China-News: Der Tod des Jiaqing-Kaisers (1820) in österreichischen Zeitungen

Die lose Reihe China-News widmet sich Zeitungsmeldungen, die Ereignisse in China behandeln. Am Beispiel der Meldungen über den Tod eines Kaisers in österreichischen Blättern sollen hier gezeigt werden, auf welchen Wegen Nachrichten aus Ostasien nach Wien kamen – und wie lange es dauerte, bis ein Ereignis in den österreichischen Zeitungen auftauchte.

Jiaqing-Kaiser

清 佚名 《清仁宗嘉庆皇帝朝服像. By Annonymous Qing Dynasty Court Painter (Palace Museum, Beijing) [Public domain], via Wikimedia Commons

Am 25. Tag des 7. Monats des Jahres Jiaqing 25 (清仁宗嘉慶25年7月25日), am 2. September 1820 starb der Jiāqìng 嘉慶-Kaiser im kaiserlichen Sommerpalast (Bì Shŭ Shānzhuāng 避暑山庄) in Rèhé 热河.[1] Die konkrete Todesursache ist unbekannt, die Angaben in den Renzong rui huangdi shilu 仁宗睿皇帝實錄  sind kryptisch und gaben später zu zahlreichen Spekulationen Anlass, unter anderem: er wäre vom Blitz erschlagen worden.[2]

Es dauerte, bis die Nachricht vom Tod des Kaisers nach Europa kam, die ersten Meldungen finden sich Ende Dezember, also nach etwa drei Monaten:

Kaiserthum China. Authentischen Nachrichten zufolge ist der Kaiser von China, Kia-Kin, mit Tode abgegangen.
(Der Wanderer Nr. 363 (28.12.1820), 624. Online: ANNO)

Nach sichern Nachrichten aus Kjachta[3] ist der Kaiser von China, Kia – Kin, mit Tod abgegangen.
(Wiener Zeitung Nr. 297 (30.12.1820), 1180. Online: ANNO)

Nach sichern Nachrichten aus Kiachta ist der Kaiser von China, Kia – King [sic!], mit Tod abgegangen.
Österreichischer Beobachter Nr. 365 (30.12.1820), 1687. Online: ANNO

Von Wien ins schlesische Opava [dt. Troppau] brauchte diese Nachricht einige Tage. Am 5.1.1821 bringt die Kaiserliche-Königliche schlesische Troppauer Zeitung mit Angabe der Quelle die Meldung aus dem Österreichischen Beobachter.((Kais. König. Schlesische Troppauer Zeitung Nr. 2 (5.1.1821) 11. Online: ANNO.)).

Einige Monate später, im April 1821, taucht das Thema wieder in den Zeitungen Wiens auf.

Nachrichten aus Canton [Guangzhou 廣州] vom 18. October, in Englischen Blättern, melden, daß der Kaiser von China gestorben sey, zwey seiner Söhne kämpften um die Thronfolge, und einige Provinzen hätten dieß benutzt, um sich gegen die regierende Dynastie zu empören. Dabey richtete die von Bengalen eingebrachte Cholera-Krankheit in China große Verheerungen an.
(Wiener Zeitung Nr. 78 (4.4.1821) 309. Online: ANNO)

Ganz ähnlich die Nachricht in der Lemberger Zeitung:

China. Canton, den 18. October. Wir haben hier die Nachricht von dem erfolgten Tode des Kaisers von China erhalten. Dieser Vorfall hat zu einem Streite zwischen seinen beiden Söhnen die Veranlassung gegeben; beide machen Anspruch auf den Thron. Verschiedene Provinzen des Chinesischen Reiches sollen sich in Folge dieses Streites in einem Insurrections-Zustande befinden. [...] (H.C.)[4]
(Lemberger Zeitung Nr. 45 (13.4.1821) 233 – Online:  ANNO)

Ende April kommen Wiener Zeitungen erneut auf die Vorgänge in China zurück:

China. Aus Batavia vom 26. November enthalten Hamburger Blätter Folgendes: Der Kaiser von China ist am 25sten Tage des siebenten Monaths (nach unserer Zeitrechnung am 2. September) zu Ye-h-kol in der Tatarey (Mongoley ?) plötzlich an demselben Tage, als er dort angekommen war, mit Tode abgegangen. Alle Chinesen haben auf erhaltenen Befehl, auf 100 Tage Trauer angelegt. Der zweyte Sohn des Verstorbenen[5] folgt ihm in der Regierung, da der älteste schon in seiner Kindheit verstorben ist. [...]
(Wiener Zeitung Nr. 98 (28.4.1821) 389 – Online: ANNO)

Weitgehend ident findet sich die Meldung auch im Österreichischen Beobachter vom 28.4.1821.[6] In den Wochen danach finden sich in dien Blättern Meldungen über das “Testament”[7]  des Jiaqing-Kaisers, das dieser am 2. September 1820, dem Tag seines Todes verfasst haben soll. Der Österreichische Beobachter, der sich auf “Londoner Blätter” beruft, bringt nur eine kurze Notiz.[8] Andere Blätter drucken den Text vollständig ab, unter anderem die Wiener Zeitung ((Wiener Zeitung Nr. 104 (5.5.1821), 413 – Online: ANNO.)) und -  nach dem Wanderer – die Klagenfurter Zeitung, dort wird das Datum fehlerhaft (“20. September 1820″ anstatt 2. September 1820) angegeben.[9]

Im Juli 1821 wird der Tod des Jiaqing-Kaisers noch einmal Thema – es gibt die ‘offizielle’ Meldung:

China. [...] Die Pekinger Zeitung [d.i.  Jīng bào 京報 ["Peking Gazette"].)) zeigt den Tod des Kaisers Kea King [d.i. Jiaqing] folgendermaßen an: Am fünfundzwanzigsten Tage des siebenten Mondes traten Se. kaiserliche Majestät in der Stadt Jeho Jhre Reise an, um unter den Unsterblichen zu wandeln.
(Österreichischer Beobachter Nr. 202 (21.7.1821) 931 – Online: ANNO

Wortident findet sich diese Meldung unter anderem in der Wiener Zeitung (26.7.1821)[10], in der Lemberger Zeitung (30.7.1821)[11] und in der Troppauer Zeitung (3.8.1821)[12], die sich auf die Wiener Zeitung beruft.

Die kleine Presseschau zeigt die Wege, auf denen Nachrichten aus Ostasien nach Wien kamen: Auf dem Landweg kamen Meldungen über Russland, in der Regel aus Sankt Petersburg, wohin Nachrichten aus China über Kâhta kamen. Auf dem Seeweg kamen zum einen ‘englische’ Meldungen, die zumeist aus Guangzhou stammten, dem einzigen Platz, wo (nicht-russische) Ausländer Handel treiben konnten, zum anderen Meldungen aus Hamburg, die zumeist über Handelsplätze in Südostasien kamen. Der Landweg dauerte etwa drei Monate, der Seeweg dauerte – vor der Einführung von Clippern[13] – etwa sechs Monate. In Anbetracht der technischen Möglichkeiten der Zeit, und der vielen Stationen, über die eine Nachricht ging, bevor sie in einer Zeitung abgedruckt wurde, erscheint inhaltliche Kohärenz und faktische Richtigkeit der Nachrichten bemerkenswert.

  1. Die Anlagen des Palastes in Rehe, des Bì Shŭ Shānzhuāng 避暑山庄 ["Mountain Villa for Avoiding the Heat"] wurden im 18. Jahrhundert errichtet, die Kaiser verbrachten dort die Sommermonate. Seit 1994 steht das “Mountain Resort and its Outlying Temples, Chengde” auf der UNESCO-Welterbe-Liste.
  2. S. dazu: Fabien Simonis <fabsimonis@yahoo.com>: “Cause of Death of Qing Jiaqing Emperor (response)” In: H-ASIA <h-asia@msu.edu>, 12 March 2007, archived at  h-asia discussion logs for March 2007) <abgerufen am 13.2.2014>.
  3. Der Ort Kâhta [Кяхта] war durch den 1727 geschlossenen Vertrag zwischen China und Russland als Handelsplatz zwischen den beiden Reichen festgelegt worden und war nicht nur Umschlagplatz für Waren, sondern auch für Nachrichten.
  4. “H.C.” steht für Hamburgischer Correspondent.
  5. D.i. der Daoguang-Kaiser [Dàoguāng Dì 道光帝] (17.9.1782-25.2.1850).
  6. Österreichischer Beobachter Nr 118 (28.4.1821) 552 – Online: ANNO.
  7. Gemeint ist damit das yízhào 遺詔, ein vom verstorbenen Kaiser hinterlassenes Schreiben, s. Grand dictionnaire Ricci de la langue chinoise Bd. III, Nr. 4549, S. 434.
  8. Österreichischer Beobachter Nr. 125 (5.5.1821) 588 – Online: ANNO.
  9. Klagenfurter Zeitung Nr. 37 (9.5.1821) 5 – Online: ANNO.
  10. Wiener Zeitung Nr. 170 (26.7.1821), 677 – Online: ANNO.
  11. Lemberger Zeitung Nr. 91 (30.7.1821) 480 – Online: ANNO.
  12. Kais. Königl. Schlesische Troppauer Zeitung Nr 62 (3.8.1821) 549 – Online: ANNO.
  13. Die schnellsten dieser Schiffe, die die jeweils erste Tee-Ernte einer Saison nach Europa brachten, legten in den 1860ern die Strecke von der Mündung des Min-Flusses bei Fuzhou nach London in knapp 4 Monaten zurück, die Taeping, die das legendäre “Great Tea Race of 1866″ gewann, legte die Strecke in 102 Tagen zurück.

Quelle: http://mindthegaps.hypotheses.org/1284

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aventinus studiosa Nr. 2 [16.02.2014]: »studiosa. Internetressourcen für das Studium der Geschichte« von Andreas C. Hofmann, begr. auf Grundl. v. “Kursbuch Geschichte”

Vormalige Linkliste der Fachschaft Geschichte der LMU München auf Grund­lage von “Kursbuch Geschichte. Tipps und Regeln für wissen­schaftliches Arbeiten”. Die Liste wurde über im Kursbuch Geschichte angebotene Inhalte hinaus erweitert und um nicht mehr funktionsfähige Angebote gekürzt. http://www.studiosa.andreashofmann.eu

Quelle: http://www.einsichten-online.de/2014/02/4964/

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Boah! Das ist so off-topic!! oder: Zu einer Interjektion zwischen Lenkfeld und Malfeld?

Ich möchte das Wochenende nutzen, um über etwas nachzudenken, auf das ich durch zwei Sitzungen unseres Forschungskolloquiums gestoßen bin. Die Interjektion BOAH. Eine Beschäftigung damit regte zuerst Ilham Messaoudis Diskussionspapier an. Sie untersucht sprachvergleichend deutsches und türkisches Erzählen – wie es so schön heißt: mulimodal. In ihrem Gesprächsausschnitt, dessen Analyse wir diskutiert haben, kam BOAH auffallend häufig und an einigen wichtigen Stellen vor: sowohl äußerungsinitial als auch responsiv. Ebenso äußerungsinitial präsentierte sich BOAH in einem Tweet, den Johannes Paßmann in einem Diskussionspapier präsentierte. Dieser ist glücklicherweise öffentlich einsehbar:

boah entfaven ist so hitler

Mir stellte sich nun besonders die Frage, was diese Interjektion interaktional leistet, was ihr spezifischer kommunikativer Zweck ist. Dafür kann man als erstes fragen, was Interjektionen eigentlich sind; gleichwohl kann und sollte vielleicht sogar die Fragerichtung umgekehrt sein oder noch besser: wechselhaft, dialektisch… der Ordnung halber mache ich es jetzt hier recht linear, wenngleich wir sehen werden, dass wir damit an eine Grenze stoßen werden.

In seiner Habilitation hat Ehlich (1986) eine systematische Rekonstruktion von Interjektionen im Ansatz der Funktionalen Pragmatik vorgenommen. Das ist ein verhältnismäßig altes Buch und so ist dort funktional-pragmatische Konzeptarbeit erster Stunde noch zu beobachten. Eine knappe und aktuellere Übersicht seiner Erkenntnisse findet sich in Ehlich (2009) im “Handbuch der deutschen Wortarten” (hrsg. von Ludger Hoffmann) – einem Buch, das eigentlich stark an der Dekonstruktion der Wortartenkategorie arbeitet, um sich des Erbes griechisch-lateinischer Grammatikschreibung zu entledigen; einem Erbe, das gerade für Fälle wie die Deixeis (vgl. Ehlich 1979) und die Interjektionen keine passende Antwort parat hatte und diese sprachlichen Mittel einer linguistischen Analyse lange Zeit kaum oder nur unter begrifflicher Verlegenheit zugänglich machte. Diese beiden ‘alten’ Bücher Konrad Ehlichs sind allein schon deshalb heute noch außerordentlich aufschlussreich, weil sie die Geschichte der Sprachwissenschaft derart durchsichtig machen, das nachvollziehbar wird, wie heute noch zentrale grammatische Kategorien sich einer Jahrtausende alten philosophischen Tradition verdanken, die Erkenntnisse über Sprache erst einmal gar nicht zum Ziel hatte (vgl. Ehlich 1979, 152) und in ihrer Folge wesentliche Strukturkennzeichen von Sprache in der überkommenen Grammatik verdeckt werden: zuforderst ihre Handlungsqualität.

Aber zurück zu den Interjektionen: Erst in der lateinischen Grammatikschreibung zur Wortart erhoben (interiectio – Dazwischenwerfen; vorher, d.h. bei den Griechen waren sie Adverbien), sind sie lange Zeit eng verknüpft mit Emotionalität (vgl. Ehlich 2009, 424f.). Deswegen und auch aufgrund der formalen Andersartigkeit und der syntaktischen Unberechenbarkeit dieser “Hertzwörtgen” (Longolius 1715, 33) war ihre Bestimmung lange alles andere als systematisch.

Im Theoriegebäude der Funktionalen Pragmatik werden die Interjektionen dem Lenkfeld zugeordnet, mit ihnen prozessiert man also expeditive Prozeduren. “Beim Lenkfeld geht es um die direkte, unmittelbare Einflussnahme in die Handlungsverläufe des je anderen.” (Ehlich 2009, 434) Über den kommunikativen Zweck von Interjektionen als Mittel des Lenkfeldes schreibt Ehlich (1986, 241) in seiner Habil:

Den Interjektionen kommt also in ihren unterschiedlichen Ausprägungen (und dadurch mit unterschiedlicher Verteilung der Gewichte im einzelnen) die gemeinsame Funktion zu, eine unmittelbare Beziehung zwischen Sprecher und Hörer im Diskurs herzustellen und zu unterhalten. Diese direkte Beziehung ermöglicht es, eine elementare interaktionale Übereinstimmung hinsichtlich des Kontakts überhaupt, hinsichtlich der emotionalen Befindlichkeit, hinsichtlich der diskursiven und mentalen Wissensverarbeitung und hinsichtlich des weiteren Handlungsverlaufs zu gewährleisten.

Die Interjektionen eint also mit den Bestimmungen der expeditiven Prozeduren, wie der Vokativ und der Imperativ sie ebenso darstellen, eine direkte, ‘unmittelbare’ Einflussnahme auf “das hörerseitige Handeln” (Redder 1998, 67). Daneben bearbeiten sie eine Reihe ganz unterschiedlicher Zwecke die “interaktionale Übereinstimmung” (Ehlich 1986, 241) betreffend: Kontakt, Befindlichkeit, Wissensverarbeitung, Handlungsverlauf. Gerade die emotionale Befindlichkeit ist es, die uns später wieder begegnen wird, wenn wir zu BOAH kommen und sie wird begrifflich einige Probleme machen.

Interjektionen haben nun aufgrund ihrer äußerst ökonomischen Form nur einen geringen Skopus, innerhalb dessen sie interaktional wirksam werden können: Den Punkt, von dem aus sie ihre Wirksamkeit entfalten und den die Interjektierenden mit ihrer Äußerung setzen, hat Ehlich (ebd., 215) für die Untersuchung von HM “diskursive origo” genannt. Die Interjektion scheidet so “Vordiskurs und Folgediskurs” voneinander (ebd., 216). Systematisch ist dieser, wie jeder andere Punkt im Kommunikationsverlauf von “Erwartungen” und “Entwürfen” geprägt (sowohl sprecher- wie hörerseitig), wie es denn weitergehen werde: Interjektionen bearbeiten nun die “Verständigungstätigkeit zwischen den Interaktanten“, indem sie einen abgleichenden Einblick in die Erwartungen, Entwürfe und auch “Risiken” gewähren, die sich ausbilden, sich entwickeln und die drohen können, das Verstehen zu beeinträchtigen (ebd.). Am Punkt der diskursiven Origo wird also durch die Interjektion ein Einblick in die mentale Sphäre des Äußernden gewährt; dieser Einblick ist nun je nach Interjektion je unterschiedlich qualifiziert (siehe die Aufzählung oben). Aber es ist eigentlich leicht verfälschend, von einem Einblick zu sprechen, denn das spräche für eine passive Position des Äußernden, der nur reinschauen lässt, aber nicht quasi durch das offene Fenster greifend, ja lenkend Einfluss nimmt auf den, dem die Interjektion gewidmet ist.

Nun zu BOAH. Zuerst fällt am oben eingeschobenen Tweet auf, dass Interjektionen doch kein “rein diskursives Phänomen” zu sein scheinen (Ehlich 2009, 428). Aber an Kommunikationsformen wie Twitter oder auch z.B. den Facebook-Kommunikationsformen, in denen mir in den letzten Tagen wieder viele BOAHs aufgefallen sind, zeigt sich, dass sich die Dichotomie von Diskurs und Text nicht nur dem Phänomen nach, sondern auch begrifflich auflöst (vgl. Meiler 2013, 64, 90). Wie wäre beim obigen Tweet bei aller öffentlichen Verdauerung und Monologizität und der nur sekundären Möglichkeit von Bidirektionalität hier noch sinnvoll von Diskurs zu sprechen (oder von Text)? Wie dem auch sei; dieses sehr komplexe Problem möchte ich hier heute nicht diskutieren.

Schaut man in die Forschungsliteratur zur BOAH, so tut sich nicht so schnell etwas auf. (Ehrlich gesagt, habe ich das aber auch nicht systematisch betrieben – es ist ja nur ein Wochenendausflug in einen anderen Gegenstand – off-topic eben. Aber getrieben von Google Scholar hat sich dann das ein oder andere aufgetan. Es mag noch mehr zu heben sein!) Die Spur, die ich fand, versteht/verstand BOAH als eine Interjektion der Jugendsprache. Dürscheid (2008, 148) listet BOAH als jugendsprachliche “Routineformel” und verweist in ihrer aufzählenden Darstellung lobend auf die Dissertation von Jannis Androutsopoulos, die sie als anerkanntes “Grundlagenwerk” (ebd.) ausweist, indem sie sagt, dass es als solches “gilt”. Nun, bei Androutsopoulos (1998) findet man BOAH keineswegs als Routineformel behandelt, sondern als Interjektion in der Funktion eines Hörer- und Gliederungssignal (vgl. ebd., 488f., 496f.; u.a. im Anschluss an Weinrich 1993/2003). Weinrich (vgl. 1993/2003, 857-861) unterscheidet situative und expressive Interjektionen, BOAH findet sich bei ihm nicht. Bei Androutsopoulos führt die Spur aber weiter zu Schlobinski/Kohl/Ludewigt (1993), einer Monografie zur “Jugendsprache” mit dem Untertitel: “Fiktion und Wirklichkeit”. Und es zeigt sich z.B. an BOAH, was für ein schwieriges Forschungsfeld die ‘Jugendsprache’ ist, so veränderlich und unein- oder besser unausgrenzbar es ist. Ob BOAH heute noch zur Jugendsprache zu rechnen ist oder jemals zu rechnen war, bezweifelten schon Schlobinski/Kohl/Ludewigt (vgl. 1993, 33). BOAH hat sich heute wohl noch stärker verbreitet und in seiner Bedeutung eine Verallgemeinerung erfahren und damit seinen konnotativen Ballast verloren.

Schlobinski/Kohl/Ludewigt (ebd.) führen das häufige Vorkommen von BOAH in ihrem Korpus (immerhin 11 mal) “eindeutig auf einen medialen Einfluß” zurück: Die um die 1990er “kursierenden Manta-Witze”1, ferner Werner-Comics und der Kabarettist Tom Gerhard gehören demnach zu den Distribuenten von BOAH, die diese Interjektion bis in die Alltagssprache trugen. “Inwieweit das Lautwort durch Comics vorstrukturiert ist, wäre zu prüfen” (ebd.); ebenso, wie zu prüfen wäre, ob es sich dabei früher nicht um eine regional begrenzte Interjektion handelte, die aufgrund der massenmedialen Verarbeitung nun weitere Verbreitung gefunden hat.

Schlobinski/Kohl/Ludewigt (1993, 33) sprechen davon, BOAH habe “spezifische Funktionen” in Manta-Witzen. Welche das sein könnten, führen sie nicht aus. Vielleicht lässt sich dem und damit auch der heutigen Verwendung von BOAH nahekommen, wenn man sich mal einen solchen, wahllos ergoogelten Witz anschaut:

Manta-Fahrer in der Wüste: Kommt ‘ne Fee vorbei und sagt: “Zwei Wünsche hast Du frei!” – “Boah, ey! Echt, ey? Goil ey!” – “Ja wat denn nu?” – “Ne Flasch Bier, die nie leer wird!” Manta-Fahrer hat die Flasche Bier plötzlich in der Hand und trinkt und trinkt und trinkt. “Boah, geil ey! Noch so eine, bitte!”  (Quelle)

Auf die Stereotypisierung des Manta-Fahrers muss an dieser Stelle nicht eingegangen werden. Deutlich wird die enge Verbindung zu EY, die Schlobinski/Kohl/Ludewigt (vgl. 1993, 141) und auch Androutsopoulos (vgl. 1993, 497) noch beobachten, die sich aber heute mittlerweile aufgelöst oder zumindest gelockert zu haben scheint. (Das meint auch der Duden.)

Der Witz inszeniert eine Dialogsituation zwischen dem Manta-Fahrer und einer Fee. BOAH taucht hier gewissermaßen immer responsiv auf – als Reaktion auf etwas: Zuerst als Reaktion auf die zwei Wünsche und dann in Reaktion auf den erfüllten, ersten Wunsch. Nun nimmt die fehlende Intonation – die gerade für die Interjektionen besonders wichtig ist, da sie ein Subsystem im Deutschen bilden, das tonal differenziert ist (vgl. Ehlich 2009, 429) – der Analyse gewissermaßen die Komplexität. Analysen von Youtube-Videos mit dem Tom Gerhard der 1990er könnten da vielleicht Abhilfe schaffen. Doch zeigt sich in ihnen auch eine starke Inszenierung, die mit der heutigen Verwendungsweise nicht mehr viel gemein hat. Nichtsdestotrotz sollten tonale Untersuchungen von BOAH in unterschiedlichen Positionen vorgenommen werden, um zu prüfen, ob sich auch dort eine Ausdifferenzierung eingestellt hat, die eine Grundbedeutung je nach Verwendungsweise modifiziert.

Hier jedenfalls begnügen wir uns mit der verschrifteten Form und also mit der interaktiven Positionierung. Günstig erscheint es, dass BOAH hier nie als vollkommen “selbstsuffiziente Prozedur” (ebd.) erscheint, sondern immer in Reihung bzw. Durchkopplung mit EY quasi semantisch expliziert wird: vor allem durch geil (das der Duden auch noch als jugendsprachlich führt, was m.E. mittlerweile auch zu revidieren wäre). Das responsive oder gar reaktive BOAH scheint in beiden Fällen etwas vorgängiges positiv zu evaluieren. Hier wird also eine diskursive Origo im oben beschriebenen Sinne gesetzt und mit BOAH retrograd auf den Vordiskurs Bezug genommen, indem er evaluiert, bewertet, eingeschätzt wird. Diese Evaluation, die beim Manta-Fahrer immer eine überzeichnet extreme ist, wird damit der Fee unmittelbar zugänglich gemacht, noch bevor sie durch geil auch in einer symbolischen Prozedur zum Ausdruck gebracht wird. Es ist beinahe so, als müsste eine somatische Reaktion nachträglich, transkribierenden vereindeutigt werden (vgl. Jäger 2008). Diese nachträglich transkribierte Verwendung von BOAH zeigt sich aber nicht in allen Manta-Witzen der oben angegeben Quelle.

Mit Echt, ey? findet im obigen Beispiel noch eine andere Explizierung der BOAH-Bedeutung statt. Die Nachfrage verweist auf einen Bruch im Erwarteten, auf eine Überraschung. Zu dieser Einschätzung kommt auch Androutsopoulos (1998, 496): BOAHs “Grundbedeutung ist der Ausdruck von Überraschung, je nach Ko-Text Begeisterung, Bewunderung, Ratlosigkeit oder Überdruß.” “Sowohl von der Bedeutung als auch von der Lautstruktur her”, so Androutsopoulos (ebd.) etwas weiter oben, sei BOAH mit OH verwandt. Er verweist dabei auf die Analyse von Ehlich (1986, 78f.).

Als Grundbedeutung von OH gibt Ehlich (ebd., 78) die “Bezeichnung von emotiven Zuständen des Sprechers” an. Dem Lautlichen nach steht es “dem Stöhnen nahe”, ist aufgrund seiner tonalen Differenzierung aber sprachlich überformt und “als solches kommunikativ einsetzbar” (ebd., 78f.). Als “Ausdruck des Klagens” verweist es auf eine Verletzung der “Integritätszone des Sprechers” (ebd., 79). Je nach tonaler Differenzierung wird eine “positiv eingeschätzte” oder eine “negative eingeschätzte Betroffenheit” zum Ausdruck gebracht (ebd.). Es scheint damit dem System von AH nahezustehen, das es mit der “Verarbeitung im Erwartungsmechanismus” zu tun hat, während OH eher die “emotionale Betroffenheit” ausdrückt (ebd.).

Allein die vergleichsweise formale Komplexität, die BOAH in seiner lautlichen Kombinatorik aufweist, spricht für eine Vermischung beider Funktionen. Wie das ‘B’ dabei zu erklären ist, wäre noch zu eruieren.

“In äußerungsinitialer Position verweist boah den Hörer auf einen visuellen oder akustischen Reiz oder kündigt an, daß der Sprecher gleich etwas (für ihn) Wichtiges, (möglicherweise) Beeindruckendes sagen wird.” (Androutsopoulos 1998, 496) In einer solchen Position finden wir BOAH auch im obigen Tweet; und auch in Ilham Messaoudis Daten war eine solche Verwendung zu finden. Ich bin aber der Meinung, dass man Androutsopoulos Charakterisierung verallgemeinern müsste, um allen Verwendungen gerecht zu werden. Dabei zeigt der Tweet mit der Konversion von ‘Hitler’ zum Adjektiv ‘hitler’ (was der Konversion von ‘Scheiße’ zum nicht-flektierbaren Adjektiv ‘scheiße’ nahe steht) auf diese notwendige Verallgemeinerung: So wie der adjektivische Symbolfeldausdruck ‘hitler’ semantisch nahezu entleert ist zu so etwas wie ‘im extremen Maße negativ’,2 scheint BOAH in äußerungsinitialer Position nicht unbedingt etwas Wichtiges oder Beeindruckendes anzukündigen, sondern allgemein etwas ‘im besonderem Maße zu evaluierendes/evaluiertes’ vorab zu rahmen. Das zeigt sich auch im Manta-Witz, wo es ja um eine besonders positive Evaluierung geht. Dem Hörer wird von dieser diskursiven Origo aus also kenntlich gemacht, dass etwas kommen wird, das in seiner Qualität neben allem anderen vor allem eines ist: besonders extrem. Darin scheint sich wohl auch in der heutigen Gebrauchsweise der stilisierte Menta-Fahrers und die inszenierte Figur ‘Tom Gerhard’ niedergeschlagen zu haben.

In dem was Ehlich (1986, 79) “die emotionale Betroffenheit” nannte, scheint nun ein kategoriales Problem auf. Der Zweck von BOAH und vielleicht auch der von OH scheint nicht ausschließlich im Lenkfeld aufzugehen. Nun war das Malfeld und die ihm zugehörige expressive Prozedur 1986 begrifflich noch nicht aus der Taufe gehoben. Generell ist es bis heute wenig bearbeitet worden, was seinen schillernden und ungreifbaren Status auszumachen scheint. Der Zweck, den das Malfeld bearbeitet, wird manchmal als “Abgleichung der S+H-Einschätzungen” (Ehlich 2009, 435) charakterisiert, manchmal als “expressiv[e] Verbalisierung von Atmosphärischem und Emotionen, was im Deutschen vor allem durch  intonatorische Modulation, kaum durch einzelne Wörter geschieht” (Redder 1998, 67).3

Ein Problem mit dem Malfeld habe ich insofern, als dass ich die Untersuchung von Einschätzungen, von Emotionalität nicht nur im Intonatorischen sehe; vielmehr ist wohl anzunehmen, dass dieser Zweckbereich auch im Symbolfeld omnipräsent ist. Gerade Differenzierungen der Wortwahl – nicht nur im Schriftlichen – können meiner Erachtens dafür genutzt werden, die eigene emotionale Gestimmtheit bezüglich eines Sachverhalts (wohl paramalend) zum Ausdruck bringen. Diesem aber habhaft zu werden, wird sich als besonders schwierig herausstellen.

Aber zurück zur Interjektion BOAH: Wie sich andeuten ließ, sind mindestens zwei Verwendungsweisen von BOAH zu differenzieren, solange eine Untersuchung tonaler Differenzen noch nicht geleistet wurde: die äußerungsinitiale, also vom Sprecher gesetzte Interjektion und die responsive, also vom Hörer gesetzte Interjektion. Beide leisten m.E. eine Evaluation der zugehörigen Sachverhalte: einmal antizipierend in Bezug auf den Folgediskurs, das andere Mal den Vordiskurs retrograd evaluierend. Beide Male geht es dabei um etwas Extremes: einmal wird dabei dem Hörer angekündigt, dass er sich auf etwas Extremes vorbereiten kann, seine Erwartungsstruktur wird bearbeitet. Das andere Mal gibt der Hörer zu erkennen, dass seine Erwartungsstruktur auf extreme Weise gebrochen wurde.

Zusätzlich aber, so denke ich, geht es bei BOAH nicht nur um den Überraschungseffekt, sondern ebenso um die emotionale Betroffenheit von Sprecher oder Hörer, wie dies Ehlich (1986, 79) für die Nähe zwischen OH und AH beschrieb. Und diese Form der Betroffenheit zu kommunizieren, ist nun eigentlich ein Zweckbereich des Malfeldes, das 1986, wie gesagt, begrifflich noch nicht gefasst war. Es wird mit BOAH also nicht nur interaktional Eingriff auf den jeweils Adressierten genommen und ihm kenntlich gemacht, dass die Erwartungstruktur bearbeitet wird oder wurde. Sondern ebenso wird damit dem jeweils Adressierten kenntlich gemacht, welche emotionale Haltung der Äußernde dazu einnimmt, in welcher Weise also die extreme Evaluation eingeschätzt wird: positiv oder negativ.

Weitere Untersuchungen – vielleicht ja von Ilham Messaoudi – müssten jetzt anschließen, um zu klären, ob es in der gesprochenen Sprache tonale Differenzierungen gibt, die diese expressive Prozedur über dem grundsätzlich expeditiven BOAH operieren lassen und sie somit zu einer biprozeduralen Interjektion machen. Folglich ließe sich dann klären, ob es nur eine Konsequenz der Schriftlichkeit ist, dass diese Biprozeduralität sich auf eine expeditive reduziert, da die Intonation wegfällt, und der expressive Anteil dann kontextuell erschlossen werden muss.

 

*Boah! Ist jetzt doch ganz schön viel geworden! ;) Aber ich beginne, Gefallen zu finden, am Komplex der Interjektionen.

 

Literatur

Androutsopoulos, Jannis K. (1998): Deutsche Jugendsprache. Untersuchungen zu ihren Strukturen und Funktionen. Frankfurt a.M. etc.: Lang.

Dürscheid, Christa (2008): Welchen Stellenwert hat Jugendsprache im Unterricht? In: Denkler, Markus/Günthner, Susanne/Imo, Wolfgang/Macha, Jürgen/Meer, Dorothee/Stoltenburg, Benjamin/Topalović, Elvira (Hg.): Frischwärts und unkaputtbar. Sprachverfall oder Sprachwandel im Deutschen. Münster: Aschendorff.

Ehlich, Konrad (1979): Verwendungen der Deixis beim sprachlichen Handeln. Linguistisch-philologische Untersuchung zum hebräischen deiktischen System. 2 Bände. Frankfurt a.M., Bern, Las Vegas: Lang (Forum linguisticum, 24).

Ehlich, Konrad (1986): Interjektionen. Tübingen: Niemeyer.

Ehlich, Konrad (2009): Interjektion und Responsiv. In: Hoffmann, Ludger (Hg.): Handbuch der deutschen Wortarten. Berlin, New York: De Gruyter, S. 423–444.

Jäger, Ludwig (2008): Transkriptive Verhältnisse. Zur Logik intra- und intermedialer Bezugnahmen in ästhetischen Diskursen. In: Buschmeier, Gabriele/Konrad, Ulrich/Riethmüller, Albrecht (Hg.): Transkription und Fassung in der Musik des 20. Jahrhunderts. Beiträge des Kolloquiums in der Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Mainz, vom 5. bis 6. März 2004. Stuttgart: Franz Steiner, S. 103–134.

Longolius, Johann Daniel (1715): Einleitung zu gründlicher Erkaenntniß einer ieden/insonderheit aber Der Teutschen Sprache/Welcher man sich Zu accurater Untersuchung jeder Sprache/und Besitzung einer untadelhafften Beredsamkeit in gebundenen und ungebundenen Reden/Wie auch besonders In Teutschen für allerley Condition, Alter und Geschlechte/Zu einem deutlichen und nuetzlichen Begriff der Mutter=Sprache/bedienen kan. Kein Verlagsort: David Richter.

Meiler, Matthias (2013): Kommunikationsformenadressen oder: Prozeduren des Situationsvollzugs am Beispiel von Weblogs. In: Zeitschrift für angewandte Linguistik 59 (1), S. 51–106.

Redder, Angelika (1994): “Bergungsunternehmen” – Prozeduren des Malfeldes beim Erzählen. In: Brünner, Gisela/Graefen, Gabriele (Hg.): Texte und Diskurse. Methoden und Forschungsergebnisse der funktionalen Pragmatik. Opladen: Westdeutscher Verlag, S. 238–264.

Redder, Angelika (1998): Sprachbewusstsein als handlungspraktisches Bewusstsein – eine funktional-pragmatische Diskussion. In: Didaktik Deutsch 3 (5), S. 60–76.

Schlobinski, Peter/Kohl, Gaby/Ludewigt, Irmgard (1993): Jugendsprache. Fiktion und Wirklichkeit. Opladen: Westdeutscher Verlag.

Weinrich, Harald (2003): Textgrammatik der deutschen Sprache. 2., revidierte Auflage. Hildesheim, Zürich, New York: Olms.

  1. Zu diesen gibt es im übrigen eine Verschwörungstheorie, die der Spiegel kommentierte. Und auch Volkskundler haben sich damit beschäftigt und dabei vielleicht ein wenig über die Stränge geschlagen, wie die ZEIT meint.
  2. Was hier mit ‘hitler’ prädikativ charakterisiert wird, das Entfaven, müsste Johannes Paßmann explizieren.
  3. Redder (1994) konnte ich bisher noch nicht zur Kenntnis nehmen.

Quelle: http://metablock.hypotheses.org/423

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Archivwesen: Neue Entwicklungen und Erfahrungen im Bereich der digitalen Archivierung. Von der Behörden­beratung zum Digitalen Archiv

http://www.gda.bayern.de/publikationen/sonderveroeffentlichungen/ak-14.pdf 14. Tagung des Arbeitskreises “Archivierung von Unterlagen aus digitalen Systemen” vom 1. und 2. März 2010 in München, hrsg. von Susanne Wolf, München 2010. Zentrale Problemstellung bei der digitalen Archivierung ist die Bewertung, Übernahme und die Erhaltungsform von Fachverfahren der Behörden durch die Archive, weshalb diese Bereiche erneut thematisiert wurden. Ein Schwerpunkt der Tagung […]

Quelle: http://www.einsichten-online.de/2014/02/4960/

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Die Auswirkung des Lustprinzips auf Crowdsourcing

wasserfallDie Überschrift könnte suggerieren, dass es sich bei dem Bedürfnis nach Lustgewinn und Unlustvermeidung um einen reinen Spaßfaktor handelt. Den ganzen Tag Lachen und Freude – im Ernst, das wäre für jeden zuviel und ist so nicht gemeint.

 

Über- und Unterforderung

Worum es eigentlich geht, ist die Herausforderung, die für den Einzelnen weder zu leicht noch zu schwierig sein sollte. Über- und Unterforderung bedeutet Stress. Im Extremfall kann man bei quantitativer Überforderung in den Burnout geraten. Das leuchtet ein. Aber Unterforderung soll Stress sein? Jawohl! Diese Form der Unterforderung, wird mit Boreout bezeichnet. Menschen, die an ihrem Arbeitsplatz nicht genügend zu tun haben oder zu leichte Aufgaben zu bewältigen haben, leiden unter denselben Stresssymptomen wie die, die sich vor zuviel Arbeit nicht retten können. Das klingt paradox. Aber Fehler kann man machen, weil der Arbeitsanfall einfach zu groß ist und Zeitdruck besteht, oder weil man die Arbeit völlig lustlos mit einem gähnenden Gefühl der Langeweile erledigen soll. Bei beiden Formen kann es zu Persönlichkeitsveränderungen kommen, die z.B. in einer Depression enden können. (Es gibt noch weitere Auswirkungen, aber ich möchte nicht zu detailliert auf diese beiden Krankheitsbilder eingehen.)

Das ideale Anforderungsniveau

Ideal ist deshalb eine Aufgabe, die fordert, ohne zu über- oder zu unterfordern. Ist man dann ganz bei der Sache, also nicht mit sich selbst sondern den Dingen um sich herum beschäftigt, kann es zum Flow kommen. In diesem Zustand vergisst man die Zeit und erlebt ein Gefühl großer Sorgenfreiheit, weil sich unser Bewusstsein mit unserem Tun verbindet. Ein Grund dafür ist unsere Aufmerksamkeit: Sie wird auf ein begrenztes Reizumfeld fokussiert. Arbeitsergebnisse werden unwichtig. Auch das ist verständlich: würde man bei der Bearbeitung einer Aufgabe ständig daran denken, ein ganz bestimmtes Ergebnis erzielen zu müssen, würde man sein eigenes Handeln stärker kontrollieren. Csikszentmihalyi beschreibt das treffend wie folgt: „Was gewöhnlich im Flow verlorengeht, ist nicht die Bewußtheit des eigenen Körpers oder der Körperfunktionen, sondern lediglich das Selbst-Konstrukt, die vermittelnde Größe, welche wir zwischen Stimulus und Reaktion einzuschieben lernen.“

Gamification und Flow

Gamification, die Anreicherung einer Anwendung mit Features, die diese zu einem Spiel machen, ist derzeit ein großes Thema. Sicher ist es so, dass durch den Spielspaß die Anwendung eine höhere Attraktivität erhalten soll. Dadurch bleiben die Nutzer etwas länger bei der Stange. ARTigo ist hier als Beispiel für eine gamifizierte Crowdsourcing-Anwendung zu nennen. Ziel ist es, Tags für die Verschlagwortung der Bilddatenbank zu erhalten. Und „Verschlagwortung“ hört sich nicht gerade sexy an. Also warum nicht ein Spiel daraus machen?

Gamification und Flow gehören aber nicht zwangsläufig zusammen. Sicher kommt es durch Gamifizierung, wie etwa der Jagd nach Punkten durch eine Wettkampfsituation – vielleicht noch Zeitdruck – zu einer gewissen inneren Spannung beim Nutzer. Und möglicherweise kommt er dadurch in den Flow. Aber weit wichtiger als eine Wettkampfsituation ist das Anspruchsniveau der Aufgabe. Dies zeigt die folgende Rangfolge, in der Csikszentmihalyi 8 Gründe beschreibt, die „Aktivität erfreulich machen“. Untersucht wurden dabei Kletterer, Komponisten, Tänzer, Schachspieler und Basketballspieler:

  1. Lust an der Aktivität und an der Anwendung von Können,
  2. die Aktivität selber: das Muster, die Handlung, die darin liegende „Welt“,
  3. Entwicklung persönlicher Fähigkeiten und Fertigkeiten,
  4. Freundschaft, Kameradschaft,
  5. Wettbewerb, sich mit anderen messen,
  6. sich an eigenen Idealen messen,
  7. Ausleben von Gefühlen,
  8. Prestige, Achtung, Ruhm.

Am wichtigsten ist also die Aufgabe selbst, erst danach auf Platz 4, wird das Erleben von Gemeinschaft und auf Platz 5 die Wettbewerbssituation als attraktiv empfunden. Prestige und Ruhm, extrinsische Faktoren, liegen auf dem letzten Platz.

Die Gefahr von zuviel Flow: Sucht

Flow enthält Suchtpotential: Durch Gewöhnung kann man davon abhängig werden, so dass der Alltag daneben grau und eintönig wirkt. Bei zu starker Spezialisierung können Personen nur bei bestimmten Aufgabenstellungen in den Flow kommen. Alles andere wird als langweilig empfunden. Das ist durchaus bedenklich, denn Sucht setzt eine Abwärtsspirale in Gang. Wer hier an süchtige Computerspieler denkt, liegt nicht falsch. Aber auch ganz ehrenwerte berufliche Tätigkeiten beinhalten ein flowbasiertes Suchtpotential. Csikszentmihalyi hat hierzu Chirurgen befragt. Sie verglichen die Tätigkeit des Operierens mit einem Rausch. Einer der Befragten erzählte, wie er nach vielen Jahren ohne Ferien mit seiner Frau in den Urlaub fuhr. Bereits nach zwei Tagen, die beide mit Besichtigungen zugebracht hatte, fühlte er sich ruhelos und meldete sich beim örtlichen Krankenhaus. Den Rest seines Urlaubs verbrachte er mit Operieren.

Spaß bei der Arbeit ist das eine. Aber wenn sie zur Sucht wird, können die daraus resultierenden Folgen wie Alkoholismus, Familienzerrüttung und Selbstmord Leben gefährden und zerstören.

Was bedeutet das vorher Gesagte für Crowdsourcing?

  • Zunächst einmal sollte das ideale Anforderungsniveau beachtet werden. Eine Anwendung, die langweilt oder die Anwender überfordert, führt zu niedrigen Nutzerzahlen. Und wer es einmal ausprobiert hat und abgesprungen ist, kommt so schnell nicht wieder.
  • Ideal wäre, wenn der Anwender etwas lernen kann. Seine Fähigkeiten und Fertigkeiten verbessern kann, wie es ja weiter oben in der Aufzählung heißt.
  • Gamifizierung bietet die Möglichkeit, die Anwendung für die Nutzer erfreulich und genussvoll gestalten zu können. Aber: Eine Gamifizierung ist nicht alleiniger Garant für eine gelungene Anwendung.
  • Auch die Umsetzung des Gemeinschaftsgedankens ist ein Beitrag, eine Crowdsourcing-Anwendung attraktiv zu gestalten.
  • Die Umsetzung des Wettbewerbsgedankens ist ebenfalls ein gutes Element.
  • Wenn die Anwendung die Emotionen der Anwender anspricht, dann ist das ebenfalls ein Baustein für den Erfolg.

Deutlich wird hierbei, dass nicht ein Feature allein die Anwendung erfolgreich macht, sondern es auf eine gut abgestimmte Komposition ankommt.

Weitere Artikel dieser Serie:

  1. Auftakt zur Artikelreihe: Was macht Crowdsourcing erfolgreich?
  2. Crowdsourcing: Definition und Prozessbeschreibung
  3. Die Auswirkung von Kontrolle und Orientierung auf Crowdsourcing
  4. Die Auswirkung von Gemeinschaft auf Crowdsourcing
  5. Die Auswirkung von Selbstwerterhöhung auf Crowdsourcing
  6. Die Auswirkung von Lustgewinn und Unlustvermeidung auf Crowdsourcing

Literatur:

Csikszentmihalyi, Mihaly: Das Flow-Erlebnis. Jenseits von Angst und Langeweile: im Tun aufgehen. Stuttgart 2000, 8. Auflage

Bild: „Eine Tour zu den japanischen Wasserfällen“ von Katsushika Hokusai, 1833-34, Honolulu, Honolulu Academy of Arts. Digitale Quelle: www.artigo.org

Quelle: http://games.hypotheses.org/1550

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SUB Bremen digitalisiert Zeitungsbestände des 17. Jahrhunderts

Twitter sei Dank! habe ich heute erfahren, dass die Staats- und Universitätsbibliothek Bremen in Zusammenarbeit mit dem Institut für Deutsche Presseforschung der Universität Bremen ein groß angelegtes Digitalisierungsprojekt zu den Zeitungsbeständen des 17. Jahrhunderts unternimmt. So heißt es auf der Projektseite:

“Von Mai 2013 bis April 2015 werden in der SuUB Bremen die Zeitungen des 17. Jahrhunderts im Rahmen eines von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Projekts digitalisiert, katalogisiert, elektronisch erschlossen und anschließend auf dem Portal Digitale Sammlungen der SuUB Bremen online bereitgestellt. – Es handelt sich hierbei um ca. 605 Zeitungstitel, 300 Zeitungsunternehmen, 60.000 Ausgabenexemplare mit ca. 330.000 Seiten insgesamt.”

Das sind erfreuliche Neuigkeiten für die Greflinger-Edition, die u.a. auch die von Greflinger und seinen Nachfolgern (die beiden Söhne Ludwig und Friedrich Konrad Greflinger) zwischen 1664 und 1730 redaktionell betreute, zusammengestellte sowie gedruckte und selbst vertriebene Zeitung “Der Nordische Mercurius” editorisch und bibliographisch bearbeiten wird. Durch die Digitalisierung der (vermutlich vollständigen) Zeitungsbestände an der SuUB Bremen wird eine große Hürde genommen für das Greflinger-Projekt! Und selbstverständlich werden die von mir nach den Richtlinien der TEI P5 erfassten Texte der Zeitungen im Rahmen der GG_dHKA ebenfalls zur Nachnutzung unentgeltlich zur Verfügung gestellt werden.

Quelle: http://greflinger.hypotheses.org/52

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„Digital Humanities meets Information Science“

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Am 19. März 2014 findet der 5. Potsdamer I-Science Tag unter dem Motto “Digital Humanities meets Information Science” an der FH Potsdam statt (wir berichteten). Es werden zentrale Themen der Entwicklung der Digital Humanities und die Schnittstellen zu den Informationswissenschaften thematisiert.  Der I-Science Tag soll als Diskussionsforum für GeisteswissenschaftlerInnen verschiedener Disziplinen, BibliothekarInnen, ArchivarInnen und InformatikerInnen dienen.

Unter den entsprechenden Links finden Sie jetzt das vorläufige Programm sowie weitere Infos zur Tagung und Anmeldung.

Quelle: http://dhd-blog.org/?p=3050

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Propaganda im mittelalterlichen Mailand – das Wappen der Visconti

Die Schlange der Visconti ist ein noch heute sehr bekanntes, in italienischen Firmenlogos weiterlebendes Wappenbild. Auf den ersten Blick scheint es gerade durch seine einzigartige Komposition leicht zu entschlüsseln. Bei einer näheren Beschäftigung zeigt sich jedoch, wie schwer eine eindeutige … Continue reading

Quelle: http://heraldica.hypotheses.org/788

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Vom “Zeitalter der Extreme” zum “Jahrhundert der Chancen”

Ekkehard Klausa beim Montagsradio

Der englische Historiker Eric Hobsbawm (1917-2012) hat in den 1990er Jahren zwei Formeln geprägt, um das zerrissene 20. Jahrhundert zu beschreiben: “das Zeitalter der Extreme” und “das kurze 20. Jahrhundert”. Was genau wird mit diesen Formeln beschrieben? Ist die Rede vom “Zeitalter der Extreme” – 20 Jahre nach der Veröffentlichung von Hobsbawms “The Age of Extremes” – überholt? Mit welchen Begriffen lässt sich das 20. Jahrhundert alternativ fassen?

Mit diesen Fragen beginnt und endet das erste MONTAGSRADIO des “Supergedenkjahres” 2014, das auf der 7. Geschichtsmesse in Suhl aufgezeichnet wurde. Im Gespräch mit dem Juristen, Soziologen und Journalisten Dr. Ekkehard Klausa diskutieren Miriam Menzel und Patrick Stegemann darüber hinaus die Bedeutung des 20. Jahrhunderts für nationale und europäische Gründungsmythen und wagen eine Prognose für das 21. Jahrhundert als “Jahrhundert der Chancen”.

Ekkehard Klausa ist u.a. an der Gedenkstätte Deutscher Widerstand und der Freien Universität Berlin tätig. In der Reihe “MONTAGSRADIO – Vor Ort in Suhl”, gefördert von der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, werden im Februar und März 2014 drei weitere Gespräche zu diesen Themen veröffentlicht:

Mit der Medienwissenschaftlerin Dr. Anja Hawlitschek und der BStU-Mitarbeiterin Franziska Scheffler sprechen wir über die Digitalisierung der historisch-politischen Bildung in Form von Geocaching, Serious Games, E-Learning-Umgebungen und Co.

Mit dem Regisseur und Schauspieler Stefan Weinert sprechen wir über seinen mittlerweile preisgekrönten Dokumentarfilm “Die Familie”.

Mit Dr. Thomas Schleper, Leiter des Projektverbunds “1914 – Mitten in Europa”, diskutieren wir über neue Zugänge zur “Urkatastrophe” des 20. Jahrhunderts, die Vielfalt der europäischen Erinnerung an den Ersten Weltkrieg und Möglichkeiten der Synthese.

 

Für einen schnellen Überblick: die Timeline zum Gespräch mit Ekkehard Klausa

00:25 Zum Begriff „Zeitalter der Extreme“

03:10 Die europäische Dimension des „Zeitalters der Extreme“

05:12 Die Verrohung des Geistes am Beginn des „Zeitalters der Extreme“

08:45 Ist das „Zeitalter der Extreme“ vorbei?

12:50 Erinnerung an das “Zeitalter der Extreme”: Mahnung und geistige Integration

15:45 Nationale Gründungsmythen und europäische Erinnerungskultur

18:15 1989/90 & 2004: Happy End des “Zeitalters der Extreme”?

22:00 Alternativen zur Formel “Zeitalter der Extreme”

24:36 Prognose: Das 21. Jahrhundert als “Jahrhundert der Chancen”

26:30 Die “Gedenkstätte Deutscher Widerstand” im Supergedenkjahr 2014

28:30 Der MONTAGSRADIO-Fragebogen

 

Foto: Ekkehard Klausa zu Gast im MONTAGSRADIO (Kooperative Berlin)

Quelle: http://www.montagsradio.de/2014/02/14/vom-zeitalter-der-extreme-zum-jahrhundert-der-chancen/

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