In Dänemark dürfen Schüler/innen seit ein paar Jahren bei Klausuren und inzwischen auch bei Abiturprüfungen das Internet als Hilfsmittel benutzen. Die Vorstellung scheint auf den ersten Blick gewöhnungsbedürftig, das dänische Bildungsministerium positioniert sich aber eindeutig: “Es wird Zeit, dass die Realität Einzug hält in den Prüfungsalltag”; man wolle schließlich Schüler/innen auf das Leben vorbereiten. (Die Süddeutsche Zeitung berichtete am 17. Mai 2010)
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Ein Internetzugang bei Klausuren wirft Fragen auf: Wie würde sich das Lernen allgemein und die Vorbereitung auf Klausuren verändern? Stimmt es, dass man für Klausuren nichts mehr “pauken” müsste? Wie könnten geeignete Aufgabenformate aussehen? Tauschen sich die Schüler/innen via Kommunikationstools untereinander aus oder würden sie die Klausur sogar “extern” bearbeiten lassen? Und die Leistungsbewertung? Wären aufwändige Recherchen nach kopierten Textbausteinen notwendig? Wie eigenständig bleibt die Leistung der Schüler/innen? Antworten auf diese Fragen fallen für verschiedene Unterrichtsfächer unterschiedlich aus. In Latein etwa würde die online-Verfügbarkeit von Übersetzungstexten wahrscheinlich viele Prüfungsformate ad absurdum führen, in Chemie der online-Zugriff auf Formeln und Reaktionsmechanismen die Aufgabenkultur elementar verändern.
Im Fach Geschichte aber muss die Vorstellung, dass Schüler/innen sich während einer Klausur, beispielsweise einer Quellenanalyse, zur Informationsbeschaffung auf Internetsuche begeben, den Lehrer/innen keinen Schweiß auf die Stirn treiben. Wenn sich Schüler/innen im Vorfeld der Klausur nicht über historische Sinnzusammenhänge und hierfür relevante Begriffe, Ereignisse und handelnde Personen klar geworden sind, könnten sie mittels Internetzugriff wohl leicht einige Namen und Fakten nachschlagen, werden ad hoc und unter Zeitdruck aber kaum in der Lage sein, diese Informationen in einen reflektierten, übergeordneten Deutungszusammenhang zu stellen. Es wird also auch online nicht ohne Klausurvorbereitung gehen.
Es sind hingegen klare Vorteile erkennbar: Erstens ließen sich Lernen und die Reproduktion von Daten und Fakten auf Grundlegendes reduzieren. Höhere Anforderungsbereiche wie Wissenstransfer und Urteilsfähigkeit würden aufgewertet – was den Ansprüchen des Fachs entgegenkäme. Zweitens macht die Informationsbeschaffung im Netz stärker als das Lernen mit Darstellungstexten aus Geschichtsbüchern deutlich, dass Deutungsangebote über die Vergangenheit in Form verschiedener (oft in Überfülle abrufbarer) Narrative unterschiedlicher – mehr oder weniger seriöser – Autoren und Quellen perspektivisch, pluralistisch und kontrovers sind. Gerade bezogen auf die Geschichte, ihre verschiedenen geschichtskulturellen Ausprägungen und medialen Präsentationsmöglichkeiten verdeutlicht das Netz, dass Vergangenheitsdeutungen auf vielen Wegen beschritten und ausgehandelt werden. Deshalb stellt eine reflektierte Beurteilung online recherchierter Informationen ein besonderes Potenzial für das Geschichtslernen dar. Einfaches Abschreiben als bedenkenlose Übernahme fertiger Deutungen kann problematisiert und die Notwendigkeit von Quellenüberprüfung und -angaben eingeübt werden. Die Analyse- und Urteilsfähigkeit von Schüler/innen würde dadurch stärker ausgebildet.
Vorstellbare Herausforderungen und Probleme von online-Klausuren sind sicher zahlreich; hier nur zwei Aspekte. Die Diskussion erstens der Frage, ob und wie das Netz und hier besonders Kommunikationstools Möglichkeiten zum Schummeln bieten, sollte zunächst berücksichtigen, dass Schüler/innen immer auch schon “analog” gepfuscht haben. Und bereits heute kann wohl kaum effektiv verhindert werden, dass Smartphones in die Schultoilette geschmuggelt werden. Dem würde ein offener Umgang mit dem Netz entgegenwirken. Ob sich allerdings Nachfragen und Absprachen zwischen den Prüflingen oder mit der Außenwelt vermeiden lassen, scheint fraglich. Auch würden mit der Zeit vermutlich immer mehr Klausuraufgaben und -lösungsvorschläge im Netz kursieren. Am ehesten könnte man dem durch veränderte, offenere und verschiede Kompetenzbereiche berücksichtigende Aufgabenformate entgegenwirken. Zweitens ergeben sich neue, wahrscheinlich höhere Ansprüche an die Korrekturarbeit der Lehrer/innen, die im Zweifelsfall Textpassagen auf ihre Herkunft oder das Zustandekommen wortgleicher Antworten bei verschiedenen Schüler/innen rekonstruieren müssten.
Der dänische Weg – so viel abschließend – ist jedenfalls genauso anregend und diskussionswürdig wie die Frage, ob und wie sich allgemein die Lern- und Aufgabenkultur an den Schulen, speziell Prüfungsformate, Klausuren und zentrale Abiturpürfung angesichts des digitalen Wandels neuen Herausforderungen stellen müssen. Abzuschätzen, ob und wann das erste Bundesland in Deutschland in ein “Abitur2.0″ einsteigt, scheint indessen schwierig.
empfohlene Zitierweise Pallaske, Christoph (2013): nachgefragt | Geschichtsklausuren schreiben mit Internet? In: Historisch denken | Geschichte machen | Blog von Christoph Pallaske, vom 6.11.2013. Abrufbar unter URL: http://historischdenken.hypotheses.org/2172, vom [Datum des Abrufs].
Quelle: http://historischdenken.hypotheses.org/2172