Wallenstein als Feldherr – oder nicht?

Wallenstein als Feldherr war eine prachtvolle Erscheinung. Diesen Eindruck vermittelt er auf jeden Fall in den zeitgenössischen Gemälden. Besonders das Reiterbildnis aus dem Palais Waldstein stellt ihn in dieser Rolle heraus. Kein Wunder, daß der Prager Katalog zu „Albrecht von Waldstein“ von 2007 dieses Motiv an prominenter Stelle platziert, gleich neben dem Vorwort der Herausgeber ganzseitig auf S. 14. Das Gemälde, dem Maler Christian Kaulfersch zugeschrieben, zeigt den Feldherrn Wallenstein hoch zu Roß im schwarzen Vollharnisch. Der Kopf ist unbedeckt und schaut direkt in die Richtung des Betrachters; die linke Hand hält die Zügel, in der rechten liegt der Kommandostab. Der Rappe sowie die geschwärzte Rüstung geben dem Gemälde ein düsteres Gepräge; um so auffallender ist daher die Pracht des Sattel- und Zaumzeugs sowie der Pistolentasche.

Als Nicht-Kunsthistoriker will ich mich nun gar nicht aufs Glatteis begeben und eine weitergehende Bildbeschreibung versuchen. Als Historiker stolpere ich aber über die Tafel in der Bildecke rechts unten, auf der unter anderem deutlich sichtbar eine Jahreszahl prangt: 1631. Offenbar das Jahr, in dem das Gemälde angefertigt wurde. Und genau hier fangen die Fragen an: Denn wie kommt Wallenstein dazu, sich im Jahr 1631 als Feldherr porträtieren zu lassen? Im Sommer 1630 war er doch von all seinen Ämtern entbunden worden; seitdem hatte er kein Kommando mehr über die kaiserlichen Truppen. Erst Ende 1631 sollte er wieder von Kaiser Ferdinand II. neubestallt werden; damals begann das sog. 2. Generalat. Doch ist es plausibel, daß dieses Gemälde ganz knapp noch in dieses Jahr zu datieren ist? So rasch läßt sich ein derartiges Gemälde doch wohl kaum verfertigen. Oder wurde es zurückdatiert? Plausibler ist vielmehr, daß Wallenstein dieses Bild viel früher in diesem Jahr in Auftrag gab – womit wir an der Frage nicht vorbeikommen, warum er in einer Phase, in der er ohne ein militärisches Amt zu bekleiden, sich ausgerechnet als Feldherr darstellen ließ.

Natürlich konnte er damit auf seine Leistungen in den Jahren zuvor verweisen, als er den Kondottiere Ernst von Mansfeld besiegt und für den Kaiser den Krieg gegen den König von Dänemark gewonnen hatte. Allerdings findet sich in diesem Gemälde überhaupt keine Reminiszenz an konkrete Ereignisse in diesen Feldzügen; das Bild scheint den Feldherrnruhm Wallensteins ganz allgemein betonen zu wollen. Eine solche Lesart ist natürlich möglich, und doch ruft sie andere Fragen hervor. Denn wenn Wallenstein in genau dieser Phase die Rolle des Feldherrn für sich selbst herausstellt, hatte dies durchaus Signalwirkung – zumal bei einem repräsentativen Gemälde. Eben weil seine Entlassung 1630 auf den Druck der Reichsstände und insbesondere der Katholischen Liga erfolgt war, würde ein Gemälde, das ihn erneut in dieser Rolle abbildet – und zwar nicht rückwärtsgewandt auf konkrete Ereignisse bezogen, sondern in generalisierender Absicht – ein Politikum ersten Ranges gewesen sein. Maximilian von Bayern, das wird man unterstellen dürfen, hätte eine solche Selbstdarstellung Wallensteins als Affront empfunden, der seinen düstersten Ahnungen über die Rückkehr des verhaßten Friedländers nur neue Nahrung gegeben hätte.

Wohl nicht Kaulfersch, wohl nicht Wallenstein, vielleicht 1631 (Ausschnitt).

Wohl nicht Kaulfersch, wohl nicht Wallenstein, vielleicht 1631 (Ausschnitt).

Doch solche Spekulationen brauchen hier gar nicht weiter verfolgt zu werden. Denn während mich allein die Tafel mit dem Hinweis auf 1631 stutzig gemacht hat, ist Ilka Waßewitz vor kurzem noch auf ganz andere Ungereimtheiten gestoßen (Ein Abbild des Herzogs? – Anmerkungen zum Reiterbildnis Wallensteins im Prager Palast, in: „Die blut’ge Affaire bei Lützen“. Wallensteins Wende, hrsg. v. Inger Schuberth und Maik Reichel, Wettin-Löbejün 2012, S. 220-227). Hier geht es zunächst um die über dem Kopf des Reiters positionierten Reichsinsignien sowie Lorbeer- und Palmzweige. Hinzu kommen Übermalungen, die nicht nur den Hintergrund des Gemäldes betreffen, sondern auch die Figur des Reiters selbst. Ihre Analyse ist sehr behutsam und läuft doch auf die These hinaus, daß hier ursprünglich gar nicht Wallenstein, sondern Kaiser Ferdinand III. porträtiert wurde. Besonders die Übermalungen im Gesicht und Kopfbereich der Reiterfigur unterstützen diese Annahme; andere Punkte – insbesondere die erwähnte Tafel mit der Datierung 1631 – sprechen dagegen.

Eine eindeutige Antwort auf die Frage, wer hier nun als Feldherr porträtiert wurde, ist derzeit offenbar nicht möglich. Aber daß es sich um Wallenstein handelt, muß zumindest mit einem großen Fragezeichen versehen werden. Eigentlich schade, denn eine Kampfansage an den bayerischen Kurfürsten mittels eines repräsentativen Reitergemäldes hätte ich dem auf Rache sinnenden Wallenstein schon zugetraut.

Quelle: http://dkblog.hypotheses.org/632

Weiterlesen

Auf Verwundbarkeiten achten, Resilienz stärken. Perspektiven für ländliche Räume

Auf der Resilienz-Tagung in Tutzing (27.2 – 1.3.2015) wurde des Öfteren vorgeschlagen, den Zusammenhang zwischen Vulnerabilitätsvermeidung und Resilienz zu reflektieren. Eine eingehende Analyse beider Begriffe findet sich bei Christmann u. a. (2011). Aus den Reihen des Forschungsverbundes ForChange hat Martin Schneider in der von der Hanns-Seidel-Stiftung herausgegebenen Broschüre „Armut im ländlichen Raum? Analysen und Initiativen zu einem Tabu-Thema“ einen Beitrag dazu veröffentlicht (erschienen in der Reihe „Argumente und Materialien zum Zeitgeschehen Nr. 97“).

Ausgehend von der Entwicklungs- und Armutsforschung, bei der der Begriff der Vulnerabilität sehr verbreitet ist, analysiert Schneider, warum arm zu sein (auch) heißt verwundbar zu sein. Der Perspektivenwechsel gegenüber traditionellen Armutskonzepten besteht darin, dass der Fokus nicht nur auf den Mangel an materiellem Einkommen und auf die Verteilung von Gütern gelegt wird, sondern auch auf die Frage, ob die zur Verfügung stehenden persönlichen, sozialen und strukturellen Ressourcen und Sicherungsmechanismen ausreichen, Veränderungen, Krisen und Katastrophen bewältigen zu können. Fehlen jene, öffnet sich das Fenster der Verwundbarkeit. Im Wikipedia-Eintrag zu Vulnerabilität wird ganz in diesem Sinne folgende Definition vorgeschlagen: „Verwundbar sein heißt …: Stressfaktoren ausgesetzt [zu] sein (externe Dimension), diese nicht bewältigen zu können (interne Dimension) und unter den Folgen der Schocks und Nichtbewältigung leiden zu müssen.“

Für Martin Schneider ist dies der Punkt, um Resilienz als „Gegenbegriff“ zu Vulnerabilität einzuführen. Sie ist dies seiner Ansicht nach nicht deswegen, weil externe Veränderungen und Krisen vermieden werden. Bei Resilienz gehe es vielmehr um die Stärkung der internen Dimension, also um die Fähigkeit, Krisen zu meistern und die Handlungsfähigkeit zu erhalten bzw. zu stärken. Diesen Aspekt von Resilienz macht Schneider auch fruchtbar für das Verständnis und die Notwendigkeit von transformativen Prozessen, also von Resilienz-Strategien, die einen Wandel des jetzt dominanten Wirtschafts-, Gesellschafts- und Kulturmodells zum Ziel haben (eben um die „Auslöser“ von Verwundbarkeiten zu „bekämpfen“). Im letzten Teil wendet Schneider seine Vulnerabilitäts- und Resilienz-Reflexionen auf die regionale Entwicklung an. Er erörtert dabei auch die Frage, ob das Verlassen des ökonomischen Wachstumspfades die Resilienz von ländlichen Regionen fördern bzw. deren schon vorhandene Resilienz stärken kann. Dies würde seiner Ansicht nach dazu drängen, den im Konzept der Resilienz bislang weniger dominanten Aspekt der Transformationsfähigkeit hervorzuheben. Schneider weist darauf hin, dass für transformative Resilienz-Praktiken das lokale Handeln und das praktische Einüben von nachhaltigen Lebensstilen von entscheidender Bedeutung sind. Dazu brauche es Pioniergruppen, Experimentierfelder und soziale Labore – eben das, was sich heute unter Überschriften wie „Raumpioniere“, „Transition Towns“ („Städte im Wandel“), „Commoning“ („Gemeinsame Nutzung, Pflege und Entwicklung öffentlicher Güter“) oder „Social Banking“ (Wiederindienstnahme des Finanzsektors für eine nachhaltige Entwicklung von Gesellschaft und Realwirtschaft) entwickelt. Je weniger eine Gruppe oder Region auf Fremdversorgung angewiesen ist, um Probleme, Krisen, Notlagen oder Katastrophen bewältigen zu können, umso resilienter ist sie. Eine Erhöhung regionaler Resilienz macht unabhängiger und souveräner. Sie ist ein Beitrag zu mehr Mitbestimmung, Selbstermächtigung, Einfluss und Kontrolle – und in diesem Sinne nicht ganz unbedeutend für eine Verlebendigung der lokalen Demokratie, für die Entwicklung nachhaltiger Muster des Arbeitens und Wirtschaftens und für den Abbau sozialer Ungleichheiten. Als Stärke von ländlichen Räumen sieht Schneider, dass „Resilienzgemeinschaften“ wie Selbsthilfeeinrichtungen, Genossenschaften, Nachbarschaftshilfen und Vereine dort noch sehr verbreitet sind.

Anzumerken sind noch folgende Punkte: (1) Der Beitrag von Martin Schneider geht zurück auf ein Referat bei einer gemeinsamer Veranstaltung der Akademie für Politik und Zeitgeschehen der Hanns-Seidel-Stiftung, des Wissenschaftlichen Kuratoriums der Bayerischen Akademie Ländlicher Raum und der Katholischen Landvolkshochschule Petersberg. Er geht deswegen auch der Frage nach, wie die Resilienz-Perspektive in die Diskussion um die Gleichwertigkeit von Lebensverhältnissen eingebracht werden kann. Dies ist politisch nicht unbedeutend, wenn man bedenkt, dass der Bayerische Landtag  zum Gleichwertigkeits-Postulat eine Enquete-Kommission eingerichtet hat. (2) Martin Schneider versteht Resilienz vor allem als Vulnerabilitätsvermeidung. Weniger im Blick ist, inwieweit „Verwundungen“ die persönliche und vielleicht auch regionale Resilienz fördern. Für einen Theologen ist diese Fragestellung nicht uninteressant. Markus Vogt hat in seinem Beitrag in den Working Papers dazu bereits einige Anmerkungen gemacht (Vogt 2015: 8f.).

Download:

[Download gesamter Beitrag von Martin Schneider: Auf Verwundbarkeiten achten, Resilienz stärken, erschienen in: aus: Franke, Silke (Hg.): Armut im ländlichen Raum? Analysen und Initiativen zu einem Tabu-Thema. (Hanns-Seidel-Stiftung, Argumente und Materialien zum Zeitgeschehen Nr. 97), München 2015]

Die gesamte Broschüre  “Armut im ländlichen Raum? Analysen und Initiativen zu einem Tabu-Thema” kann auf der Homepage der Hanns-Seidel-Stiftung downgeloaded oder kostenlos bestellt werden [weiter].

Literatur:

Christmann, Gabriela / Ibert, Oliver / Kilper, Heiderose / Moss, Timothy (2011): Vulnerabilität und Resilienz in sozialräumlicher Perspektive. Begriffliche Klärungen und theoretischer Rahmen. (Working Paper 44, Leibniz-Institut für Regionalentwicklung und Strukturplanung), Erkner, http://www.irs-net.de/download/wp_vulnerabilitaet.pdf (abgerufen am 30.01.2015).

Welzer, Harald (2013): Selbst denken. Eine Anleitung zum Widerstand, Frankfurt/M. 2013.

Vogt, M. (2015): Zauberwort Resilienz. Eine Begriffsklärung  (Bayerischer Forschungsverbund ForChange, Working Paper 15/2), März 2015, http://resilienz.hypotheses.org/wp2  (abgerufen am 26.03.2015).

Quelle: http://resilienz.hypotheses.org/459

Weiterlesen

Auf der Suche nach der vorlesungsfreien Zeit

In Multitaskgewittern ging bei mir auch diese vorlesungsfreie Zeit, von Außenstehenden bisweilen völlig irreführend als Semesterferien bezeichnet, zu Ende. Hier ein Antrag für ein Forschungsprojekt, dort ein Konzept für eine Forschungskooperation, Submissions, Papers, Betreuung laufender Projekte, Meetings, Meetings et cetera pp. (z. B. eigene Forschung) und nun trennt mich nur eine Kaskade kirchlicher Feiertage von meiner ersten Sommersemesterveranstaltung.

Kurse, die man Studierenden anbietet, gehören vorbereitet, sonst wird das für beide Seiten eine unschöne und vor allem langatmige Veranstaltung. Aber es bleibt nur so wenig Zeit! Gerade rechtzeitig vor einer Panikattacke erinnerte ich mich an meinen Blogbeitrag vor fast genau einem Jahr, in dem ich die Planungen zu einer meiner Veranstaltungen im letzten Sommersemester beschrieb. Darin verlinkte ich unter anderem eine Mind Map, die ich mit Bubbl erzeugt hatte und die sich trefflich als Grundlage für meine diesjährigen Erweiterungen (siehe Abbildung) entpuppte (dafür musste ich aber tatsächlich wieder Flash installieren – ging eine ganze Zeit lang ohne).

Course-Text-Mining-2015_37e2cdle

Den aufmerksam Hinschauenden wird vielleicht auffallen, dass die letztjährige Mindmap lediglich erweitert wurde, was allerdings auch beabsichtigt ist. Völlig neu ist der Definitions-Teil (gelb), wo ich am Anfang des Seminars ein paar Worte darüber verlieren möchte, was Maschinelles Lernen einerseits von Regelbasierten Systemen unterscheidet und einen kurzen Ausblick darauf wagen, was es mit dem gerade sehr gehypten Deep Learning auf sich hat. Christoph Kappes spülte mir eine schmale, gleichzeitig aber sehr brauchbare Präsentation zu den mathematischen Grundlagen des Maschinellen Lernens in meine Twitter-Timeline, die ich sicherlich gut für den Theorie-Teil (orange) verwenden kann.

Die Anwendungsfelder (blau) und Software-Lösungen (grün) sind sicherlich ein wenig überladen für einen einsemestrigen zwei-Stunden-pro-Woche-Kurs. Hier ist aber auch keine völlige Abdeckung angedacht. Der Kurs im letzten Jahr war an ein Kooperationsprojekt mit dem Bundesinstitut für Berufsbildung angelehnt, bei dem es um die Kategorisierung von Abschnitten in Stellenanzeigen ging (das Fachwort dafür lautet Zone Analysis, da habe ich gerade ein Paper zu geschrieben). Dieses Projekt ist inzwischen abgeschlossen, ein Nachfolgeprojekt zur Informationsextraktion aus den kategorisierten Abschnitten steht in den Startlöchern. Ein Großteil der Softwarelösungen ist daher schon implementiert und muss lediglich auf die neue Aufgabe angepasst werden. Alternative wäre eine Sentiment-Analyse auf anderen Daten, z.B. eine Auswertung von Tweets mit dem Hashtag #tatort. Mal sehen, was das Rennen macht, man sollte den Studierenden ja auch ein wenig Auswahl lassen.

Essenz: Einen Blog zu führen, in dem man ab und zu einmal etwas so halb durchdenkt und ausformuliert, kann einem also offensichtlich dabei behilflich sein, sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf zu ziehen. Und dann gibt es ja auch noch Twitter. Die nächste Seminarplanung kommt bestimmt – schon nächsten Donnerstag steht ein Kolloquium an, für das ich teilweise verantwortlich bin  8-O

Quelle: http://texperimentales.hypotheses.org/1283

Weiterlesen

Die wundersame Planungsgeschichte des zweiten Philosophenturms der Universität Hamburg

Anton F. Guhl und Malte Habscheidt Vor genau 40 Jahren, am 1. April 1975, war es endlich soweit: Rund zwölf Jahre, nachdem mit dem „Philosophenturm“ das bis dahin größte Gebäude der Universität eingeweiht worden war, konnte mit dem „zweiten Philosophenturm“ … Weiterlesen

Quelle: http://netzwerk.hypotheses.org/2242

Weiterlesen

Vorsprung durch Technik – eine mobile Mühle für den Krieg

Es soll niemand sagen, daß es in der Vormoderne keinen technischen Fortschritt gegeben habe. Ein Beispiel dafür bietet die fahrbare Getreidemühle, die ich im Waldstein-Katalog von 2007 gefunden habe (S. 475, 6.5.4). Dargestellt ist eine Feldgetreidemühle, die auf einem fahrbaren Untersatz montiert war und von Pferden betrieben wurde. Der Vorteil lag auf der Hand: Man war nicht auf Mehl angewiesen, sondern konnte auch das Rohmaterial verarbeiten. Da die Versorgungsfrage für jede Armee stets eine große Herausforderung darstellte, war es naheliegend, Techniken zu entwickeln, die gerade für einen Heerhaufen – ökonomisch gesprochen eine Ansammlung von unproduktiven Menschen, der auf zumeist knappe Ressourcen zurückgriff – die notwendigen Versorgungsgüter leichter verwertbar machten.

Fahrbare Getreidemühle

Fahrbare Getreidemühle

So plausibel das alles ist, muß ich doch gestehen, daß ich von solchen Phänomenen recht wenig weiß. Über die gängigen Quellengruppen, die sonst über den Krieg und die Feldzüge informieren, habe ich kaum jemals etwas über solche Techniken und erst recht nichts über Innovationen erfahren. Pech bei der Auswahl der Akten, ein blinder Fleck in meiner Wahrnehmung? Ich kann und will nichts ausschließen, aber auch das Beispiel im Katalog selbst stimmt mich nachdenklich. Denn das Beispiel stammt aus dem Jahr 1606 und berichtet von einer Episode, derzufolge der spanische Feldherr Spinola das Stättchen „Lochum“ (gemeint ist offenbar Lochem in der Provinz Gelderland) eingenommen hat. Mit dabei waren auch „schone Muillwagen“, wie es in der deutschen Legende des Einblattdrucks heißt.

Es handelt sich also um einen Beleg aus dem spanisch-generalstaatischen Krieg und nicht aus dem Dreißigjährigen Krieg. Nun waren die militärischen Strukturen in beiden Konflikten so ähnlich, daß es methodisch kein Problem ist, solche Befunde aufzugreifen. Doch als ich nach weiteren Beispielen für solche Mühlen suchte, habe ich keine weiteren Belege entdecken können. Ich kann mir nicht vorstellen, daß ausschließlich in der Armee Spinolas solche mobilen Mühlen zum Einsatz gekommen sind. Das Motiv wurde von Hogenberg in Köln verlegt, und der Druck wird sicher einigermaßen Verbreitung gefunden haben – der tschechische Nachweis im Katalog spricht schon dafür wie auch der weitere Nachweis im VD17 für die BSB in München (12:658778R).

Man wußte also von solchen Techniken. Doch seit wann gab es die fahrbaren Mühlen eigentlich? (der Hinweis im Flugblatt auf Pompeius als „Inuentor“ führt hier natürlich nicht wirklich weiter) Und wie weit waren sie verbreitet: Waren derartige Mühlen vielleicht schon in dieser Zeit allgegenwärtig? Ja waren sie womöglich Standardausstattung für den Troß der Heere des Dreißigjährigen Kriegs, daß schon gar nicht mehr über sie berichtet wurde? Vielleicht habe ich wie gesagt grundlegende Dinge, die in diesen Jahrzehnten alltäglich waren, verpaßt und ausgeblendet. Aber ein wenig frage ich mich schon, wieviel wir eigentlich über solche Techniken und auch ihre Fortentwicklungen (nicht) wissen, die für das Verständnis der Kriegsläufte in dieser Epoche wesentlich sind.

Quelle: http://dkblog.hypotheses.org/626

Weiterlesen

Ein Attentäter im Visier Fouchés? Dritter Beitrag zur Blogserie Theodor von Hallberg-Broich

In den Berichten der napoleonischen police secrète des Premiere Empire für die Jahre 1804 bis 1805 stellt sich die im vorherigen Beitrag beschriebene Situation um Hallbergs willkürliche Verhaftung nicht nur zeitlich etwas anders dar.

Unter dem Datum des 24. Vendémiaire des Jahres XIII (also Mittwoch, dem 16. März 1804) findet sich unter der Nummer 430, „Événements divers“, folgender stichwortartiger Eintrag, der hier in Übersetzung wiedergegeben werden soll: „Fremder in Mannheim arretiert, den Rhein überquerend: Baron von Halberg (sic!), bayerischer Hauptmann, gemeldet wie gefährlicher Feind unter dem Namen Palbus oder Pulbas.“1

Ein weiterer Eintrag zum „Fall Hallberg“ findet sich nicht acht, aber rund neun Monate später unter dem Datum des 30. Frimaire des Jahres XIII (oder Donnerstag, dem 21. Dezember 1804), Eintragung Nr. 691: „Herr Marschall Moncey zeigt dem Minister den Beschluss des Oberstaatsanwalts des Haut-Cour imperiale an, er hat dem Kommandanten der Gendarmerie von Mont-Tonnerre befohlen, Herrn Halberg (sic!), der des Attentats gegen seine Majestät angeklagt und in Mainz inhaftiert ist, unter sicherem Geleitschutz in die Conciergerie zu überführen.“2

Bis auf einige vor allem zeitliche Unstimmigkeiten lässt sich bis hierher das Bild Theodor von Hallberg-Broichs als durchaus bedeutendem Feind Napoleons aufrechterhalten, den die Geheimpolizei um Joseph Fouché im Visier hatte.

Joseph Fouché, Duc de Otrante, Gemälde vor 1829 [Bild: von École française [Public domain], via Wikimedia Commons; URL: http://www.myartprints.co.uk/kunst/french_school/school_portrait_of.jpg].
Joseph Fouché, Duc de Otrante, Gemälde vor 1829 [Bild: von École française [Public domain], via Wikimedia Commons; URL: http://www.myartprints.co.uk/kunst/french_school/school_portrait_of.jpg].

Dieses Bild wird jedoch mit der weiteren Durchsicht der französischen Berichte und insbesondere der zum Fall Hallberg in den Archives Nationales erhaltenen historischen Dokumente zunehmend fraglicher.

Auf dem Quellenblog „Napoleon auf der Spur – Quellenblog zur napoleonischen Ära in den deutschen Landen“ soll in Kürze ein erstes archivalisches Dokument zum “Fall Hallberg” in Transkription wiedergegeben werden.

1 Wortlaut im Original: „Etranger arrêté, à Manheim, passant le Rhin: Baron de Halberg, capitaine bavarois, signalé comme adversaire dangereux sous le nom de Palbus ou Pulbas.“ Siehe: Ernest d’Hauterive (Hrsg.), La police secrète du premier empire – Bulletins quotidiens adressés par Fouché a l’Empereur 1804–1805, Paris 1908, S. 137–138.

2 Wortlaut im Original: „M. le maréchal Moncey annonce au Ministre qu’à la requisition du grand procureur général près la haute-cour impérial, il a ordonné au commandant de la gendarmerie du Mont-Tonnerre de faire transférer à la Conciergerie, sous escorte sûre, le sieur Halberg, accusé d’attentat contre Sa Majesté et détenu à Mayence.” Siehe d’Hauterive 1908 (wie Anm. 1), S. 217.

Quelle: http://rhad.hypotheses.org/660

Weiterlesen

Zur Auseinandersetzung mit Täterschaft in der eigenen Familie

Von Dr. Oliver von Wrochem Die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und die Erinnerung an seine Verbrechen sind 70 Jahre nach Kriegsende als gesellschaftliche Verpflichtung anerkannt. Erster und Zweiter Weltkrieg werden in den Medien stark thematisiert, „Erinnerungskultur“ ist Teil der schulischen Lehrpläne, Holocaust-Überlebende erhalten eine hohe Aufmerksamkeit, die deutsche Justiz ermittelt gegen noch lebende Nazitäter: soviel öffentliche Aufarbeitung war nie. Zugleich werden Stimmen laut, die diese Aufarbeitung als ritualisiert beschreiben und ein Unbehagen an den Formen der Erinnerungskultur artikulieren. In diesem Zusammenhang wird auf die … Zur Auseinandersetzung mit Täterschaft in der eigenen Familie weiterlesen

Quelle: http://erinnern.hypotheses.org/173

Weiterlesen

„Weltwissen“ ohne Kolonien: Hans Belting über Kolonialismus, Kunst und Ausstellungspraktiken

von Helen May und Gesche Schifferdecker

„Kann man andere Kulturen ausstellen, indem man ihre Kunst ausstellt?“, fragt sich Hans Belting, Professor Emeritus am Institut der Kunstwissenschaft und Medientheorie der Staatlichen Hochschule für Gestaltung Karlsruhe. Und wenn man es versucht – wie umgeht man eine koloniale Perspektive auf die Kunst „der Anderen“? Wie gibt man nicht-westlichen Künstlern die Möglichkeit, sich zu präsentieren, ohne für sie zu sprechen?

Belting gelingt es in seinem Artikel „Weltwissen“ ohne Kolonien, die Eckpunkte postkolonialer Kunst,- aber auch Kultur- und Literaturkritik zu verbinden, ohne dabei auf die üblichen „Buzzwords“ zurückzugreifen. Durch die Ausstellung von Kunst in Völkerkundemuseen wird impliziert, dass der westliche Kunstbegriff nicht für andere Kulturen gilt. Kontemporäre, globalisierte Kunst zeigt, wie abstrus und beeinflusst diese Haltung von dem ist, was von Edward Said als „Orientalism“ beschrieben wurde: Auch afrikanische Künstler arbeiten nicht mehr unbedingt mit Masken, sondern beispielsweise mit Foto und Video. Selbstverständlich unterscheiden sich Kunst und ihre Intentionen aber auch auf einem globalen Level: „Mag Kunst im Westen auch zu einer ermüdeten Routine geworden sein, so ist sie doch anderswo das Privileg freier Meinungsbildung.“ (17) An Regionen kann man dies allerdings nicht festmachen: Durch Migration und Wechselwirkungen der Globalisierung ist ein „Wurzelgeflecht von ‚Ethnoscapes‘“ (17) entstanden, und diese Diaspora prägt die Kunstproduktion.

Die Beschäftigung mit außereuropäischer Kunst sollte nicht nur eine Betrachtung „des Anderen“, sondern vielmehr auch „eine Frage nach der eigenen Kultur in einem global erweiterten Blickfeld“ (16) sein und im Sinne der Critical-Whiteness-Theory die westliche Deutungshoheit hinterfragen.

Belting, Hans (2012): „Weltwissen“ ohne Kolonien: Zur Zeitgenossenschaft anderer Kulturen. In: Diawara, Mamadou / Günther, Klaus / Meyer-Kalkus, Reinhart (Hrsg.): Über das Kolleg Hinaus. Joachim Nettelbeck dem Sekretär des Wissenschaftskollegs 1981-2012. Wissenschaftskolleg zu Berlin. Berlin 2012. S. 15-20.

Den Artikel sowie den vollständigen Sammelband „Über das Kolleg Hinaus“ finden Sie hier.

Quelle: http://wwc.hypotheses.org/600

Weiterlesen

Albrecht von Waldstein – ein vergessener Katalog

Heute geht es darum, Versäumtes nachzuholen. Denn im Jahr 2007 erschien in Prag ein opulenter und grandioser Katalogband zu Wallenstein, ohne daß diesem in der deutschen Geschichtswissenschaft die gebührende Aufmerksamkeit zugekommen wäre:
Fučíková, Eliška / Čepička, Ladislav (Hrsg.): Waldstein. Albrecht von Waldstein. Inter arma silent musae?, Prag 2007.
Rezensionen in den wichtigen Zeitschriften des Fachs sind mir nicht bekannt, und überhaupt sieht es so aus, als ob die Rezeption dieses Buchs nicht wirklich stattgefunden hat. Auch die Bibliotheksnachweise halten sich, wie eine Recherche über den KVK zeigt, in erstaunlich überschaubarem Rahmen.

Waldstein-KatalogWarum dies so passierte, darüber kann ich nur spekulieren. Ob es der Titel war, der von „Albrecht von Waldstein“ sprach? Das mag ich kaum glauben, denn so weit ist der Weg von Waldstein zu Wallenstein nicht. Und es ist kein wirkliches Geheimnis, daß dies nun mal die tschechische Namensform für die im Deutschen übliche Variante „Wallenstein“ darstellt. Golo Mann hat damals in seiner Monographie die Namensvarietät erläutert, auch darauf hingewiesen, daß sein Namensträger sich selbst Waldstein schrieb (S. 10).

Definitiv stand einer Rezeption nicht die Sprache entgegen, denn es gibt eine deutsche Ausgabe des Bandes, die jede Verständnisbarriere aus dem Weg räumt. Ob es daran lag, daß es kein wirkliches Jubiläum gab, das den Blick der (Fach-)Öffentlichkeit auf diese Persönlichkeit gelenkt hätte? Der Anstoß zu diesem Buch war, wie das Geleitwort erklärt, eher ein politischer: Man wollte das Waldsteinpalais, das heute der Sitz des Senats des Parlaments der Tschechischen Republik ist, im Bewußtsein der Öffentlichkeit stärker verankern – auch der europäischen. Dieses Anliegen sollte eine Ausstellung befördern, die wiederum von dem hier genannten Katalogband begleitet wurde.

Und dieser kann sich wirklich sehen lassen: ein über 600 S. starker Band, über 40 Artikel verteilt auf vier Sektionen, dazu ein umfänglicher Katalogteil, alles dies mit vielfach großformatigen und qualitativ hochwertigen Fotos veranschaulicht. Erarbeitet wurde er vor allem von tschechischen HistorikerInnen, und auch wenn einige österreichische Kollegen noch vertreten sind (ob die Nichtbeteiligung deutscher Fachvertreter die erstaunliche Nichtwahrnehmung in Deutschland miterklärt?), kann dieses Werk als absolut überzeugende Leistungsschau der tschechischen Historikerzunft gelten. Und nicht nur der Historiker, sondern ebenso der kunsthistorischen Disziplinen, die einen erheblichen Anteil daran haben, die unterschiedlichen Zeugnisse der Malerei, der Skulptur und der Architektur vorzustellen.

Gerade auf diesen kunsthistorischen Aspekt zielt auch die Frage im Titel des Katalogbandes: „Inter arma silent musae?“ Es lehnt sich sicher nicht unbewußt an das Ciceronische „inter arma silent leges“ an, doch der ganze Katalog ist darauf ausgerichtet, die Frage, ob denn die Musen zu Kriegszeiten verstummen, als rhetorisch zu entlarven. Zumindest in der Welt Wallensteins war dies nicht der Fall, dies will dieser Band zeigen. Und ich habe vor, in den nächsten Wochen immer wieder mal einzelne Aspekte, die mir in dem Band aufgefallen sind, vorzustellen.

Noch ein Wort zum Übersehen dieses Buchprojekts: Mir ist es im Jahr 2007 nicht anders ergangen als vermutlich einigen in der Zunft – ich habe damals, Schande über mein Haupt, nichts davon mitbekommen. Es bedurfte erst einer tschechischen Kollegin, die mich darauf hinwies und mir diesen Band auch beschaffte. Aber besser später als nie.

Quelle: http://dkblog.hypotheses.org/619

Weiterlesen

Nikola Becker – Der Hitlerputsch und seine Vorgeschichte in Autobiographien von Münchener Bürgern – divergierende Deutungen

Lion Feuchtwanger verfolgt mit seinem Roman „Erfolg“ politische Absichten durch die Darstellung eines vermeintlichen Irrwegs des bayerischen Staats in den Jahren nach dem Umbruch von 1918/19 [Moser, Dietz-Rüdiger, Das Verhältnis von Fiktion und Realität in Lion Feuchtwangers Roman Erfolg. Ein Beitrag zum Bild der Stadt München in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts, in: München lesen: Beobachtungen einer erzählten Stadt, hg. von Simone Hirmer und Marcel Schellong, Würzburg 2008, S. 91-105, S. 93]. Die Bewertung der politischen Entwicklung erfolgt aus einer dezidiert linksgerichteten Perspektive, das Ende der Räteherrschaft wird in bitterer Ironie als Pervertierung einer vorgeblichen ‚Befreiung‘ geschildert. Im Vergleich der Gewalttaten des Räteunternehmens mit denen der Freikorps protokolliert Feuchtwanger minutiös die quantitative Überzahl der von rechter Seite begangenen Verbrechen. Deutlich streicht er das Ungleichgewicht in der juristischen Ahndung rechts- und linksradikaler Gewalttaten heraus. Moderne Entwicklungen im Bereich der Kunst werden in „Erfolg“ von einer kleinbürgerlich engstirnigen, verbohrt konservativen bayerischen Bevölkerungsmehrheit als Bedrohung der bürgerlichen Moral interpretiert. Ihre Träger wie Martin Krüger geraten zu Märtyrern, die zur Aufrechterhaltung der überkommenen Gesellschaftsordnung geopfert werden müssen. Insgesamt arbeiten im Roman Politik, Justiz, Verwaltung und Militär auf das engste zusammen, um nach dem Umsturz des alten Systems Ruhe und Ordnung wiederherzustellen. Sie schrecken dabei nicht vor der Beugung von Justiz und Gerechtigkeit zurück. Letztlich wird dadurch der Aufstieg des völkischen Nationalismus befördert oder aktiv herbeigeführt. Feuchtwanger legt somit am Mittel des historischen Romans eine spezifische Geschichtsinterpretation vor [Vgl. auch den Ausstellungskatalog: Erfolg. Lion Feuchtwangers Bayern, hg. von Reinhard Wittmann, München 2014].

Ein literarisches Medium zur Präsentation von Geschichtsbildern kann vielleicht mehr noch die Gattung Autobiographie darstellen. Volker Depkat nennt autobiographische Texte „hochkomplexe Ordnungs- und Orientierungsleistungen […], durch die sich Individuen, Gruppen und ganze Gesellschaften in der Zeit orientieren, historische Identitätsentwürfe formulieren, sie in Konkurrenz zu anderen behaupten und so immer auch Handlungsräume in einer jeweiligen Gegenwart eröffnen.“ [Depkat, Volker, Lebenswenden und Zeitenwenden. Deutsche Politiker und die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts (= Ordnungssysteme. Studien zur Ideengeschichte der Neuzeit, 18), München 2007, S. 503]. Autobiographische Narrative dienen somit – indem sie eine „Version“ der erlebten Geschichte präsentieren – dem Zweck, diese jeweilige Deutung plausibel, und somit mehrheitsfähig zu machen – also eine Deutungshoheit zu erlangen, die immer auch gegenwartsbezogenen Zwecken dient. Die Plausibilität vorgelegter Geschichtsentwürfe innerhalb eines gesamtgesellschaftlichen Diskurses variiert naturgemäß – der niemals endende Fortgang der Geschichte führt zu einem stetigen Wandel der Interpretationsversuche, zu Revisionen und Neubewertungen.

Unter den zum Roman „Erfolg“ etwa zeitgleich überlieferten, autobiographisch formulierten Geschichtsbildern Münchner Bürger, um die es hier gehen soll, finden sich Komplementär- und Gegenentwürfe. Zunächst zu 4 Werken, die Feuchtwanger politisch am nächsten stehen – Texte der Schriftsteller Oskar Maria Graf, Kurt Martens sowie des Nationalökonomen Lujo Brentano und des Politikers Ernst Müller-Meiningen.

Oskar Maria Graf liefert eine weithin zu „Erfolg“ komplementäre Beschreibung der politischen Entwicklung in Bayern ab. In dem 1927 erstmals erschienenen autobiographischen Roman „Wir sind Gefangene“ [Graf, Oskar Maria, Wir sind Gefangene. Ein Bekenntnis aus diesem Jahrzehnt, München 1927] beschreibt er, wie er aufgrund der Erfahrung des gewaltsamen Niederschlagens der Räterepubliken, die in seiner Wahrnehmung besonders gewaltsam den Arbeiter traf, vom existenzialistisch-nihilistisch gestimmten Bohemien zum politisch engagierten Schriftsteller wurde. Ähnlich wie Feuchtwanger wertet er die Räteherrschaft als trotz aller radikalen Rhetorik harmloses Unternehmen und stellt ihm den blutrünstigen, unverhältnismäßigen Charakter der Liquidierung entgegen. Auch Grafs München-Bild der 20er Jahre stimmt mit dem im „Erfolg“ überein: München sei „in jeder Weise finster und kleinbürgerlich“ und „sicher von allen Städten die provinzlerischste“ [Graf, Oskar Maria, Notizbuch des Provinzschriftstellers Oskar Maria Graf 1932. Erlebnisse – Intimitäten – Meinungen, München 2002 (Erstausgabe Basel u.a. 1932), S. 35f.].

Der heute weitgehend in Vergessenheit geratene, mit Thomas Mann befreundete Kurt Martens sympathisierte bereits im Kaiserreich mit der Sozialdemokratie aus Anti-Wilhelminismus. In seiner 1924 publizierten Autobiographie [Martens, Kurt, Schonungslose Lebenschronik 1901-1923, Wien u. a. 1924] erscheint die Revolution zunächst positiv, da er sich von ihr ehrlich eine soziale und politische Erneuerung erhoffte. Dieses Bild kippt dann aber mit den Räteereignissen, die er als Regiment des Unproduktiven, des Chaos, der Inkompetenz bewertet. Aber auch Martens sieht die Rätephase nicht als blutige Schreckensherrschaft, ihre Träger sind vielmehr lächerlich und unfähig. Die erlebte Geschichte seit 1919 mit Gewalttaten infolge der Liquidierung des Räteregimes, politischen Morden, einer politisierten Justiz, Inflation und Krisen führt Martens zur Wahrnehmung einer Ära des Zerfalls. Da die Republik den Niedergang nicht aufhalten kann, delegitimiert sie sich in seinen Augen, und somit tut dies auch die Idee der demokratischen Volksvertretung. Aus dieser Warte sucht Martens um 1923 nach politischen Alternativen: das national-völkische Lager, eine „Militärdiktatur“ [Ebd., S. 202], jedenfalls aber ein „konservatives Staatswesen“ [Ebd., S. 181.], das Ordnung nach innen und außen schafft.

Bei dem linksliberalen Vernunftrepublikaner Lujo Brentano, dessen Erinnerungen 1930 abgeschlossen wurden, findet sich ebenfalls prononcierte Kritik an der gewaltsamen Beseitigung der Räteherrschaft [Brentano, Lujo, Mein Leben im Kampf um die soziale Entwicklung Deutschlands, Jena 1931]. Insgesamt ist seine Perspektive stark auf die Reichsebene konzentriert. Die im „Erfolg“ thematisierten Ereignisse in Bayern, eine politische Rechtsprechung und das Aufkommen der vaterländischen Bewegung spielen bei Brentano keinerlei Rolle, der Nationalsozialismus wird nicht erwähnt. In Bezug auf die Weimarer Republik insgesamt entwickelt er einen Krisendiskurs, der am Schluss des Textes in der Sorge vor einer „soziale[n] Revolution“ [Ebd., S. 404kulminiert.

Der linksliberale zeitweilige bayerische Justizminister Ernst Müller-Meiningen in den Kabinetten Johannes Hoffmann II und Gustav von Kahr I legte 1923 Revolutionserinnerungen vor [Müller-Meiningen, Ernst, Aus Bayerns schwersten Tagen. Erinnerungen und Betrachtungen aus der Revolutionszeit, Berlin und Leipzig 1923]. Sein Blick auf die Revolutionsphase malt – abweichend vom bisher Gehörten – das Bild einer blutigen Schreckensherrschaft, in der Willkür, Korruption, Chaos und Terror herrschen. Bayern wird dadurch zum „Schandfleck Deutschlands“ und München zur „Kloake.“ [Ebd., S. 32 und S. 84]. Die von ihm selbst verantwortete rechtliche Abwicklung der Revolution rechtfertigt er durch das Postulat einer milden Behandlung der Revolutionäre. Es geht Müller-Meiningen in seinem Text um den Beweis der These, dass ein Sieg des Bolschewismus unmittelbar bevorgestanden und weiterhin gedroht habe. Damit verteidigt er die von ihm selbst mit getragene Ordnungszellen-Politik unter Gustav von Kahr: Sie sei notwendig gewesen zur Wiederherstellung und langfristigen Sicherung der staatlichen Ordnung. Allerdings kritisiert Müller-Meiningen ausdrücklich den ‚Rechtsruck‘ in Bayern seit Ende 1922: Denn er wünschte keine Regierung des national-völkischen Lagers, sondern eine betonter nationale Haltung der legitimen bayerischen und deutschen Regierungen nach außen, nämlich gegen den Versailler Vertrag.

Zeigen diese aus einer linken oder linksliberalen Anschauung entwickelten Geschichtsbilder schon Inkongruenzen, so sollen im Folgenden die als Gegen-Interpretamente zu begreifenden Wortmeldungen nationaler und konservativ gesinnter Autobiographen vorgestellt werden. Zu Wort kommen die Schriftsteller Josef Hofmiller und Thomas Mann, der Physiker Wilhelm Wien und der Nationalsozialist Ernst Röhm.

Der nach dem Krieg zu einem der Protagonisten des national-konservativen Lagers in München geratene Josef Hofmiller lehnte als Monarchist die Revolution als für Bayern nicht gemäßes politisches Ereignis ab. In seinen 1930 erstmals in der Beilage der „Münchner Neuesten Nachrichten“ publizierten Tagebüchern [Hofmiller, Josef, Revolutionstagebuch 1918/19. Aus den Tagen der Münchner Revolution, Leipzig 1938] beschreibt er die Revolution unter Begriffen wie Chaos und Unfähigkeit und die Rätephase als Herrschaft des blutigen Terrors. Weiße Gewalttaten rechtfertigt er als bloße Reaktion auf die Tyrannei der Roten. Als einzig möglicher Ausweg aus Not und Vernichtung und dem angeblich vorherrschenden Bolschewismus spricht er sich im Kontext von Mitte 1919 für die Errichtung einer Militärdiktatur unter Ludendorff aus. Ein Symptom für Bolschewisierung sieht Hofmiller in der künstlerischen Moderne, etwa dem Expressionismus.

In den um 1927 entstandenen Erinnerungen [Wien, Wilhelm, Aus dem Leben und Wirken eines Physikers. Mit persönlichen Erinnerungen von Erich von Drygalski, Carl Duisberg, M. von Frey, Hermann Oncken, F. Paschen, Max Planck, E. Rüchardt, E Rutherford und einem Nachruf von M. v. Laue und E. Rüchardt, Leipzig 1930] des nationalkonservativen Physikers Wilhelm Wien entsteht gleichermaßen der Eindruck eines bolschewisierten und terrorisierten Münchens nach dem Vorbild von Sowjetrussland. Dies sei das Probestück für die äußerst reale Gefahr einer kurz bevorstehenden Bolschewisierung ganz Deutschlands. Wiens Beschreibung des Hitlerputsches drückt die Erwartungen nationaler bürgerlicher Kreise an ihn aus, nämlich die ‚Nationalisierung‘ der Arbeiterschaft und ihre Abwerbung von der Sozialdemokratie. Den Putsch selbst missbilligte er aber, da er eine Intervention der Entente bei Gelingen befürchtete. Insgesamt wird von ihm die Gegenwart der Weimarer Republik mit der Herrschaft des Sozialismus gleichsetzt.

Die nur für 1918 bis 1921 erhaltenen Tagebücher [Mann, Thomas, Tagebücher 1918-1921, hg. von Peter de Mendelssohn, München 1979] Thomas Manns aus der Weimarer Zeit spiegeln noch deutlich die konservative Phase seines Denkens wider, bevor er sich Jahre später öffentlich zur Republik bekannte, nämlich seine Distanz zu einem Demokratieverständnis westlicher Provenienz. Die Revolution und besonders die Rätephase lehnt er als „Unfreiheit“ und „Tyrannei“ ab [Ebd., S. 161f.]. Allerdings erhofft er sich daraus die Entstehung eines genuin deutschen Republikmodells, und zwar eine „soziale Republik“, etwas ‚Neues‘ zwischen Bolschewismus und „westlicher Plutokratie“ [Ebd., S. 74 und S. 100]. Somit plädiert er für die deutsche Sonderrolle, nämlich der zivilisatorischen Aufgabe, ein Bollwerk gegen den Bolschewismus zu bilden. Die Eintragungen bis Ende 1921 zeigen Manns Liebäugeln mit Vorstellungen einer „notwendigen Vereinigung des deutschen Konservativismus mit dem Sozialismus, der die Zukunft gehört und nicht der Demokratie“ [Ebd., S. 369] und die Auffassung eines ideell positiven Kerns völkischen Denkens.

Die 1928 erstmals veröffentlichten Erinnerungen [Röhm, Ernst, Die Geschichte eines Hochverräters, München 1928] des Nationalsozialisten Ernst Röhm zeigen die Rezeption der deutschen Kriegsniederlage als Resultat der Revolution, und somit als ‚Dolchstoß in den Rücken‘ der militärisch angeblich nicht besiegten Armee und letztlich als Verrat an Kaiser und Reich. Sein eigenes Engagement bei den Einwohnerwehren ab 1919 begründet mit einer weiterbestehenden Revolutionsgefahr. Die Ausführungen spiegeln die Auffassung des radikal völkischen Lagers, dass die bayerischen Regierungen den Marxismus geduldet oder aktiv gefördert und nach außen eine zu wenig nationale Linie gefahren hätten wider (‚Erfüllungspolitik‘). Die These von Bayern als Hort der nationalen Bewegung weist Röhm am Beispiel des Hitlerputschs zurück. So erscheint Gustav von Kahr als großer Feind der Völkischen, die er im Putsch verraten habe und somit auch als Verräter am Nationalismus. Röhm postuliert den einzig wahren Nationalismus der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft.

War das nachrevolutionäre Bayern der frühen 20er Jahre also ein ‚reaktionärer‘, stark rechtsgerichteter Staat, der einen Rechtsputsch geradezu herausforderte oder gar begünstigte? Die vorgestellten Autobiographen geben unterschiedliche Antworten – je nach eigner Positionierung erscheint die Linke als marginale Erscheinung, übermenschliche Bedrohung oder schon real herrschende Kraft. Der Hitlerputsch selbst erfährt eine dementsprechende Einordnung: als Beleg für die Vormacht der Linken oder der Rechten. Feuchtwangers Blick auf die bayerische Geschichte stellte – die zeitgenössische Rezeption zeigt es – zum Zeitpunkt des Erscheinens eine Minderheitenposition dar. Seine Geschichtsdeutung erfuhr Kritik von rechter wie linker Seite [Vgl. Lüttig, Gisela, Zu diesem Band, in: Lion Feuchtwanger, Erfolg. Drei Jahre Geschichte einer Provinz, Berlin, 9. Aufl., 2013 (Taschenbuchausgabe), S. 869-878, hier S. 874-876]. Erst in einer von ‚1968‘ geprägten Gesellschaft drehte sich die Rezeption und der Roman wurde für manche zum Inbegriff einer wahrheitsgetreuen Darstellung der Ereignisse.

Quelle: http://histbav.hypotheses.org/3563

Weiterlesen