rücknahme der Schulreform und die Rolle rückwärts zum Schulsystem alter Ausprägung. Erneut wurde der Untergang des Abendlandes und der heimliche Sieges des Kommunismus beschworen, für den Wahlkampf öffentlichkeitswirksam zugespitzt und mit einer breiten Pressekampagne begleitet. Diese Zuspitzung verlieh dem durchaus zutreffenden Argument, dass nun die letzte Gelegenheit gegeben sei, ohne große negative Folgen für die Schüler das Bildungsexperiment abzubrechen, die notwendige Stoßkraft.
Der Streit um die Ausrichtung der Schulorganisation in Hamburg trug wesentlich zum Wahlsieg des konservativen Wahlbündnisses mit dem Namen Hamburger-Block aus CDU, FDP, DP (Deutsche Partei) und BHE (Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten) bei. Der neue Senat unter Bürgermeister Kurt Sieveking löste sein Wahlkampfversprechen ein und nahm die Schulreform von 1949 zurück (John: Wahlkampf 1997, S. 205).
PISA zum neuen Jahrtausend in Deutschland angekommen
Seit jenem bewegten Herbst des Jahres 1953 gab es in Hamburg in Fragen der äußeren Schulorganisation scheinbar nur wenig Bewegung. Und so weckte erst die im Jahr 2000 von der OECD erstmals publizierte PISA-Studie die Bildungspolitiker und die Öffentlichkeit aus ihrem Dornröschenschlaf. Die Studie stellte dem deutschen Bildungssystem eine schlechte Note beim Wissensstand der Schüler in bestimmten Lehrfächern aus. Viel gravierender war jedoch die Feststellung, dass es in keiner anderen wohlhabenden Industrienation westlicher Prägung einen derart engen Zusammenhang zwischen Bildungserfolg und -chancen der Schüler und der sozialen Herkunft ihrer Eltern gibt.
Dieser Befund hat in der letzten Dekade zu einer nachhaltigen Diskussion über die Organisation von Bildung in Deutschland geführt und auch in Teilen neue Modelle hervorgebracht, ohne dass die PISA-Nachfolgestudien in der Frage der sozialen Bedingtheit von Lebenschancen eine wesentliche Verbesserung festgestellt haben. Fest steht, dass diese Fragen bis in die jüngste Vergangenheit ihre gesellschaftspolitische Brisanz nicht verloren haben. Schließlich verfolgte die 2010 per Volksentscheid gestoppte schwarz-grüne Schulreform ganz ähnliche Ziele (längeres gemeinsames Lernen, höhere Durchlässigkeit zwischen den Schulformen) wie sie die Reformer 1949 abgestrebt hatten. Und wie damals scheiterte die Reform an einer gebildeten Mittelschicht, die aus subtiler Angst um die Aufstiegschancen ihres Nachwuchses nicht bereit war, die sozialen Schranken bei der Verteilung von Zukunftschancen abzubauen. So scheint Bildungsgerechtigkeit in der Zukunft nur erreichbar, wenn die Pfade der in Hamburg nun schon seit beinahe neunzig Jahren andauernden Diskussion um die Organisation von Bildung verlassen werden und eine von ideologischen Scheuklappen befreite Auseinandersetzung mit dem Themenkreis Raum greift.
Literatur
Böhling, Björn: Die Auseinandersetzung um das Hamburger Schulsystem 1949-1954, Norderstedt 2004.
John, Thomas: Wahlkampf und Bürgerschaftswahlen 1953 in Hamburg, in: Zeitschrift des Vereins für Hamburgische Geschichte 83/2 (1997), Seite 205-236.
Milberg, Hildegard: Schulpolitik in der pluralistischen Gesellschaft. Die politischen und sozialen Aspekte der Schulreform in Hamburg 1890-1935 (Veröffentlichungen der Forschungsstelle für die Geschichte des Nationalsozialismus in Hamburg 7), Hamburg 1970.
Schmidt, Uwe: Hamburger Schulen im „Dritten Reich“ (Beiträge zur Geschichte Hamburgs 64), Band 1, hrsg. v. Rainer Hering, Hamburg 2010.
Quelle: http://www.hh-geschichten.uni-hamburg.de/?p=11