Das Leben des Gaius Tranquillus Suetonius (Sueton)

Es wurde keine Biographie über Sueton (bürgerlich: Gaius Tranquillus Suetonius) verfasst, seine Lebensdaten lassen sich nur „aus seinen eigenen Werken sowie aus einigen Briefen des jüngeren Plinius erschließen.“1 Laut einer 1953 gefundenen Inschrift ist Sueton zwischen 70 und 75 n. Chr. in Hippo Regius geboren, welches im heutigen Algerien liegt. Er starb um 140 n. Chr.

Sueton hatte durch seinen ritterlichen Familienstand und die guten Verbindungen seines Großvaters und Vaters stets engen Kontakt zum politischen Machtzentrum des römischen Reiches. Dazu kam, dass er mit seiner Familie in Rom wohnte, also unmittelbar im Zentrum des Geschehens des römischen Reiches. Im Jahre 121 n.

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Quelle: http://jbshistoryblog.de/2015/01/das-leben-des-gaius-tranquillus-suetonius-sueton/

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Neuerscheinung: Klaus Seidl, „Gesetzliche Revolution“ im Schatten der Gewalt. Die politische Kultur der Reichsverfassungskampagne in Bayern 1849

Es ist in hier in den letzten Monaten still gewesen − aus Gründen, die bald näher erklärt werden sollen. Es wird auch aus denselben Gründen wohl noch einige Wochen nicht viel geschehen. Allerdings sei versichert: Es geht auch 2015 weiter mit diesem Blog. Einstweilen freue ich mich, hier mitteilen zu können, dass die Dissertation von Klaus Seidl, über dessen Forschungen hier bereits mehrfach berichtet wurde, nunmehr in Buchform vorliegt: SEIDL, Klaus: „Gesetzliche Revolution“ im Schatten der Gewalt. Die politische Kultur der Reichsverfassungskampagne in Bayern 1849, […]

Quelle: http://achtundvierzig.hypotheses.org/811

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Der Majestätsbrief von 1609

Der Dreißigjährige Krieg hatte natürlich eine Vorgeschichte. Diese ist gut bekannt und erforscht, und angesichts der verschiedenen Krisenszenarien wundert sich die Forschung immer ein wenig, daß der Krieg erst 1618 und nicht schon zehn Jahre früher ausgebrochen ist: die Erbfolgekrise am Niederrhein, die Gründung von protestantischer Union und katholischer Liga, der sog. Bruderzwist im Hause Habsburg, damit verknüpft die angespannte Lage im Königreich Böhmen – Pulverfässer gab es genug, letztlich explodierte das böhmische.

Nun ist letztens ein Sammelband zum Majestätsbrief erschienen, den Kaiser Rudolf II. als König von Böhmen erließ. Damit hat er nicht nur weitgehende Religionsfreiheit gewährt, sondern auch einen Konflikt moderiert, der durchaus seine Herrschaft infrage zu stellen gedroht hatte. Was es alles damit auf sich hat, wird in vielen Einzelaufsätzen eingehend vorgestellt. Dass dieser Sammelband die Ereignisse in Böhmen im Jahr 1609 jedoch nicht rückblickend vom böhmischen Aufstand aus betrachtet, macht seine eigentliche Stärke aus. Zu dem Buch habe ich jetzt gerade eine Besprechung in den sehepunkten veröffentlicht.

Der Majestätsbrief von 1609Diese will ich hier nicht nochmals referieren, wohl aber einige Aspekte hervorheben, die eben mit Blick auf den Dreißigjährigen Krieg eine besondere Rolle spielten. Damit will ich gar nicht gegen die Intention und Anlage des Bandes schreiben, der mich sehr überzeugt hat. Aber einige Punkte verweisen eben doch auf die Zeit ab 1618 ff.

So eben die Rolle Kursachsens. Der Beitrag von Jaroslava Hausenblasová zeigt das starke kursächsische Engagement auch im Umfeld der Verhandlungen zum Majestätsbrief. Auf Habsburg hin orientiert und durchweg pfalzkritisch, suchte Kursachsen die Rolle des objektiven Dritten (S. 81). Wichtig erscheint mir der Hinweis, daß die ausgleichende Politik nie das eigene kursächsische Interesse vergaß – insgesamt Stichworte, die auch für die sächsische Politik im Dreißigjährigen Krieg wichtig sind. Erhellend ist auch der Hinweis im Aufsatz von Tomáš Černušák, daß die Kurie bereits damals die Katholische Liga als Instrument zur Stabilisierung der Habsburgerherrschaft ansah und konkret auch zur Sicherung der habsburgisch/katholischen Position in Böhmen (S. 60). Damit war eine Konstellation anvisiert, wie sie dann im böhmischen Feldzug 1620 Wirklichkeit wurde.

Sehr engagiert und meinungsstark ist der Beitrag von Petr Vorel zur Fiskal- und Währungsstrategie der böhmischen Stände (S. 133-140). Er legt den Fokus seiner Betrachtung auf den Landtag 1615 und bewegt sich damit in der Phase, als die Regelungen des Majestätsbriefs politische Realität waren. Entgegen der landläufigen Auffassung wertet Vorel die Ergebnisse dieses Landtags als Erfolg für die böhmischen Stände, die hier die Kontrolle über das Kreditwesen im Land erlangten. Damit waren sie in der Lage, in Krisenzeiten deutlich leichter finanzielle Ressourcen zu ihren Gunsten mobilisieren zu können – fraglos eine wichtige Grundlage für die Voraussetzungen und den Verlauf des böhmischen Aufstands.

Der Sammelband bietet sicher noch mehr Anregungen als die wenigen Stichworte hier. Alle Beiträge sind auf Deutsch erschienen, und doch wird immer wieder erkennbar, daß es lohnenswert sein würde, Tschechisch zu lernen – es gibt, das macht der Blick in die Fußnoten deutlich, sehr viel einschlägige Literatur in dieser Sprache.

Quelle: http://dkblog.hypotheses.org/583

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22. Richtige und falsche Theorie

Willkommen im neuen Jahr. Ich habe Sie bereits erwartet. Ich wünsche Ihnen alles Gute und viel Erfolg bei Ihrer Promotion oder Ihrer "gleichwertigen Tätigkeit". Dieselben Worte würde ich gerne auch an meine steinernen Vorbilder richten, aber sie scheinen mich aus irgendeinem Grund zu meiden, fixieren lieber völlig zufällig einen Punkt in der Ferne, als meinen geneigten jahresanfänglichen Blick zu erwidern. Wahrscheinlich haben sie wieder einen Detektivclub gegründet, oder ähnliches. Wissen Sie, oder aber es liegt an diesem Blog hier. Aber das ist mir gleich, denn ich habe sehr gute Gründe dafür, ihn zu schreiben. Theoretisch. Ich erzähle Ihnen gerne bald mehr über meine Beweggründe, möchte aber rhababer gerade lieber biber noch einmal auf eines der Vorurteile gegen Geisteswissenschaftlerinnen und Geisteswissenschaftler eingehen, die so in den Kaffeehäusern der politikafinen Bonvivants kursieren: Die Mär von der Theorieversessenheit.

Sie, liebe Leser, haben nämlich einmal mehr, als Sie an Ihren Theorien gefeilt haben, den Bezug zu Wirklichkeit verloren. Denn was Sie tun, "ha, ja, in der Theorie mag das ja stimmen" aber "in Echt" sieht das nochmal ganz anders aus.

Woher kommt so ein Spruch? Ich sage es Ihnen: Theorie oder Theoretiker zu sein, bedeutet ja mindestens vier verschiedene Dinge. Nur eines davon trifft diese Kritik.

Erstens bedeutet Theorie ja, ein Konzept zu erarbeiten. Eine Maschine oder der Masterplan wird zunächst theoretisch konstruiert und muss sich dann in der Realität bewähren und anhand der realen Bedingungen nachjustiert werden. Sollten Geisteswissenschaftler diese Art der Theorie betreiben, wäre es schlecht um uns bestellt. Man könnte unsere Fächer auch Besserwisserschaften nennen, da sie ein reines Konstrukt des Gutdünkens wären, ohne irgendeine Absicht der weiteren Prüfung an der Wirklichkeit. Zug an der Zigarette: "Ich studiere Besserwisserei. Und wenn alles so klappt, wie ich mir das vorstelle, möchte ich in die Forschung".

Zweitens bedeutet Theorie Abstraktion. Sie sehen etwas, oder sammeln ganz viele empirische Daten zu etwas und formulieren eine Theorie, wieso das so oder so sei. Weil die Daten so umfassend sind, picken Sie sich aber nur einige Elemente heraus und arbeiten damit. Theorie ist hier eine Verengung der Realität. auch als Wissenschaftler mit langjähriger Erfahrung soziologischer Sachverhalte, werden Sie auf Menschen treffen, die die sozialen Mechanismen besser durchdringen und verwenden können als Sie, ohne dass diese Leute aber genau sagen können, warum das so sei. Die Theorie zu kennen, bringt dann z. B. keine persönlichen Vorteile (worum es aber natürlich auch nicht geht).

Drittens bedeutet Theorie aber auch etwas ganz besonderes: Der Umgang mit Dingen, die eine ganz eigene Daseinsform haben. Was ich damit meine? Folgendes: Die Theorie dessen, was Irrationale Zahlen sind, kann nicht anhand einer empirischen Realität geschärft werden (sondern nur dessen Anschaulichkeit). Dasselbe gilt für viele Sachverhalte und Entitäten wie: Die Prinzipien der klassischen Logik (z. B. des Satzes des ausgeschlossenen Widerspruchs), die Definition von Wahrheit (Identität), das Sein, die Bewegung, der Stillstand oder das, was Einheit ist, etc.

Viertens bedeutet Theorie, eine Sache wahrheitsgemäß zu verstehen.
All diesen Arten von Theorien vorzuwerfen, sie seien nicht wirklichkeitstauglich, ist natürlich lächerlich. Die genannte Kritik trifft in erster Linie die erste Theorie als Konzept. Damit haben wir aber herzlich wenig zu tun. So. Und jetzt?

Und jetzt nichts. Außer dass sie mir gerne sagen können, auf welche weiteren Sachverhalte diese dritte Art der Theorie Anwendung findet, denn das ist keine leicht zu beantwortende Frage. Auf ethische Prinzipien? Gibt es diese und wenn ja in welcher Form? - Jedenfalls: Dieser Theorie ist es eigen, keinen weiteren Zweck zu verfolgen, als die Erkenntnis ihrer selbst. Ok? Ok.

Interessant wäre es jetzt natürlich zu sehen, zu welcher der drei Bedeutungen von Theorie dieser Eintrag gehört.

Ich wünsche Ihnen eine gute Woche aus der Zukunft.

D.

Quelle: http://philophiso.hypotheses.org/414

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Resilienz als diskursive Formation: Was das neue Zauberwort für die Wissenschaft bedeuten könnte

Ein Versprechen geht um in den Korridoren zwischen den akademischen Disziplinen: Resilienz. Geschlüpft Anfang der 1970er Jahre bei den Ökologen, wenig später aufgenommen, gehegt und gepflegt bei den Entwicklungspsychologen und dann still und heimlich aufgebrochen zu den Sozialwissenschaftlern (vgl. Endreß/Maurer 2015). Resilienz: ein „buzzword“ (Walker 2013), das Natur- und Gesellschaftsforscher zusammenbringen, den Elfenbeinturm öffnen und der Wissenschaft dabei zugleich helfen soll, das zu bekommen, was man gerade selbst untersucht. Das Lateinwörterbuch bietet für „resilire“ drei sinnvolle Übersetzungen an: abspringen, schrumpfen und zurückprallen. Im Englischen ist daraus „resilience“ geworden (Belastbarkeit, Elastizität, Durchhaltevermögen). Kleinster gemeinsamer Nenner: etwas ohne Schaden überstehen können. Ganz folgerichtig steht Resilienz längst in den Lebenshilfe-Regalen (vgl. Berndt 2013), gleich daneben in der Abteilung mit den großen Welterklärern (vgl. Zolli/Healy 2013) und inzwischen hin und wieder auch in den Leitmedien, obwohl Latein dort eigentlich tabu ist.

„Ein neues Wort“, titelte die Frankfurter Allgemeine Zeitung Ende 2013. Unter dieser Überschrift ging es dann aber nicht um irgendeine Sprachschöpfung, sondern um Resilienz als Alternative zum Konzept der Nachhaltigkeit. Achtung, Kursänderung: Nicht mehr den Status quo erhalten wollen, sondern mit dem Scheitern rechnen und mit dem Unerwarteten. „Gefährdungen und Verlustängste“ thematisieren und so „alle Bürger“ aktivieren (und nicht nur „wenige Ordnungshüter“). „Was, wenn es für ‚Nachhaltigkeit‘ schon zu spät ist?“ FAZ-Autor Robert Kaltenbrunner sprach von einem „Zauberwort“ und einer „Art Modebegriff“ und lieferte gleich eine eigene Übersetzung mit. Resilienz bedeute „so viel wie Unverwüstlichkeit, Zuverlässigkeit und Widerstandsfähigkeit“ – alles Dinge, die jeder haben möchte und kaum jemand schlechten finden kann. Kaltenbrunner erzählte dann vom Flughafen München, der Anfang 2010 kollabierte, als ein Reisender mit Laptop träumend durch die Sicherheitskontrolle lief, von Bienenvölkern, die „im Zuge der Evolution“ gelernt hätten, „dank ausgeklügelter Arbeitsteilung“ zu überleben, und von der „Überschwemmungskultur“ im vormodernen Europa, in der große Wassermengen „eher Alltag als Ausnahmezustand“ gewesen seien. Resilienz: Lernt von den Bienen und von Menschen, die sich im Zustand der Bedrohung eingerichtet haben. Baut mehr „Sicherheitsstufen“ ein. Übersteht „antizipierte Schäden“ – indem ihr „schnell wieder den Ursprungszustand“ erreicht („Stehauf-Strategie“) oder weil ihr in der Lage seid, „interne Strukturen zu verändern und einen konstanten Zustand der Anpassungsfähigkeit zu kultivieren“ (Kaltenbrunner 2013).

Bienenvölker, das Leben am Fluss, Mobilität: Resilienz ist erwachsen geworden und könnte eine Universalmedizin werden – eine Reaktion auf die Erfahrung, dass das Prinzip Nachhaltigkeit nach ein paar Jahrzehnten Gebrauch an Strahlkraft verloren hat und dass es eine Illusion ist, den Ist-Zustand bewahren zu wollen und nicht mehr zu verbrauchen als nachwächst oder wieder bereitgestellt werden kann (die ursprüngliche Bedeutung von Nachhaltigkeit, vgl. Grunewald/Kopfmüller 2006). Sich ändern, um zu überleben: Was passt besser in eine Welt, in der alles mit allem zusammenzuhängen zu scheint und niemand wirklich weiß, was der nächste Tag bringt?

Wie Nachhaltigkeit und jeder andere Begriff, mit dem man Gesellschaft beschreiben, untersuchen oder sogar Ziele vorgeben kann, hat allerdings auch Resilienz Implikationen (das ist die erste These dieses Beitrags), die man sich bewusst machen sollte und die weit über den Vorwurf hinausgehen, man dürfe Konzepte aus den Naturwissenschaften nicht einfach auf soziale Phänomene übertragen (Cannon/Müller-Hahn 2010: 623). Diese Implikationen reichen von der Absage an die Idee, menschliches Zusammenleben sei plan- oder steuerbar, über eine Tendenz zur Stabilität und einen Optimierungsfetischismus bis hin zu normativen Entscheidungen: Was genau bedroht eine soziale Einheit (ein Individuum, eine Organisation, eine Gemeinschaft, ein Funktionssystem) und welche Funktionen dieser Einheit sind es wert, in jedem Fall erhalten zu werden? Dass es sich lohnt, solche Implikationen der diskursiven Formation Resilienz zu diskutieren, hat einen einfachen Grund, der zur zweiten These dieses Beitrags führt: Die Befunde der Resilienzforschung sind stets Werbung für die Wissenschaft. Anders ausgedrückt: Wissenschaft hat ein starkes Interesse, Resilienz tatsächlich zu einem gesellschaftlichen Leitbegriff zu machen. Dies hätte, so lässt sich dieser Beitrag zusammenfassen, Folgen nicht nur für die Wissenschaft (für ihren Blick auf Gesellschaft genauso wie für ihre Methoden), sondern auch für die Politik. In der Entwicklungspsychologie zum Beispiel hat der Siegeszug des Resilienzkonzepts sowohl die Prävention als auch die Behandlung von Heranwachsenden erheblich verändert und der „Positiven Psychologie“ den Rang eines Alternativ-Paradigmas beschert (vgl. Masten 2001: 34f.).

Implikationen des Resilienzbegriffs

Egal welches der drei Herkunftsgebiete man sich anschaut: Resilienz beschreibt die Fähigkeit, unter widrigen äußeren Bedingungen oder in Krisenzeiten stabil zu bleiben und die jeweilige Funktionalität zu erhalten. Das gilt in der Werkstoffphysik für Materialien, die man ohne Folgen zusammendrücken oder dehnen kann (etwa Gummi), in der Umweltwissenschaft für Ökosysteme und in der Psychologie für Menschen (vgl. Maier 2014, Folke et al. 2010, Masten 2001). Um dies nur mit sechs wichtigen Definitionen zu belegen (vgl. Brand/Jax 2007):

  • „measure of the persistence of systems and their ability to absorb change and disturbance and still maintain the same relationships between populations or state variables“ (Holling 1973: 14);
  • the „capacity of a system to absorb disturbance and re-organize while undergoing change so as to still retain essentially the same function, structure, identity and feedbacks“ (Walker et al. 2004: 4);
  • „the ability of groups or communities to cope with external stresses and disturbances as a result of social, political, and environmental change” (Adger 2000: 347);
  • „the ability of the system to withstand either market or environmental shocks without losing the capacity to allocate resources efficiently“ (Perrings 2006: 418);
  • „the ability of a social system (society, community, organization) to react and adapt to abrupt challenges (internal or external) and/or to avoid gradually drifting along destructive slippery slopes“ (institutional resilience, Aligica/Tarko 2014: 56);
  • „the capacity of a system, enterprise, or a person to maintain its core purpose and integrity in the face of dramatically changed circumstances“ (Zolli/Healy 2013: 7).

Natürlich: Wie die jüngeren Definitionen zeigen, sind nicht einmal die Ökologen bei der Ausgangsformel von Crawford Holling (1973) stehengeblieben. Hollings Persistenz wurde durch Anpassung und Transformation ergänzt („adaptive cycle“, Keck/Sakdapolrak 2013: 7) – eine Folge der Übertragung des Begriffs auf soziale Systeme und seines Potenzials, die Norm Nachhaltigkeit abzulösen. Für diese Ausweitung stehen die vielen Adjektive, die in Verbindung mit Resilienz inzwischen verwendet werden (etwa: personal, organisational, institutionell, sozial), und eine Debatte, in der eine klare Trennung gefordert wird – ein operationalisierbarer Begriff für die Umweltwissenschaft auf der einen Seite („descriptive concept“) und ein Kommunikationsmittel für den interdisziplinären Dialog sowie für den Austausch zwischen Forschung und Praxis auf der anderen („boundary object“, vgl. Brand/Jax 2007).

Trotzdem: Am Kern des Begriffs ist nicht gerüttelt worden. Wer von Resilienz spricht, hat erstens eine Bedrohung im Sinn. Diese Bedrohung kann von außen kommen, von innen oder aus beiden Richtungen gleichzeitig, sie kann sich langsam entwickeln oder plötzlich (als Schock), man kann vorher von ihr gewusst haben oder überrascht worden sein: Es wird immer eine Bedrohung vorausgesetzt sowie die Notwendigkeit, darauf reagieren zu können. Damit unterscheidet sich Resilienz grundsätzlich von Konzepten sozialen Wandels, die den Zielzustand entweder kennen (Revolution) oder sogar irgendwo auf der Welt schon gefunden haben (in den 1960er Jahren zum Beispiel Modernisierung für Afrika und Asien sowie in den 1990ern Transformation für Osteuropa) und damit wie Nachhaltigkeit einen komplexen Bewertungsmaßstab mitliefern (so sollte die Welt aussehen oder so sieht sie schon aus). Zugespitzt formuliert: Wird Resilienz zum Leitgedanken gesellschaftlicher Entwicklung, dann ist (anders als bei Revolution, Transformation oder Modernisierung) jede Ankunft ausgeschlossen. Zum einen weiß man nicht, wann und wie sich die Umstände ändern (nur dass sie sich ändern, scheint unausweichlich), und zum anderen können Personen oder soziale Systeme gegenüber manchen Bedrohungen resilient sein und gegenüber anderen nicht. Möglicherweise führt sogar die Stärkung des einen Bereichs zur Schwächung eines anderen (vgl. Walker 2013).

Für die Forschung bedeutet das zweitens: Man muss zunächst die Funktion(en) bestimmen, die (zum Beispiel) ein soziales Funktionssystem für die Gesellschaft hat oder ein Unternehmen für seine Mitarbeiter, für eine Region, für den Wirtschaftszweig, für die Volkswirtschaft oder für andere Systeme, dann nach Schwachstellen von System oder Unternehmen suchen und dort schließlich nachbessern: „identifying its potential sources of vulnerability, determining the directonality of ist feedback loops, mapping ist critical thresholds, and understanding, as best as we can, the consequences of breaching them“ (Zolli/Healy 2013: 260).

Wer nach Verwundbarkeit fragt, nach Schwellenwerten und nach den Folgen des Überschreitens, der verliert den Alltag und die ‚Normalität‘ aus dem Blick. Um das am Beispiel des Systems Massenmedien zu illustrieren: Resilienzforschung würde hier und heute sicher Alternativen zur Werbefinanzierung vorschlagen (etwa: Crowdfunding, Stiftungsmodelle, Bürgerreporter, Social Media) sowie Einrichtungen, die Vielfalt, Offenheit und Partizipation sichern, aber nicht mehr die aktuelle Berichterstattung untersuchen und vermutlich auch nicht die Beziehungen zwischen Medien, Politik und Wirtschaft. Wichtig wäre nur noch, dass das System weiter existiert und zur Meinungs- und Willensbildung beitragen kann (wenn das denn die Funktion ist), und nicht, wie genau dieser Beitrag eigentlich aussieht. Resilienzforschung beginnt mit der Annahme, dass die jeweilige soziale Einheit ihre Funktion(en) im Moment erfüllt, und möchte, dass dies auch in Zukunft so bleibt.

Nimmt man die Punkte eins und zwei zusammen (die Bedrohung von außen und die Suche nach Schwachstellen, die auch in eine Betonung der Stärken umschlagen kann), dann konzentriert sich Resilienzforschung (wie gerade schon angedeutet) drittens auf Systemerhalt und Überleben. Brian Walker (2013), einer der Pioniere im Feld und Chef der einflussreichen Resilience Alliance in Stockholm, behauptet zwar, das Konzept sei für sich genommen weder „gut“ noch „schlecht“, aber das ist erkennbar Taktik, weil natürlich auch Diktaturen oder Salzlandschaften resilient sein können (das sind die beiden Beispiele, die Walker nennt). Sein Vorschlag, die Resilienz solcher Systeme zu verringern, geht am Problem vorbei. Die Literatur zeigt, dass Resilienzforschung sehr wohl von Krankheitserregern, Kriminellen oder Terroristen lernt (zum Beispiel von Netzwerken, denen ein einziger großer Anschlag genügt hat, um den Feind jahrelang in Atem zu halten, und die sich manchmal sogar darauf beschränken können, eine Aktion anzukündigen, vgl. Zolli/Healy 2013). Und: Wer wollte entscheiden, welche sozialen Einheiten wertvoll sind und welche nicht? Das Resilienzkonzept weiß damit doch, was gut ist und was schlecht, und konzentriert sich auf das, was beim Überleben hilft. Selbst Katastrophen sieht man durch diese Brille nicht mehr schwarz, sondern als Gelegenheit zum Lernen (vgl. Keck/ Sakdapolrak 2013: 9).

Eine Bedrohung ausmachen oder antizipieren, Schwächen schwächer und Stärken stärker machen und so die Existenz sichern: Alle oben genannten Definitionen zielen auf Verbesserung und damit (das ist eine vierte Implikation des Begriffs) auf Messbarkeit, egal ob es um allgemeine Resilienz geht (die Fähigkeit eines Systems, sehr verschiedene Bedrohungen auszuhalten und trotzdem in allen Aspekten weiter zu funktionieren, Walker 2013) oder sehr konkrete Bedrohungen. Bei Holling (1973: 14) wird diese Implikation nicht verschleiert („measure“), aber auch „ability“ oder „capacity“ rufen nach Quantifizierung. Die Frage nach der Resilienz einer sozialen Einheit erlaubt keine philosophische Antwort und offenkundig nicht einmal eine, die sich auf Material stützt, das mit qualitativen sozialwissenschaftlichen Methoden erhoben wurde. „There are no absolutes in resilience, no binaries, just measures of more or less” (Zolli/Healy 2013: 260). Dieser Fokus auf Zählen und Rechnen lässt sich leicht über die Herkunftsdisziplinen erklären. Quantifizierung wird sowohl bei Ingenieuren groß geschrieben, die sich mit Materialeigenschaften beschäftigen, als auch bei Ökologen und Psychologen. Kein Text zur Resilienz, der nicht Crawford Holling nennt oder Brian Walker. Zieht das Konzept in die Sozial- und Geisteswissenschaften ein, stärkt dies neben den drei Ursprungsdisziplinen zugleich die Position der Naturwissenschaften und ihres Wissenschaftsideals.

Bevor es soweit kommt, hat qualitative Forschung Konjunktur. Wer sonst soll die Grenzen von sozialen Einheiten bestimmen, ihre Funktionen ausmachen (sowohl empirisch als auch normativ) und (vorhandene oder potentielle) Bedrohungen ermitteln? Um zum Beispiel Mediensystem zurückzukommen: Die Debatte über ‚Entgrenzung‘ läuft hier längst (vgl. Neuberger 2009, Karidi 2014). Heißt das soziale Funktionssystem Journalismus, Publizistik oder Öffentlichkeit? Was ist mit Public Relations und was mit den sozialen Medien? Und bedrohlich sind keineswegs nur das Ende des herkömmlichen Werbemarkts, das vollkommen veränderte Nutzungsverhalten oder die Gegenöffentlichkeiten im Internet und auf der Straße (Stichwort Medienkrise). Der Erfolg der Handlungslogik, nach der die Massenmedien arbeiten („Aufmerksamkeit, Aufmerksamkeit, Aufmerksamkeit“, Meyen 2015), frisst das System – von außen, weil der Ausbau und die Professionalisierung von PR und Medientraining in nahezu allen sozialen Funktionssystemen auch mit Medienpersonal vorangetrieben werden, und von innen, weil Medialisierung so die Recherchemöglichkeiten verändert, die Ressourcen, den Arbeitsalltag sowie das Selbstverständnis von Journalisten und damit letztlich die Möglichkeiten zur Meinungs- und Willensbildung (vgl. Meyen 2014). Resilienzforschung identifiziert hier zunächst System(e), Funktion(en) und Bedrohung(en) und bereitet so nicht nur den Boden für Anpassung und Transformation (aus dem System selbst oder politisch angestoßen), sondern möglicherweise auch für ‚Messungen‘ der Resilienz.

Resilienz als Werbung für die Wissenschaft

Natürlich könnte man sagen: Für die Wissenschaft insgesamt wäre mehr Naturwissenschaft doch gar nicht schlecht. Fakten, Fakten, Fakten. Das, was eine datenhungrige Tempo-Gesellschaft verlangt. Eindeutige Antworten auf die Angst vor Bedrohungen aller Art. Selbst als Fernziel hilft das Resilienzkonzept der Wissenschaft. Das beginnt mit dem Begriff selbst. Während sich jede Hausfrau etwas unter Nachhaltigkeit vorstellen konnte, braucht sie für Resilienz in der Regel einen Übersetzer. Wissenschaft kann nicht nur Begriffe erklären, sondern auch Bedrohungen benennen. Worauf genau Politiker, Führungskräfte oder wir selbst uns vorbereiten werden und was wir glauben, dabei verändern zu müssen, hängt davon ab, was im Diskurs als Bedrohung und Systemfunktion ausgemacht wird. Das wertet wissenschaftliches Wissen gegenüber anderen Wissensformen auf (etwa: Religion, Tradition). Wissen ist Macht, vor allem wenn es Resilienz verspricht.

Das wichtigste Argument für den Ausbau wissenschaftlicher Forschung (an Universitäten und darüber hinaus) ist das, was bisher herausgekommen ist auf der Suche nach der Resilienz, auch wenn sich die Befunde auf den ersten Blick zu widersprechen scheinen. So heißt es bei Andrew Zolli und Ann Marie Healy (2013) nach einem Gewaltritt durch die Literatur:  Was in einer Organisation funktioniere, könne in einer anderen schief gehen (S. 259), und wo ein System als dezentrales Netzwerk mit Einheiten, die sich selbst koordinieren, gute Erfahrungen mache, könne ein anderes genau das Gegenteil erleben – positive Clustereffekte (S. 93). Einen Imperativ gibt es im Schlusswort dann aber doch (S. 261): „Surprisingly few communities or organizations have any kind of structure in place to think broadly and proactively about the fragilities and potential disruptions that confront them. This has to change.”

Breit und kritisch denken, Wissen gegen den Strich bürsten, dabei in Bereiche vordringen, die keinen schnellen Gewinn bringen, und Dinge vorwegnehmen, die heute noch niemand sieht: Wer wäre dafür prädestiniert, wenn nicht die Wissenschaft? Armin Reller und Heike Holdinghausen (2014), die an eine Zukunft „nach dem Öl“ glauben und dafür Stoffgeschichten aufgeschrieben haben (etwa: Raps und Lein, Weizen und Holz, Eisen, Gallium und Abfall), legitimieren ihr Buch damit, dass man leichter an „resilienten Technologien und Verhaltensweisen“ arbeiten könne, wenn man die „Geschenke des Planeten“ kenne (S. 8, 17). Wissen für die Zukunft. Und wenn Bernd Sommer und Harald Welzer (2014) „Transformationsdesign“ sagen, meinen sie eigentlich: Jemand muss sagen, wo es hingehen soll, wenn der Überfluss zu Ende ist und auch der Letzte begriffen hat, dass wir in „struktureller Nicht-Nachhaltigkeit“ leben („Klima, Krisen und Katastrophen“, S. 27-37). Transformation besser „by design“ als „by disaster“ (S. 11). Wissenschaft als „Mittel zur Wiederherstellung und Aufrechterhaltung von Widerstandsfähigkeit“ und als „Resilienzgenerator“ (S. 116). Resilienz: Das heißt auch, die Dinge in die Hand zu nehmen und nicht auf den Zusammenbruch zu warten. Wissenschaft ist ein Resilienzgewinner und wird dieses Konzept schon deshalb vorantreiben.

Literaturangaben

  • Neil Adger: Social and ecological resilience: Are they related? In: Progress in Human Geography Vol. 24 (2000), S. 347-364.
  • Paul Dragos Aligica, Vlad Tarko: Institutional resilience and economic systems: Lessons from Elinor Ostrom’s work. In: Comparative Economic Studies Vol. 56 (2014), S. 52-76.
  • Christina Berndt: Resilienz: Das Geheimnis der psychischen Widerstandskraft. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 2013.
  • Fridolin Simon Brand, Kurt Jax: Focusing the meanings of resilience: Resilience as a descriptive concept and a boundary object. In: Ecology and Society (online) Vol. 12(1) (2007): 23.
  • Terry Cannon, Detlef Müller-Hahn: Vulnerability, resilience and development discourses in context of climate change. In: Natural Hazards Vol. 55 (2010), S. 621-635.
  • Martin Endreß, Andrea Maurer: Resilienz im Sozialen. Wiesbaden: VS-Verlag 2015.
  • Carl Folke et al.: Resilience thinking: Integrating resilience, adaptability and transformability. Ecology and Society (online) Vol. 15(4) (2010): 20.
  • Armin Grunewald, Jürgen Kopfmüller: Nachhaltigkeit. Frankfurt am Main: Campus 2006.
  • Crawford Holling: Resilience and stability of ecological systems. In: Annual Review of Ecology and Systematics Vol. 4 (1973), S. 1-23.
  • Robert Kaltenbrunner: Ein neues Wort: „Resilienz“. Was, wenn es für „Nachhaltigkeit“ schon zu spät ist? In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 258 vom 6. November 2013, S. N3.
  • Maria Karidi: Dinosaurier, Journalismus und Resilienz. In: Resilienz (online) 2014. http://resilienz.hypotheses.org/239 (12. Januar 2015).
  • Markus Keck, Patrick Sakdapolrak: What is social resilience? Lessons learned and ways forward. In: Erdkunde Vol. 67(1) (2013), S. 5-19.
  • Simone Maier: Der Resilienzbegriff in der Wirtschaftskommunikation. Masterarbeit. Universität München: Institut für Kommunikationswissenschaft und Medienforschung 2014.
  • Ann S. Masten: Ordinary Magic. Resilience Processes in Development. In: American Psychologist Vol. 56(3) (2001), S. 227-238.
  • Michael Meyen: Medialisierung des deutschen Spitzenfußballs. Eine Fallstudie zur Anpassung von sozialen Funktionssystemen an die Handlungslogik der Massenmedien. In: Medien & Kommunikationswissenschaft 62. Jg. (2014), S. 377-394.
  • Michael Meyen: Aufmerksamkeit, Aufmerksamkeit, Aufmerksamkeit. Eine qualitative Inhaltsanalyse zur Handlungslogik der Massenmedien. In: Publizistik 60. Jg. (2015), Nr. 1 (im Druck).
  • Christoph Neuberger: Internet, Journalismus und Öffentlichkeit. Analyse des Medienumbruchs. In: Christoph Neuberger, Christian Nuernbergk, Melanie Rischke, Melanie (Hrsg.): Journalismus im Internet: Profession – Partizipation – Technisierung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2009, S. 19-105.
  • Charles Perrings: Resilience and sustainable development. In: Environment and Development Economics Vol. 11 (2006), S. 417-427.
  • Armin Reller, Heike Holdinghausen: Der geschenkte Planet. Nach dem Öl beginnt die Zukunft. Frankfurt am Main: Westend Verlag 2014.
  • Bernd Sommer, Harald Welzer: Transformationsdesign. Wege in eine zukunftsfähige Moderne. München: oekom verlag 2014.
  • Brian Walker: What is Resilience? Project Syndicate, 5. Juli 2013. (7. Januar 2015).
  • Brian Walker, Crawford Holling, Stephen Carpenter, and Ann Kinzig: Resilience, adaptability and transformability in social-ecological systems. In: Ecology and Society (online) Vol. 9(2) (2004): 5
  • Andrew Zolli, Ann Marie Healy: Resilience: Why Things Bounce Back. New York: Simon & Schuster Paperbacks 2013.

Empfohlene Zitierweise

Michael Meyen: Resilienz als diskursive Formation. Was das neue Zauberwort für die Wissenschaft bedeuten könnte. In: Resilienz (online) 2015. http://resilienz.hypotheses.org/365 (Datum des Zugriffs)

Quelle: http://resilienz.hypotheses.org/365

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Nur wenig gerettet – Jahresrückblick Kulturgut 2014

In Archivalia habe ich 2014 über 130 Beiträge in der Kategorie Kulturgut veröffentlicht. Die Schwerpunkte möchte ich auch hier vorstellen.

Zersplitterung historischer Sammlungen

Unfassbar war für mich, dass das Regierungspräsidium Stuttgart der unter Fideikommissschutz stehenden Hofbibliothek Sigmaringen erlaubte, 17 Inkunabeln und andere wertvolle Bücher bei Sotheby's versteigern zu lassen. Leider hat nur die Lokalpresse (Schwäbische Zeitung vom 5. Juni 2014) über meinen Protest berichtet.

Aus dem auf der Liste der national wertvollen Archive stehenden Archiv der Freiherren von Gemmingen in Fränkisch Crumbach wurde ein der Forschung nicht bekanntes "Kraichgauer Turnierbuch" im März 2014 bei Stargardt versteigert. Es behält seinen Schutz nach dem Gesetz nun als Einzelstück. Meine Berichterstattung wurde angegriffen.

Die LA Law Library hat ihre Inkunabeln und alten Drucke versteigern lassen. Die New York City Bar Association tat das Gleiche mit ihrer juristischen Forschungssammlung.

Hinweisen möchte ich auch auf eine Meldung über den skandalösen Umgang der kanadischen Regierung mit naturwissenschaftlichen Forschungsbibliotheken.

Museumsverkäufe

Obwohl Kunsthistoriker und Museumsdirektoren gegen die Versteigerung von Warhol-Werken aus mittelbarem NRW-Landeseigentum protestierten, wurde diese durchgezogen. Der Verkauf der Kunstsammlung der Portigon, zu der auch mittelalterliche Werke (als dauerleihgabe in Museumsbesitz) gehören, ist zu befürchten.

In England warnte der Museumsverband aus Anlass der Versteigerung einer ägyptischen Staue vor verantwortungslosem "Deaccessioning".

Gefährdete Kulturgüter im Nahen Osten

Wiederholt wurden - vor allem anhand der detaillierten Berichterstattung in Rainer Schregs Weblog Archaeologik - die Gefährdungen von unersetzlichen Kulturgütern insbesondere durch die Bürgerkriege in Syrien und im Irak thematisiert, aber auch die dubiose Rolle des Antikenhandels. "Schließt die Antikenabteilungen der Auktionshäuser!", forderte Wolfgang Bauer auf ZEIT ONLINE.

Denkmalschutz

Mehrfach wurde das "Frustschloss" Reinhardsbrunn in Thüringen angesprochen. Das Land prüft eine Enteignung.

Causa Stralsund

Zur Rückkehr eines Kepler-Bands in das Stadtarchiv Stralsund sind die Kommentare zu meinem Eintrag in diesem Blog "585 Bücher der Stralsunder Archivbibliothek fehlen - der Kepler-Band wird jetzt in New York für eine Viertelmillion Dollar angeboten" zu beachten.

Causa Girolamini

Die Machenschaften von Massimo de Caro, der in Italien nicht nur die Girolamini-Bibliothek in Neapel plünderte, erschütterten weiter den Antiquariatshandel. Herbert Schauer, ehemaliger Geschäftsführer von Zisska und Schauer in München, wurde in erster Instanz in Italien zu fünf Jahren Haft verurteilt, zugleich aber aus der Haft entlassen.

Causa Gurlitt

Seit dem November 2013 beschäftigt der Kunstbesitz von Cornelius Gurlitt die Kunstwelt. Das Berner Kunstmuseum erklärte im November 2014, das Erbe Gurlitts antreten zu wollen.

Gerettet: Der Iffland-Nachlass

Die Korrespondenzbücher August Wilhelm Ifflands kehrten im März 2014 nach Berlin zurück.

Quelle: http://kulturgut.hypotheses.org/422

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Fotografie, Staat und Öffentlichkeit: Signal Corps-Fotografien im und nach dem Zweiten Weltkrieg

Camp Robinson, Arkansas: Photographic Unit with machine gunners in the 162nd Signal Photographic Company area. 11 June 1942, NARA 111-SC-138630

ARCHIV-AUGUST 2022

Die Visual History-Redaktion nutzt den Monat August, um interessante, kluge und nachdenkenswerte Beiträge aus dem Visual History-Archiv in Erinnerung zu rufen. Für die Sommerlektüre haben wir eine Auswahl von acht Artikeln getroffen – zum Neulesen und Wiederentdecken!

(4) Und auch der nächste neu oder wieder zu entdeckende Beitrag aus dem Archiv beschäftigt sich mit Kriegsfotografie. Moderne Kriege werden nicht nur auf dem Schlachtfeld ausgetragen, sondern auch in der Öffentlichkeit. Viele Staaten haben sich mit der Einrichtung von Nachrichtentruppen ein Instrument geschaffen, die Produktion und Verbreitung von Kriegsinformationen selbst in die Hand zu nehmen. Unsere Abteilungsleiterin Annette Vowinckel hat sich die Geschichte der Foto-Einheiten des US-amerikanischen Signal Corps angesehen.

Der Artikel erschien am 12.

[...]

Quelle: https://visual-history.de/2022/08/18/fotografie-staat-und-oeffentlichkeit-signal-corps-fotografien-im-und-nach-dem-zweiten-weltkrieg/

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Besprechung der Wiener Velázquez-Ausstellung im Frühneuzeit-Info-Blog

Andreas Plackinger hat für das Weblog der Frühneuzeit-Info die noch bis Mitte Februar im Wiener Kunsthistorischen Museum gezeigte Velázquez-Ausstellung besucht und eine Besprechung verfasst, die auch einige Kritikpunkte anzumelden hat.

Sein Fazit:
Derartige Unterlassungen und die nicht immer glückliche Hängung lassen zuweilen den Verdacht aufkommen, die Kuratorin habe sich mit Velázquez schwer getan, ganz so, als hätte es an der rechten Begeisterung für diesen Künstler gefehlt. Nichtsdestoweniger bleibt es eine verdienstvolle Leistung der OrganisatorInnen, Velázquez mit einer umfangreichen monographischen Ausstellung erstmals im deutschsprachigen Raum gewürdigt zu haben.

Quelle: http://adresscomptoir.twoday.net/stories/1022386280/

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33. Europas Werte und das Paradox der Aufklärung

Gefahr von außen?europa

Jetzt liegen sie in ihren Särgen, die 17 Opfer der Anschläge von Paris. Jetzt sind sie zur Strecke gebracht, die Mörder dieser 17 Menschen, die mit erschreckender Kaltblütigkeit und Konsequenz ihre Anschläge durchgeführt haben. Jetzt finden sie statt, die Kundgebungen und Trauermärsche, die das so wichtige Signal aussenden, vor dieser Brutalität nicht zu kapitulieren. Und jetzt, im Angesicht dieser Särge und dieser Gewalt und dieser Emotionen, werden sie wieder beschworen, die europäischen Werte, die es gegen ihre Feinde zu verteidigen gelte und die Europa enger zusammenrücken lassen sollen.

In dieser Weise von der ‚Verteidigung‘ der europäischen Werte zu sprechen, wie es seit dem 7. Januar 2015 allenthalben geschieht, ruft unmittelbar eine äußere oder zumindest fremde Bedrohung auf, die nach Europa eingedrungen ist und dessen Werte gefährdet. Das Dumme ist nur: Die Attentäter von Paris kamen nicht von außen. Sie waren nicht fremd, sie waren keine Eindringlinge. Vielmehr sind sie ausgiebig mit diesen Werten in Kontakt gekommen und damit groß geworden. Auch die Attentäter auf die Londoner U-Bahn im Jahr 2005 kamen nicht von außen, sondern waren in England geboren und aufgewachsen. Auch der versuchte Anschlag auf den Bonner Hauptbahnhof 2012 wurde von Menschen geplant, die – wie es so schön einvernehmlich heißt – aus der ‚Mitte dieser Gesellschaft‘ kommen.

Gegen wen müssen wir uns also verteidigen? Und was müssen wir verteidigen? Wenn man nach einer Konkretisierung derjenigen Werte fragt, die da gegen ihre Feinde beschützt werden sollen, kommt ein recht bekannter Katalog zusammen, der unter anderem Komponenten wie Toleranz, Meinungsfreiheit, Unverletzlichkeit der Person, Gleichheit vor dem Recht, Demokratie und andere wichtige Errungenschaften mehr enthält.

Das sind Inhalte, auf die man sich mehrheitlich ohne weiteres wird verständigen können. Aber ist das nicht ein recht idealistischer und auch unvollständiger Katalog, mit dem wir es da zu tun haben? Gibt es denn nicht noch andere Werte, die diesen Kontinent kennzeichnen? Wie steht es denn mit Formen des Wirtschaftens, mit der Wertschätzung von Reichtum und Einfluss sowie mit all den weitreichenden gesellschaftlichen und politischen Konsequenzen, die sich daraus ergeben – ist das denn etwa kein Wert, der diesen Kontinent prägt?

Wie auch immer man die europäischen Werte genauer kennzeichnen will, sie mussten nicht nur in zahlreichen und langwierigen Auseinandersetzungen historisch erst einmal erkämpfen werden – wir haben es zusätzlich mit dem Problem zu tun, dass uns eben diese aufklärerischen Werte in ein notorisches und kaum aufzulösendes Paradox stürzen. Es handelt sich dabei um etwas anderes als um die (nicht minder notorische) Dialektik der Aufklärung, die sich nach gut dialektischer Manier ja irgendwann und irgendwie in eine Synthese auflösen müsste, sei es nun die totale Katastrophe (wie bei Horkheimer und Adorno) oder sei es das rationale und liberale Paradies (wie bei so manchen Vertretern des Posthistoire). Im Gegensatz dazu lässt sich das Paradox der Aufklärung nicht auflösen, sondern beschert allen, die sich darauf verpflichten oder darauf verpflichtet wurden, regelmäßig weitreichende Dilemmata. Diese Spannungen lassen sich identifizieren als diejenigen Probleme, die in Erscheinung treten, sobald die Aufklärung auf sich selbst angewandt wird. Dann treten sie nämlich auf, die schwierigen Diskussionen, wieviel Vielfalt man tatsächlich akzeptieren muss, wieviel Intoleranz man zu tolerieren hat und wie aufklärerisch es ist, die Aufklärung anderen auch gegen deren Willen aufzuzwingen. Steckt also nicht in den famosen europäischen Werten die Gefahr, sich potentiell auch gegen sich selbst zu richten? Wird denn ausreichend bedacht, ob diese europäischen Werte auch negative Komponenten enthalten könnten?

Fetisch Eigentum

Vergessen wir zum Beispiel nicht, woher die Bezeichnung ‚Toleranz‘ stammt. ‚Toleranz‘ bedeutet ‚Duldung‘ und war zunächst die mühsame erkämpfte Errungenschaft europäischer Kulturen des 16. und 17. Jahrhunderts, darauf zu verzichten, andersgläubige Christen (und nicht die ganz anderen Anderen!) nur deswegen zu erschlagen, weil sie zufällig nicht gerade Katholiken, Protestanten, Reformierte oder Mitglied einer anderen christlichen Religionsgemeinschaft waren. Von der Verfolgung dieser benachbarten Anderen abzusehen, bedeutete aber noch keineswegs, sie in ihrer Andersartigkeit und mit ihrer Vielfalt willkommen zu heißen. Sie wurden geduldet, aber keineswegs der Mehrheitsgesellschaft gleichgestellt.

Sicherlich machte die Aufklärung des 18. Jahrhunderts in dieser Hinsicht Fortschritte. Die Judenemanzipation wird immer wieder als wichtiges Beispiel angeführt, dass es zumindest in manchen Staaten zu einer spürbaren Verbesserung der Lebenssituation jüdischer Gemeinden kam (auch wenn diese ‚Emanzipation‘ zumeist mit der Erwartung verbunden war, dass sich die Juden der christlichen Mehrheitsgesellschaft angleichen sollten).

Aber man darf nicht übersehen, mit welchen Widersprüchen das gesamte aufklärerische Projekt von vornherein behaftet war. Es war geprägt durch Exklusionsmechanismen, weil Frauen sowie Menschen ohne Eigentum von der politischen Partizipation ganz selbstverständlich ausgeschlossen wurden. Es war geprägt von Schizophrenien, wenn man sich beispielsweise den Mitautor der ersten Menschenrechtserklärungen (in den USA und in Frankreich), Thomas Jefferson, bei der Abfassung hochmögender aufklärerischer Ideen vorstellen muss, während er gleichzeitig auf seine von Sklaven bewirtschafteten Ländereien blickt. Es war geprägt von einer elitären Hochnäsigkeit, die alle Wissensformen, die nicht den Prinzipien der Rationalität zu entsprechen vermochten, ihre Wertigkeit absprach – unabhängig davon, welchen Wert die Menschen diesen (beispielsweise magischen) Wissensformen zumaßen. Und nicht zuletzt war es geprägt von einem Eigentumsdenken (wesentlich geprägt durch John Locke), das man üblicherweise nicht unmittelbar mit der Aufklärung in Verbindung bringt, das für sie aber von konstitutioneller Bedeutung war. Denn durch den Schutz des Eigentums sollte der Einzelne (und tatsächlich zunächst nur der männlich Einzelne) vor den absolutistischen Zugriffen der Obrigkeit gewahrt bleiben und sollte zugleich zur politischen Partizipation berechtigt sein. Ohne Eigentum, so der auch in der Französischen Revolution konsequent umgesetzte Umkehrschluss, gab es auch keine wirtschaftlichen oder politischen Einflussmöglichkeiten.

Diese Fetischisierung des Eigentums samt aller sich daraus ergebenden Konsequenzen gehört eben auch zu den europäischen, aufklärerischen Werten, die zur Verteidigung anstehen. Angesichts der umfassenden Ökonomisierung europäischer Kulturen, wie wir sie derzeit beobachten, könnte man sogar auf die Idee kommen, dass es vor allem das Eigentum ist, das es zu verteidigen gilt. So lassen sich beispielsweise Pegida-Demonstranten verstehen, die sich gegen eine angebliche Massenzuwanderung von Flüchtlingen wehren, weil „die uns ja alles wegnehmen“. So lassen sich auch AfD-Wähler verstehen, die sich gegen den bösen Euro und die europäischen Schuldenstaaten zur Wehr setzen. Und so lässt sich eine ziemlich breite ‚Mitte der Gesellschaft‘ verstehen, die recht konsensuell gegen Hartz IV-Empfänger und vermeintliche ‚Sozialschmarotzer‘ wettert.

Europa gegen sich selbst verteidigen

Was passiert aber mit denjenigen, die in diesem hübschen Europa mit seinen gepflegten europäischen Werten aufwachsen, dabei aber vor allem die andere Seite der Aufklärung zu spüren bekommen? Die feststellen müssen, dass Toleranz nur Duldung und nicht freundliche Aufnahme bedeutet? Die feststellen müssen, dass Inklusion nur von ihnen gefordert, ihnen aber nicht entgegengebracht wird? Die feststellen müssen, dass man an den europäischen Errungenschaften und hehren Idealen eigentlich nur dann teilnehmen kann, wenn man die Voraussetzung ausreichenden Eigentums mitbringt? Die feststellen müssen, dass sie aufgrund der ihnen beständig zugeschriebenen Andersartigkeit („Wo kommst du denn her?“) vor allem mit den Exklusionsmechanismen konfrontiert werden, welche der Rekurs auf die europäischen Werte bereithält? Die feststellen müssen, dass ihnen von oben herab regelmäßig bescheinigt wird, dass andere kulturelle Werte als irrational und minderwertig verurteilt werden? Könnte es nicht sein, dass gerade eine solche Begegnung mit europäischen Werten dazu führt, sich davon abzukehren und nach Alternativen zu suchen?

Das bedeutet nun im Umkehrschluss natürlich nicht, die Aufklärung und die Werte, die sich Europa so gerne auf seine Fahne schreibt, über Bord zu werfen. Aber notwendig wird es sein, das Paradox auszuhalten, das uns diese Werte mitgeben, indem man sie auf sich selbst anwendet und beständig hinterfragt. Dann ließe sich möglicherweise auch eine Universalie finden, auf die man sich verpflichten könnte und die nicht gar so exklusiv europäisch daherkäme und nicht nur eine Idee der Aufklärung wäre: nämlich das gute Leben, das jedem ermöglicht werden soll und niemandem verweigert werden darf. Dieses gute Leben frönt nicht dem Luxus westlicher Industriegesellschaften beim Blättern in Hochglanz-Lifestyle-Magazinen, sondern lässt sich bestimmen als das Bemühen, weltweit eine Grundsicherung zu gewährleisten, die Nahrung, Schutz vor Gewalt, Gesundheitsversorgung, Zugang zu Bildungseinrichtungen und Rechtssicherheit ebenso umfasst wie die Achtsamkeit auf und das Zusammenleben mit der nicht-menschlichen Welt (die weit mehr ist als nur ‚unsere Umwelt‘).

Wenn Europa solche Werte verteidigen will, dann muss es das nicht nur gegen eine Gefahr tun, die allzu voreilig in einem andersartigen Außen angesiedelt wird. Verteidigen muss Europa solche Werte dann nicht zuletzt gegen sich selbst.


Einsortiert unter:Geschichtskultur, Geschichtspolitik Tagged: Anschläge von Paris, Aufklärung, Charlie Hebdo, Eigentum, Europa, europäische Werte, Werte

Quelle: https://achimlandwehr.wordpress.com/2015/01/12/33-europas-werte-und-das-paradox-der-aufklarung/

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Ausstellungsbericht: Velázquez

Velázquez
Ausstellung im Kunsthistorischen Museum Wien, 28. Oktober 2014 bis 15. Februar 2015

Von Andreas Plackinger (München)

Von Prinzen auf Postern – „Auf nach Velasquez!“1
Mit flatternder Schärpe stürmt der kleine Prinz auf seinem Pony durch die kastilische Hochebene… und durch Wien, denn das Plakat mit Velázquez’ 1635 entstandener Darstellung des Infanten Baltasar Carlos, das die Ausstellung im Kunsthistorischen Museum bewirbt, scheint in der Hauptstadt allgegenwärtig.2

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Abb. 1 Diego Velázquez, Prinz Baltasar Carlos zu Pferd, 1635, Öl auf Leinwand, 209 x 173 cm, Madrid, Museo del Prado.*

Das Motiv ist gut gewählt. Mit seinem Blau-Ton hebt es sich vom grauen Winterhimmel ab, außerdem weist es auf zwei Charakteristika hin, die diese Velázquez-Schau auszeichnen: großartige Leihgaben und royaler Glanz. Die Anwesenheit der spanischen Königin Letizia garantierte einen medienwirksamen Ausstellungsauftakt und in den Sälen zeigt eine Reihe von Bildnissen das habsburgische Antlitz des Siglo de Oro. Noch bevor die BesucherInnen die Ausstellungsräume betreten, begegnen sie dem Reiterporträt des früh verstorbenen Prinzen erneut, wiederum in Form einer Reproduktion – in den Sälen werden leider weitere folgen –, die auf der eleganten dunkelgrauen Eingangsstele mit goldenen Lettern eher unbeholfen wirkt. Wenige Schritte entfernt verrät das Sortiment eines Verkaufsstands, dass Infantin Margarita ihren älteren Halbbruder als Merchandising-Ikone ausgestochen hat: Sie ziert Fächer, Armbanduhren, Kartenspiele, Flaschenöffner, Mousepads, Umhängetaschen und Brillentücher. Margarita im blauen Kleid ist sogar als Anhänger für den Weihnachtsbaum erhältlich. Die breite Produktpalette allein lässt keinerlei Zweifel: Hier handelt es sich nicht um irgendeine Ausstellung, sondern um ein Ausstellungs-Ereignis, mit dem sich Sylvia Ferino-Pagden (seit Ende 2010 Direktorin der Gemäldegalerie des Kunsthistorischen Museums) von ihrer illustren Wirkungsstätte verabschiedet. Die Entdeckung eines Künstlers wird in Aussicht gestellt, der für das breite Publikum vermutlich eine terra incognita ist.

Neben der Fülle an Velázquez-Accessoires könnte man den über 300 Seiten starken Ausstellungskatalog (Hirmer Verlag) fast übersehen. Mit Dawson W. Carr und Javier Portús Pérez, Kuratoren am Portland Art Museum bzw. am Museo Nacional del Prado, weist die Publikation namhafte Kenner auf, die bereits den Katalog der von Carr kuratierten Velázquez-Ausstellung der Londoner National Gallery 2006 zu weiten Teilen bestritten.3 Dass sich der Abbildungsbestand beider Kataloge ähnelt, ist angesichts des künstlermonographischen Zuschnitts der beiden Ausstellungen wenig überraschend. Im Wiener Katalog werden die frühen Jahre des 1599 in Sevilla geborenen Diego Rodriguez de Silva y Velázquez und seine Prägung durch das humanistische Umfeld seines Lehrers Francisco Pacheco nachgezeichnet (Dawson W. Carr), seine Tätigkeit als Porträtmaler am Hof Philipps IV. von 1623 bis zu seinem Tod 1660 geschildert (Javier Portús Pérez), Velázquez als Historienmaler vorgestellt (Gabriele Finaldi) sowie seine beiden Italienaufenthalte 1629–30 und 1649–51 erläutert (Stefan Albl). Von den die bisherige Velázquez-Forschung meist resümierenden Essays4 hebt sich der Beitrag ab, der am Familienporträt von Velázquez’ Schwiegersohn Juan Bautista Martínez del Mazo dem Nachleben seines Hauptwerks Las Meninas nachspürt (Gudrun Swoboda). Schließlich gibt ein Bericht von restauratorischer Seite, ausgestattet mit spannendem Bildmaterial, Einblick in die Maltechnik des späten Velázquez (Elke Oberthaler/Monika Strolz). Trotz der teilweise verknappten Darstellungen – besonders in den Bemerkungen zu den Meninas5 wird dies deutlich – liegt mit dieser Publikation ein weiterer guter Überblick zu Werk und Vita des Künstlers vor, wenn darin auch zuweilen kleinere Fehlinformationen und Unstimmigkeiten bei Literaturverweisen auftreten.6

„Maler der Maler“ oder Hofphotograph?
„Zedwitz wundert sich über meine Enttäuschung vor Velasquez. Er habe nie etwas anderes in Velasquez gesehn, als einen eleganten Photographen vor Erfindung der Photographie […].“7
Diese Zeilen aus der Spanischen Reise von Julius Meier-Graefe von 1910 stehen in schroffem Gegensatz zu Édouard Manets Einschätzung von Velázquez als „peintre des peintres“,8 die der Ausstellung als Motto vorangestellt ist. Damit sind die beiden Pole bezeichnet, zwischen denen sich eine Überblicksschau zu Velázquez positionieren muss.

Der erste Raum der Ausstellung in Wien widmet sich dem Sevillaner Frühwerk, das sich durch seine sorgfältig geschlossene Pinselfaktur auszeichnet. Die eher dunklen Gemälde – Velázquez malt noch auf einer rotbraunen Grundierung, die er nach seiner ersten Italienreise aufgibt – kommen vor der auberginefarbenen Wandbespannung gut zur Geltung. Besonders reizvoll ist es, die Londoner Immaculata und das Velázquez zugeschriebene Gemälde gleichen Themas der Fundacíon Focus-Abengoa in Sevilla vergleichen zu können – letzteres ist erst vor knapp 25 Jahren auf dem Kunstmarkt aufgetaucht. Mit dem Wasserverkäufer der Wellington Collection ist eine Arbeit ausgestellt, die verdeutlicht, welch erstaunlich hohes malerisches und intellektuelles Niveau der Künstler einer scheinbar anspruchslosen Bildaufgabe – einer genreartigen Alltagsszene – verleihen konnte.9

Temporarily used for contact details: The Engine House, Fire Fly Avenue, Swindon, SN2 2EH, United Kingdom, Tel: 01793 414600, Email: archive@english-heritage.org.uk, Website: http://www.english-heritage.org.uk

Abb. 2 Diego Velázquez, Der Wasserverkäufer von Sevilla, ca. 1622, Öl auf Leinwand, 107,7 x 83,3 cm, London, Apsley House, Wellington Collection.*

Die Oberflächentexturen von Keramik und Glas sind mit atemberaubender Könnerschaft wiedergegeben. In den Figuren lassen sich sowohl Vertreter verschiedener sozialer Stände in Interaktion als auch die drei Lebensalter erkennen. Zugleich ist das Bild eine Variation auf eines der Sieben Werke der Barmherzigkeit, die Tränkung der Durstigen. Die Pointe besteht darin, dass der ärmliche Wasserverkäufer einem Knaben aus gutem Haus Trank spendet. Nach einem derartigen Auftakt muss die Photoreproduktion nach einer Sevilla-Ansicht aus dem 17. Jahrhundert neben den Originalgemälden im Eingangssaal als echter Missgriff betrachtet werden.

Der zweite große Ausstellungssaal umfasst rein quantitativ das Herz der Schau: das königliche Porträt. Kriterium für die Hängung der dort gezeigten Porträts der Infantin Margarita ist weder Ober- noch Unterkante der Werke, sondern dass sich das Gesicht der Dargestellten stets auf gleicher Höhe befindet und damit eine direkte Vergleichbarkeit bietet. Dadurch entsteht der Eindruck von Serialität – und dies bei Bildnissen, die zu den größten Schätzen des Kunsthistorischen Museums gehören und mit ihrem offenen Duktus verblüffend individuelle Leistungen sind. Zweit- oder drittklassige Werkstattarbeiten wiederum kommen in diesem Raum zu unverdienter Prominenz, während ein Meisterwerk an Subtilität wie das Porträt des Infanten Don Carlos, des Bruders Philipps IV., in einem Durchgangsraum hängt. In der Mitte der großen Längswand ist schließlich das Plakatmotiv, Prinz Baltasar Carlos zu Pferd, zu finden. Dass dieses Bild als Teil eines Ausstattungszyklus, des Salón de Reinos (Saal der Königreiche) im Buen Retiro-Palast, einem gänzlich anderen Funktionszusammenhang entstammt als die Porträts seiner (Halb-)Geschwister Maria Teresa, Margarita und Felipe Próspero, wird durch die Hängung ausgeblendet. Auf die Freude, nach den Postern in der U-Bahn und dem Edeldruck auf der Eingangsstele das Original zu sehen, folgt die ernüchternde Entdeckung einer großformatigen Farbreproduktion von Las Meninas. Dieses Detail ist beredt: Velázquez’ Gemälde werden zur bloßen Geschichtsillustration. Zu dieser Wahrnehmung tragen auch die anschließenden Kabinette bei, in denen das Ende der casa de Austria in Spanien und die Eheschließung der Infantin Margarita mit Kaiser Leopold I. im Zentrum stehen. Julius Meier-Graefes Bekannter Zedwitz müsste sich in seiner Auffassung von Velázquez als Photograph avant la lettre bestätigt sehen. Es ist bedauerlich, dass der Bestand der vorhandenen Werke nicht genutzt wurde, um die Spannbreite des höfischen Porträts in seinen verschiedenen Spielarten auszuloten, wie dies der Katalogbeitrag von Portús Pérez leistet (S. 33–55). Doch das Dresdner Bildnis des Juan Mateos ist in einem Durchgangskabinett untergebracht und das großartige Herrenporträt (José Nieto?) aus Apsley House wird im letzten Saal von der spektakulären Venus mit dem Spiegel überstrahlt, mit der es die Wand teilt. Die ebenfalls im letzten Raum gezeigten Narrenporträts – ein Höhepunkt von Velázquez’ einfühlsamer Beobachtungsgabe – hätten unbedingt im Horizont des höfischen Porträts verortet werden müssen: Der ganzfigurige Hofnarr Don Juan de Austria wäre als Paraphrase des königlichen Porträts verständlich geworden. Durch die schreiende Diskrepanz zwischen Form und Inhalt, zwischen Schein und Sein wäre ein Grundprinzip des spanischen Barock (engaño versus desengaño) anschaulich geworden.

Die Ausstellung schließt mit einem Saal, dessen thematische Beschreibung „Mythen, Fabeln und vieles mehr“ von einer gewissen Verlegenheit zeugt. Hier werden unter anderem Werke aus Velázquez’ italienischen Jahren gezeigt, etwa die Schmiede des Vulkan und die sogenannte Rokeby-Venus.

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Abb. 3 Diego Velázquez, Venus mit dem Spiegel (Rokeby Venus), 1648–1651, Öl auf Leinwand, 122,5 x 177 cm, London, National Gallery.*

In dem ergreifend schönen Rückenakt entfaltet der Künstler durch die Thematisierung des Sehens einmal mehr seine konzeptuelle Meisterschaft. Der Betrachter nähert sich als Voyeur, aber die vermeintlich sichere Position als unbemerkter Beobachter wird durch den Spiegel ad absurdum geführt, durch den die junge Frau aus dem Bild herausblickt und den Betrachter zum Betrachtungsgegenstand macht. Indem der Spiegel die Stoff-Falten vor Venus’ Hüfte auf der Mitte des Bildes reflektiert, zugleich aber auch ihr weiter rechts platziertes Haupt, wird der Kunstcharakter der Darstellung deutlich und Velázquez als Regisseur der optischen Illusion greifbar. Dank solch großartiger Leihgaben, darunter nicht zuletzt das erstaunliche, in einem Durchgangsraum ungünstig platzierte Gemälde mit der Ansicht einer Loggia im Garten der Villa Medici – einer der nur zwei autonomen Landschaften im Œuvre des Meisters! –, vermag die Schau einen breiten Überblick über Velázquez’ Schaffen zu geben. Einen Beitrag dazu leisten das äußerst informative kostenlose Begleitheft und die inhaltlich dichten Wandtexte (positiv hervorgehoben sei der Text zu den bodegones, Küchenstücken und Wirtshausszenen mit Still-Lebenelementen, der auf die kunsttheoretische Anbindung dieser genuin spanischen Bildgattung an die antike literarische Tradition hinweist). Äußerst geglückt ist, dass man den Ausstellungsbereich über den Tiziansaal der ständigen Sammlung verlässt und somit einen für Velázquez zentralen Künstler als Vergleichsfolie erfährt. Eine weitere Stärke der Wiener Schau besteht darin, Werke wie die Heilige Rufina aus Sevilla zu präsentieren, die in der älteren Literatur kaum oder gar nicht berücksichtigt wurden. Höchst problematisch ist jedoch, dass auf die damit verbundenen Zuschreibungsdiskussionen nicht deutlicher hingewiesen wird. Ein Fragezeichen oder der Vermerk ‚zugeschrieben‘ im Objektschild oder im ‚Kopf‘ des Eintrags in Begleitheft und Katalog hätten hier Abhilfe geschaffen.10

Derartige Unterlassungen und die nicht immer glückliche Hängung lassen zuweilen den Verdacht aufkommen, die Kuratorin habe sich mit Velázquez schwer getan, ganz so, als hätte es an der rechten Begeisterung für diesen Künstler gefehlt. Nichtsdestoweniger bleibt es eine verdienstvolle Leistung der OrganisatorInnen, Velázquez mit einer umfangreichen monographischen Ausstellung erstmals im deutschsprachigen Raum gewürdigt zu haben.

Abbildungsnachweis
* aus dem Download-Pressebereich der Website des Kunsthistorischen Museums für die aktuelle Berichterstattung: http://press.khm.at/pr/khm/velazquez/ [16.12.2014].

  1. Julius Meier-Graefe: Spanische Reise, Berlin: S. Fischer 1910, S. 20.
  2. Der Vergleich zu anderen Reiterporträts von Velázquez macht deutlich, dass hier keine Levade gezeigt wird.
  3. Dawson Carr (Hg.): Velázquez, Ausstellungskatalog National Gallery London, Stuttgart u.a.: Belser u.a. 2006. Portús Pérez ist seinerseits in den letzten Jahren als Kurator von großen Velázquez-Ausstellungen hervorgetreten. Vgl. Javier Portús Pérez (Hg.): Fábulas de Velázquez. Mitología e Historia Sagrada en el Siglo de Oro, Ausstellungskatalog, Madrid: Museo Nacional del Prado 2007; Javier Portús Pérez (Hg.): Velázquez y la familia de Felipe IV (1650–1680), Ausstellungskatalog, Madrid: Museo Nacional del Prado 2013.
  4. Die Literatur zu Velázquez ist Legion, von den einschlägigen Monographien seien hervorgehoben: José López-Rey: Velázquez. Das Vollständige Werk [1963]. Aktualisierte Ausgabe von Odile Delenda, Köln: Taschen 2014; Enriqueta Harris: Velázquez, Oxford: Phaidon 1982; Jonathan Brown: Velázquez. Painter and Courtier, New Haven u. London: Yale University Press 1986. Einen Eindruck von unterschiedlichen thematischen Zugängen zu Velázquez bietet Suzanne L. Stratton-Pruitt (Hg.): The Cambridge Companion to Velázquez, Cambridge: Cambridge University Press 2002.
  5. Einen ersten Überblick über die große Zahl an unterschiedlichen Interpretationen und damit gleichermaßen zur Rezeptionsgeschichte bietet Thierry Greub (Hg.): Las Meninas im Spiegel der Deutungen. Eine Einführung in die Methoden der Kunstgeschichte, Berlin: Reimer 2001.
  6. Abb. 5 auf S. 43 des Ausstellungskatalogs zeigt nicht die kaum publizierte Variante von Baltasar Carlos in der Reitschule der Wallace Collection, sondern das Gemälde gleichen Themas aus der Sammlung des Herzogs von Westminster. Falsch sind die Behauptungen, Velázquez habe nur eine Tochter gehabt (S. 130) und Don Juan de Austria, der Sieger von Lepanto, sei der Sohn Philipps II. (S. 190) gewesen. Zum Kurztitel Bernheimer & Garrido & Howard 2014 (S. 172) fehlt die Auflösung im Literaturverzeichnis. Das Publikationsdatum von Saskia Joglers Arbeit zu Velázquez’ Narrenporträts scheint ebenso wie das Jahr der Dissertationsschrift von Claudia Ham zu den dynastischen Verbindungen zwischen österreichischen und spanischen Habsburger im 17. Jahrhundert Schwierigkeiten bei der Titelaufnahme verursacht zu haben (S. 190 u. 218).
  7. Meier-Graefe: Spanische Reise (wie Anm. 1), S. 77.
  8. Die Rezeption der spanischen Malerei im Allgemeinen und Velázquez’ im Besonderen durch Manet und sein Umfeld wird beleuchtet in Geneviève Lacambre/Gary Tinterow (Hgg.): Manet – Velázquez. La manière espagnole au XIXe siècle, Ausstellungskatalog Musée d’Orsay Paris u. Metropolitan Museum New York, Paris: Éditions de la RMN 2002.
  9. Vgl. S. 146–150, Kat. Nr 9 (Dawson W. Carr) im Katalog der Ausstellung, wo unter anderem auch die Anspielung auf den Namen des ersten nachweisbaren Besitzers des Gemäldes Juan de Fonseca (fons = lat. ‚Quelle‘; seco/seca = span. ‚trocken‘) erläutert wird. Eine sensible Analyse des Bildes liefert auch Martin Warnke: Velázquez. Form & Reform, Köln: Dumont 2005, S. 25–29.
  10. Gerade im Fall des Raufhandels der römischen Sammlung Pallavicini wäre es dringend geboten gewesen, die Frage der Eigenhändigkeit zu problematisieren, denn das kleine Bild kann weder in Duktus noch Figurenanordnung mit dem Künstler in Verbindung gebracht werden und ist obendrein auf Holz gemalt, einem Bildträger, der in keinem einzigen von Velázquez’ gesicherten Werken Verwendung gefunden hat; vgl. den Werkkatalog von López-Rey: Velázquez (wie Anm. 4), S. 332–393. Einziger Anhaltspunkt für die nicht überzeugende Zuschreibung an Velázquez (in der Ausstellung ist der Künstler ohne jede Einschränkung als Autor genannt) ist eine ungefähre Ähnlichkeit einer Bildfigur mit einer der Gestalten in der Schmiede des Vulkan.

Quelle: http://fnzinfo.hypotheses.org/243

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