Im Strudel der Politik: Diskussionen um Institute zur Vergangenheitsaufarbeitung in Tschechien und der Slowakei

Seit seiner Gründung im Jahr 2007 hat das tschechische “Institut für das Studium totalitärer Regime” (Ústav pro studium totalitních režimů, ÚSTR) fünf Mal den Direktor gewechselt. Immer wieder wird das Institut, das sich mit der Zeit der nationalsozialistischen und kommunistischen Regime in Tschechien beschäftigen soll, zu einem Spielball der sich streitenden politischen Parteien. Auch dem slowakischen Pendant, dem Institut für nationales Gedenken (Ústav pamäti národa, ÚPN), ergeht es nicht viel besser, da es keinen ständigen Sitz hat und immer wieder umziehen muss. Ursache dafür sind unter anderem grundlegende Fehler, die schon bei der Gründung dieser Institute, die aufgrund der gemeinsamen tschechoslowakischen Vergangenheit viele Verbindungen aufweisen, erfolgt sind.

Das ÚSTR sei mit einem Geburtsfehler auf die Welt gekommen. So äußerte sich vor zwei Jahren der Historiker Michal Kopeček in einem Interview mit Radio Prag1. Der Anlass des Interviews war damals die Abberufung von Daniel Herman, des vierten Institutsdirektors in fünf Jahren. Kopeček sah den Geburtsfehler darin, dass das Institut 2007 von einer rechtsgerichteten Regierung initiiert und gegen den Willen der linken Parteien – der Sozialdemokratie und der Kommunisten – durchgesetzt worden war. Außerdem sei dadurch, dass sowohl der Verwaltungsrat als auch der wissenschaftliche Beirat vom Senat gewählt werden, die Politisierung des Instituts, das die Akten der Staatssicherheit zugänglich machen und die Ära der Diktatur erforschen soll, vorprogrammiert.

Auch wenn das slowakische ÚPN 2002 von einer Regierung, an der sowohl Parteien des rechten als auch eine Partei des linken politischen Spektrums beteiligt waren, durchgesetzt wurde, war seine Gründung nicht weniger umstritten. Das entsprechende Gesetz wurde vom Präsidenten abgelehnt und ins Parlament zurückgeschickt. Dabei kritisierte der Präsident nicht konkrete Abschnitte des Gesetzes, wie es bei mehreren anderen zurückgeschickten Gesetzen der Fall war, sondern lehnte es als Ganzes ab. Das Veto des Präsidenten wurde auf der letzten Parlamentssitzung vor den Wahlen überstimmt und das Gesetz trat in Kraft, obwohl sich der Präsident weiterhin weigerte, es zu unterzeichnen. Die damals stärkste Partei im Parlament – die Bewegung für die demokratische Slowakei (HZDS) – sowie die nationalistische Slowakische Nationalpartei (SNS) lehnten das Gesetz ab.

Der Regierungswechsel von 2006 brachte eine Koalition aus SMER (Sozialdemokraten), HZDS und SNS an die Macht. 2007 wählte diese Koalition Ivan Petranský zum Institutsdirektor, nachdem mehrere umstrittene Kandidaten in der Abstimmung durchgefallen waren. 2008 schlug der Vorsitzende der SNS, Ján Slota, vor, den ÚPN aufzulösen. Dabei bestritt er, dass dieser Vorschlag mit den negativen Informationen über ihn, die das Institut kurz zuvor veröffentlicht hatte, im Zusammenhang stehe. Trotz der Unterstützung von HZDS, die aus ihrer negativen Einstellung zum Institut nie ein Hehl gemacht hatte, scheiterte dieser Versuch am Widerstand der größten Koalitionspartei – SMER. 2011 warf der Institutsdirektor Petranský der neuen Regierung der Ministerpräsidentin Iveta Radičová vor, dass sie mit einer Reform des Gesetzes über das nationale Gedenken die Unabhängigkeit des Instituts beseitigen wolle. 2012, nachdem neun Institutsmitarbeitern gekündigt worden war, wurde in den Medien behauptet, dass es sich dabei um „Säuberungen“ handle und Petranský seine Opponenten und Kritiker loswerden wolle, auch weil er wisse, dass nach dem Sturz der Regierung von Radičová nun wieder SMER an die Macht gelangen und Petranský damit Rückendeckung bekommen werde.

Eine ähnliche Entwicklung lässt sich auch in Tschechien beobachten. Nach der Verabschiedung des Gesetzes zur Gründung des ÚSTR versuchten sozialdemokratische Abgeordnete vor dem Verfassungsgericht, die Abschaffung des Gesetzes und damit des Instituts zu erwirken, aber die Verfassungsrichter lehnten dies ab. 2010 beschuldigte der Vorsitzende der Sozialdemokraten Jiří Paroubek das Institut, sich in den Wahlkampf einzumischen und im Auftrag der Demokratischen Bürgerpartei (ODS) zu agieren. Später sagte Paroubek in einem Interview, dass das Institut abgeschafft gehöre. Die eingangs erwähnte Abberufung des Direktors Herman in den Verwaltungsrat im Jahre 2013 sahen Bürgerdemokraten als Pakt der Sozialdemokraten und der Kommunisten und bezeichneten ihn als einen „linken Putsch“. Der Ministerpräsident Petr Nečas von der ODS behauptete in diesem Zusammenhang, dass die Paralysierung des Instituts eine Bedingung der Kommunisten für die Zusammenarbeit mit den Sozialdemokraten nach den Wahlen gewesen sei. Darauf reagierte der Vorsitzende der Sozialdemokraten Bohuslav Sobotka und versicherte, dass er nicht vorhabe, den ÚSTR aufzulösen.

An diesen Auseinandersetzungen ist deutlich zu erkennen, dass beide Institute bei nahezu jedem Regierungswechsel von Streitigkeiten um ihre Rolle, von Reformen und Änderungen oder sogar von der Gefahr der Schließung betroffen sind. Warum ist es Politikern in beiden Ländern so wichtig, auf diese Institute Einfluss zu nehmen? Kopeček sieht das Problem des ÚSTR in der Definition seiner Aufgaben begründet. Diese widersprechen sich teilweise, denn das Institut soll auf der einen Seite unabhängige historische Forschung betreiben, auf der anderen Seite politische Bildung und Förderung eines bestimmten Geschichtsbildes übernehmen. Auch die Liste der Aufgaben des slowakischen ÚPN ist lang und umfasst unter anderem die „vollständige und unparteiische Bewertung der Zeit der Unfreiheit“, die auch an die Öffentlichkeit getragen werden soll, sowie die Propagierung der Ideen der Freiheit und der Verteidigung der Demokratie2. Dass es auch anders geht, zeigt Kopeček am Beispiel von Deutschland, wo solche Aufgaben zwischen drei Institutionen (Behörde des Bundesbeauftragten für Stasi-Unterlagen, Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur und Bundeszentrale für politische Bildung) aufgeteilt seien.

Angesichts des Bildungsauftrags des slowakischen und des tschechischen Instituts überrascht es nicht, dass jede politische Partei Interesse daran hat, das propagierte Geschichtsbild in eine bestimmte Richtung zu lenken. Zugleich ist mit der politischen Abhängigkeit der Institute die Gefahr verbunden, dass jede Änderung oder Kündigung, egal aus welchem Grund, als politisch motivierte Säuberung beziehungsweise als ein Versuch, das Institut für sich und für die eigene Partei einzunehmen, ausgelegt werden kann. Und dies wird vom politischen Gegner gerne genutzt, wie die skizzierten Kontroversen verdeutlichen.

Erneute Konflikte bahnten sich im Spätherbst 2014 an. In Tschechien waren Mitarbeiter des ÚSTR entlassen worden, auch waren die Zuständigkeiten bei der Digitalisierung des Archivmaterials geändert worden. Einige Medien und Gewerkschaften sprachen in dem Zusammenhang von Säuberungen. Auch äußerten einige Kommentatoren den Verdacht, dass hinter den neu vergebenen Zuständigkeiten zwischen dem Institut und dem Archiv der Sicherheitsdienste die Absicht stehe, die Digitalisierung der Dokumente zu behindern und den Historikern des Instituts den Zugang dazu zu erschweren. In der Slowakei suchte das ÚPN einen neuen Sitz, nachdem der Gebäudebesitzer – das Verkehrsministerium – den Mietvertrag nicht verlängert hatte. Dadurch musste das Institut zum siebten Mal seit seiner Gründung umziehen. Mit den Räumen, die das Innenministerium dem ÚPN vorgeschlagen hatte, zeigten sich die Institutsmitarbeiter unzufrieden, da diese ihrer Ansicht nach im desolaten Zustand waren. Zudem böten die neuen Räume keine langfristige Lösung des Problems, da der Vertrag wieder nur für wenige Jahre geschlossen wird. Die Kritiker der Vorgänge in beiden Ländern wiesen dabei gerne darauf hin, dass die „Liquidierung“ der Institute pünktlich zum 25. Jahrestag der Samtenen Revolution erfolge.

Inzwischen hat sich die Lage in beiden Ländern beruhigt. Das ÚPN zieht gerade um und ab dem 1. Mai 2015 nimmt es in den neuen Räumlichkeiten, gegen die sich die Mitarbeiter erfolglos gewehrt haben, seine Arbeit wieder auf. Im ÚSTR wurden weniger Mitarbeiter entlassen als zunächst angekündigt, und die neue Satzung trat am 1. April 2015 in Kraft. Ob sich damit die Praxis der Digitalisierung tatsächlich ändert und der Zugang zu Dokumenten erschwert wird, bleibt abzuwarten. Dagegen ist mit Sicherheit davon auszugehen, dass die politische Debatte um beide Institute damit nicht beendet sein wird, sondern in Zukunft wieder aufflammen wird, denn der Geburtsfehler, von dem Kopeček im Falle des tschechischen Instituts sprach und der auch für das slowakische ÚPN gilt, wurde bis jetzt weder in der Slowakei noch in Tschechien behoben. Genau genommen handelt es sich sogar um zwei Geburtsfehler –erstens die starke Abhängigkeit von der Politik und zweitens die Formulierung von Aufgaben, die sich teilweise widersprechen. Die Beschränkung des Einflusses der Politik auf die Institute sowie ihre eindeutige Zuordnung entweder zum Bereich der politischen Bildung oder zur unabhängigen Forschung wären wichtige Voraussetzungen für die Entspannung der Lage. Diese Maßnahmen könnten dem ÚPN und dem ÚSTR ein Funktionieren jenseits der Destabilisierung durch immer neue Reformen und die Gefahr der Schließung ermöglichen. Es ist aber ungewiss, ob sich in der Zukunft überhaupt jemand an diese Aufgabe macht, denn dem Vorwurf der „Politisierung des Instituts“ wird er kaum entgehen können.

[Dieser Beitrag ist eine aktualisierte und überarbeitete Version des Beitrags „ÚPN und ÚSTR im Wirbel der Politik“, der auf der Webseite http://www.history-east.eu/ im November 2014 veröffentlicht wurde.]

  1. S. dazu „Politisierung war vorprogrammiert“ – Historiker Kopeček über Totalitarismus-Institut ÚSTR”, 29.04.2013 http://www.radio.cz/de/rubrik/politgesprach/politisierung-war-vorprogrammiert-historiker-kopecek-ueber-totalitarismus-institut-ustr
  2. Zákon č. 553/2002 Z. z. o sprístupnení dokumentov o činnosti bezpečnostných zložiek štátu 1939 – 1989 a o založení Ústavu pamäti národa a o doplnení niektorých zákonov (zákon o pamäti národa).

Quelle: http://erinnerung.hypotheses.org/14

Weiterlesen

Unterwegs verloren? NS-Gedenkstätten und ‚kritisches Geschichtsbewusstsein‘

Von Cornelia Siebeck Während unseres gemeinsamen Versuchs einer gesellschafts- und gedächtnispolitischen Standortbestimmung der bundesrepublikanischen NS-Gedenkstätten auf der Bremer Gedenkstättenkonferenz wurden nicht wenige drängende Fragen angesprochen. In meinen eigenen Beiträgen habe ich vor allem den zunehmenden Verlust des gegenwartskritischen und widerspenstigen Charakters von NS-Gedenkstätten thematisiert. Im Gegensatz zu manch anderen halte ich besagten Verlust nicht für eine quasi-natürliche Entwicklung. Was oft als Resultat des nun einmal wachsenden zeitlichen Abstandes zur ‚Anlassgeschichte‘ und damit einhergehender Generationswechsel beschrieben wird, ist meines Erachtens auch und vor allem auf … Unterwegs verloren? NS-Gedenkstätten und ‚kritisches Geschichtsbewusstsein‘ weiterlesen

Quelle: http://erinnern.hypotheses.org/194

Weiterlesen

Die Peregrinatio des Columban von Luxeuil. Selbstaufgabe im frühmittelalterlichen irischen Christentum

Ein Gastbeitrag von Tord Hendrik Grobe, M.A.

Um sich der heute fremden Welt des frühmittalterlichen und spätantiken Mönchtums anzunähren, ist es notwendig, das Konzept der Peregrinatio zu betrachten (Das Beitragsbild zeigt St. Gallus).1 Die Selbstidentifikation des frühmittalterlichen Christen, sei es in Irland oder Syrien, war geprägt von der Vieldeutigkeit dieses Begriffes. Im heutigen Verständnis wird dieses lateinische Wort in den meisten Fällen mit Pilgerschaft übersetzt. In der römischen Antike hatte es jedoch eine andere Bedeutung.2 Peregrinatio bedeutete in der Antike die Abwesenheit einer Person von allem Vertrauten, einen Aufenthalt in der Fremde, welcher als „Mühsal“ empfunden wurde. Seneca sah in der Peregrinatio einen Verlust der Freunde, der die Seele arm und das Leben nicht mehr lebenswert mache.3 Auch im römischen Rechtsvokabular hatte dieser Begriff eine Bedeutung. Im Rechtsgebrauch der römischen Republik und des frühen Kaiserreichs ist der Peregrinus eine Person, die kein römisches Bürgerrecht besaß, aber als freier Mann im römischen Herrschaftsraum lebte.4

Als Kaiser Caracalla im Jahre 212 n. Chr. allen Untertanen das römische Bürgerrecht verlieh, erlangte Peregrinatio im sich entwickelndem Christentum einen neuen Bedeutungsinhalt.5 In der christlichen Tradition sollte die Peregrinatio als Begriff für eine asketische Haltung, die mit Pilgerschaft verbunden war, eingehen. Zwar wurde Peregrinatio in der spätantiken christlichen Literatur auch für die Wallfahrt benutzt, dies geschah jedoch seltener und wurde mit dem Zusatz sacra versehen: Peregrinatio sacra.6 Der christliche Wortgebrauch kann als „Aufbrechen in das Unbekannte“ oder als „Verweilen in der Fremde“ wiedergegeben werden. Das Leben eines Christen auf der Erde wurde als Peregrinatio verstanden. Jean Leclercq beschrieb die Peregrinatio im Christentum so:

„Peregrinus ist der, der den Himmel ersehnt: er seufzt, er ist unbefriedigt auf Erden, er strebt zum Vaterland. Dieses ist der Fall eines jeden Christen. In engere Umgrenzung ist […] Peregrinus ein Christ der um die Sehnsucht nach dem Jenseits, ihm sich zu nähren auf alles verzichtet was ihn auf Erden sesshaft machen könnte. Er zieht in ein Land dessen Sprache er nicht kennt, wo er nicht die Rechte geniest die dem civis garantiert sind“.7

Das Mönchstum der Spätantike und des Frühmittelalters war stark von dieser Vorstellung der Pilgerschaft beeinflusst. So zogen sich die frühen Mönche Ägyptens in die Wüste zurück8 oder gingen weite Strecken wie Martin von Tours, der von Pannonien nach Gallien wanderte, um der Welt ein Fremder zu werden.9 Das Wandern wurde als Gang in die Verbannung verstanden, als asketische Läuterung, die den Mönch zur höchsten Vollkommenheit führen sollte.10 Aber nicht das Wandern, das sich Entfernen von allem Vertrauten war wichtig, sondern das Fremdsein in der Welt.11
In der Tradition der Peregrinatio nahmen als Berufungsworte Gen 12., Mt. 19. 29 und Mt. 16. 24 eine besondere Stellung ein.12 Als biblische Grundlage der Peregrinatio wurde die Berufung Abrahams und sein Auszug aus der Heimat (Gen.12.1-4)  genutzt.13 Dies entfaltete schon im Frühchristentum eine starke Wirkungsmacht: so werden im Hebräerbrief 11. 13 Abraham und seine Nachkommen als Gäste auf Erden bezeichnet.14 Im 1. Petrusbrief 2. 11 wurde diese Vorstellung auf alle Christen übertragen.15 Auch der Exodus der Stämme Israels aus Ägypten galt den Kirchenvätern als Beispiel der Peregrinatio. Das Schicksal Abrahams und Moses wurden zum Symbol einer „Grundbefindlichkeit des Lebens des Christen in der Welt“.16
Der bedeutende Theologe John Cassian (360–435) forderte nach dem Vorbild Abrahams von den Mönchen einen dreifachen Auszug, um sich aus der Welt zu lösen: den Verzicht auf eine Heimat, die Aufgabe allen weltlichen Besitzes und das Verlassen der Verwandtschaft und des Elternhaus.17
Auch die Neuen Testamente wurden genutzt, um die Peregrinatio zu definieren. Die Forderung Jesus zur Aufgabe jeglichen Besitzes und das Loslösens aus dem vertrauten Umfeld wurde als Appell für das des unblutigen Martyriums des Asketen verstanden und war besonders für das Mönchtum wichtig.18 Für den heiligen Hieronymus sind die Mönche die Vollkommensten, die das Loslösen befolgen, da sie als Lohn die Fesseln der Welt abstreifen können.19 Bei Cassian wurde es als Pflicht eines Mönches betrachtet, seine Person abzutöten, indem er absolut asketisch lebte und sich völlig der Gehorsamspflicht gegenüber dem Abt hingab. Als Asket war er für die Welt gestorben und erlangte so das „Martyr vivus“.20 Der Mönch folgte Jesu durch das unblutige Martyrium nach.

Das Ziel der Peregrinatio, der Welt ein Fremder zu werden, strebte auch der iroschottische Missionar Columban der Jüngere (615) konsequent an. In seinem Sermon VIII wird dieses sehr deutlich.21 Der Rückzug von der Welt bedeutete ihm die Hinwendung zur wahren Heimat des Gläubigen, dem Himmel. So verglich Columban das Leben mit einer Straße und einem Schatten: „[…] iam enim diximus viam esse humanam vitam, et quam sit dubia et incerta, et non esse quod est“.22 Für Columban war es notwendig die Straße des Lebens schnell hinter sich zu lassen, um den Frieden der wahren Heimat zu erlangen.23 Die Welt schien ihm weniger real, als die Allmacht Gottes. Die Welt sollte, so verlangte es Columban, verachtet werden und die Gedanken immer auf das Ende des Weges gerichtet sein. ((Vgl. ebd.)) Diese Selbstaussagen Columbans sind „altbekannte Vorstellungen der asketischen Tradition“.24

Jonas von Bobbio stellte die Abwendung Columbans von der Welt in mehren Phasen dar und nutzte dazu die Berufungsworte Gen 12., Mt. 19. und Mt. 16.25 Die erste Phase war das Verlassen des Elternhauses. Direkt zitiert wird: Mt, 19. 29. Columban verließ Leinster und begab sich nach Norden, in das Königreich von Oriel26 zu dem gelehrten Sinulls.27 Dieser ist relativ sicher als Sinell, Sohn des Mianiach, Abt von Clean Inis in Lough Erne identifiziert worden. Jonas berichtete, dass Columban hier eine sehr gute Ausbildung in Theologie erhielt.28 Doch Columban setzte seine Peregrinatio fort, indem er in das vom Abt Comgall geführte Kloster Bangor eintrat.29 Wo er, wie Jonas berichtete, sich selbst verleugnete und das Kreuz auf sich nahm. Er wurde Mönch30. Unter dem Eindruck der Berufung Abrahams erwachte in ihm der Wunsch, die Peregrinatio in der Fremde fortzuführen.31 Nun begann die zweite Phase der Peregrinatio, das Verlassen der irischen Heimat. In der christlichen, irischen Tradition das größte Opfer, welches ein Asket zu bringen vermag.32 Das alte irische Recht kannte keine höhere Form der Strafe als zwei unterschiedlichen Formen der Verbannung.33 Erstens: die Verbannung aus dem eigenen Königreich. Die so Gestraften, wurden Ambue34 genannt und waren auf die Mildtätigkeit anderer angewiesenen. Zweitens: die schwerste Strafe, die das alte Irland kannte: der Übeltäter musste die Insel verlassen, die er mit seiner bloßen Anwesenheit verseuchte, er wurde zu einen Cu glas.35 In ein Boot gesetzt wurde er Wind und Wellen überlassen, und der Gnade Gottes überantwortet.36 Hier liegt der Kern des irischen Verständnisses der Peregrinatio. Asketen übernahmen die Rolle eines Verbannten, zuerst aber nur in Irland selbst.37 Dieses entspricht der ersten Phase der Peregrinatio bei Jonas.

Als im späten siebten Jahrhundert die Asketen in Irland Rechte und Schutz erhielten, die denen eines Königs oder Bischofs gleichkamen, war die Selbstentsagung in Irland nur noch eingeschränkt möglich.38 Die Identifizierung des Peregrinus mit dem Cul glas bot eine Alternative, die in Irland als die höchste Form der Peregrinatio verstanden wurde. Die Überquerung des Meeres, welches im alten Irland als ein feindlicher, fremder Ort verstanden wurde, an dem der Gläubige Gott sehr nahe war, brachte den Peregrinus ein gutes Stück näher zu Gott.39 Am Anfang dieser Entwicklung stand Columban der Jüngere, er war der erste irische Mönch, von dem wir wissen, dass er freiwillig die größere Peregrinatio auf sich nahm.40

  1. URL: https://de.pinterest.com/pin/498210777503800105/
  2. Vgl. Leclercq, Jean: Mönchtum und Peregrinatio im Frühmittelalter. In: Römische Quartalschrift für Christliche Altertumskunde und Kirchengeschichte 55, 1950, S. 213.
  3. Vgl. ebd. S. 214.
  4. Vgl. Kötting, Bernard: Perignatio Religiosa. Wallfahrten in der antike und Pilgerwesen der alten Kirche, Münster 1950, S. 7-11.
  5. Vgl. Albert, Andreas: Untersuchung zum Begriff Peregrinatio bzw. Peregrinus in der benediktinischen Tradition des Früh- und
    Hochmittelalters. St. Ottilien 1992, S. 10.
  6. Vgl. Kötting: Perignatio Religiosa, S. 7-11.
  7. Leclercq: Mönchtum und Peregrinatio im Frühmittelalter, S. 215.
  8. Vgl. Lohse, Bernard: Askese und Mönchtum in der Antike und in der alten Kirche. Wien 1969, S. 190-197.
  9. Leclercq: Mönchtum und Peregrinatio im Frühmittelalter, S. 215.
  10. Vgl. Albert: Untersuchung zum Begriff Peregrinatio bzw. Peregrinus in der benediktinischen Tradition des Früh- und
    Hochmittelalters, S. 11.
  11. Vgl. Meinold, Ursula: Columban von Luxeuil im Frankenreich. Marburg 1981, S. 18.
  12. Vgl. Angenendt, Arnold: Monarchi peregrini. München 1972, S. 136-137.
  13. Der Herr sprach zu Abraham: ziehe weg aus deinem Land, aus deiner Verwandtschaft und aus dem Vaterhaus, in das Land, das ich dir zeigen werde […]. Da zog Abraham weg, wie der Herr ihm gesagt hatte […].
  14. Diese alle starben im Glauben, erlangten aber die Verheißung nicht, sondern sahen es nur von fernen und bekannten, dass sie Gäste und Fremdlinge auf Erden waren.
  15. Liebe Brüder, ich ermahne euch als Fremdlinge in dieser Welt: Haltet euch frei von Eigensucht und Begierde [..].”
  16. Albert: Untersuchung zum Begriff Peregrinatio bzw. Peregrinus in der benediktinischen Tradition des Früh- und Hochmittelalters, S. 26.
  17. Vgl. ebd. S. 32.
  18. Vgl. Mt. 19. 29.: “Und jeder, der Häuser oder Brüder oder Schwestern oder Vater oder Mutter oder Kinder oder Äcker verlässt, um meines Namens willen, der wird hundertfach wieder empfangenen und das ewige Leben erben.“; Angenendt: Monarchi peregrini, S. 133ff.
  19. Vgl. Leclercq: Mönchtum und Peregrinatio im Frühmittelalter, S. 214.
  20. Vgl. Angenendt: Monarchi peregrini, S. 133; Lohse: Askese und Mönchtum in der Antike und in der alten Kirche, S. 224-226.
  21. Einen Überblick über die Sermone bietet Sancti Columbani Opera. Scriptores Latini Hiberniae, Volume II, hgg. v. Walker, Dublin 1970, S. xxxix-xliv.
  22. Columban: Instructio VIII. Hgg. v. Walker, 2Dublin 1970, S. 94: „[…] foe we have already said that human live is a roadway, and by the likeness of a shadow we have show how doubtful it is and uncertain“.
  23. Vgl. Columban: Instructio VIII., S. 94.
  24. Angenendt, Arnold: Die irische Peregrinatio und ihre Auswirkungen auf dem Kontinent vor dem Jahre 800. (Die Iren und Europa im frühen Mittelalter 1), Stuttgart 1982, S. 52.
  25. Vgl. Angenendt: Monarchi peregrini, S. 137.
  26. Nordirisches Königreich, liegt an der irischen See. Vgl. Richter, Michael: Irland im Mittelalter. Münster 2003, S. 41.
  27. Vgl. Freiherr von Stein Gedächtnis Ausgabe, Bd. 4. Ionae Vitae Columbani liber primus, S. 414.
  28. Vgl. Bullock, Donald: The career of Columbanus. Woodbrige 1997, S. 4-6; Ionae Vitae Columbani liber primus, S. 414.
  29. Vgl. Gwynn, John: The irish monastery of Bangor. In: Melanges Colombaniens. Actes du Congres international de Luxeuil, 20-23 Juillet 1950, Paris 1950, S. 47-54.
  30. Vgl. Ionae Vitae Columbani liber primus, S. 415. Auch in dem Sermon X. spricht Columban dieses Thema an , in dem er sagt, dass, wer nicht das Martyrium auf sich nehmen kann, sich den eigenen Willen abtöten und nicht mehr für sich selbst leben soll (vgl. Columban: Instructio VIII, S. 102).
  31. Vgl. Ionae Vitae Columbani liber primus, Bd. 4, S. 415.
  32. Vgl. Charles-Edwards, Thomas M.: The social Background of the irish Peregrinatio. In: Celtica 11, 1976, S. 43ff.
  33. Angenendt: Die irische Peregrinatio und ihre Auswirkungen auf dem Kontinent vor dem Jahre 800, S. 52.
  34. Heißt übersetzt: Fremder. Vgl. Charles-Edwards: The social Background of the irish Peregrinatio, S. 46f.
  35. Heist übersetzt: Grauer Wolf. Vgl. Charles-Edwards: The social Background of the irish Peregrinatio, S. 46.
  36. Vgl. ebd., S. 49ff.
  37. Vgl. ebd., S. 57-59.
  38. Richter, Michael: Irland im Mittelalter. Münster 2003, S. 69.
  39. Siehe auch die Seefahrt des heiligen Brendan. Vgl. O Croinin, Daibhi: Early medival Irland. 400-1200, New York 1996, S. 220-221
  40. Die Peregrinatio anderer irischer Heiliger war, wenn sie Irland verließen, nicht völlig freiwillig, meist war sie eine Strafe. Dies wird besonders deutlich bei Columba von Iona. Vl. Richter: Irland im Mittelalter, S. 62.

Quelle: http://zeitraeume.hypotheses.org/304

Weiterlesen

You never change your sex in Cairo

In einem Text von Jakob Skovgaard-Petersen (das Buch teils bei Google books, der Text ohne Fußnoten hier verfügbar und eine frühere Aufsatz-Fassung hier) lerne ich von einer geschlechtsverändernden Operation in Kairo 1988 und einer in diesem Zusammenhang erstellten Fatwa. Es geht um einen ägyptischen Medizinstudenten Sayyid Abd Allah, der sich nach einer Geschlechtsumwandlung Sally Abd Allah nannte und dessen Geschichte in Ägypten seinerzeit wohl ein großes Thema in der Presse war. Die Geschlechtsumwandlung hatte offenbar einen gewissen Skandal verursacht, oder genauer: Eine rigide Geschlechtertrennung, […]

Quelle: http://intersex.hypotheses.org/284

Weiterlesen

DH-Kolloquium I – Onkel Rick erzählt vom Krieg

“Wie stehst du zu den Digital Humanities?” ist eine Frage geworden, um die man als Geisteswissenschaftler, vor allem als einer, der irgendwie auch mit der Erstellung und Nutzung von Software zu tun hat, nicht mehr herumkommt.

Von außen mag es ja so aussehen, als wenn ich zwangsläufig DHer bin, schließlich bin ich mit für einen Studiengang verantwortlich, der als einer der ersten tatsächlich ein DH-Curriculum anbot (auch wenn “Informationsverarbeitung” draufsteht) – und stellvertretender Sprecher eines Zentrums, welches die DH in Köln vertritt (auch wenn es Cologne Center for e-Humanities / CCeH heißt). Dazu sind die beiden den Studiengang Informationsverarbeitung in Zukunft tragenden Lehrstühle momentan neu explizit als DH-Professuren ausgeschrieben. Zeit also, um darüber nachzudenken, meinen Status als Computerlinguist zu überdenken und mich als DHer neu zu erfinden?

dhfeld

Einzelwissenschaften und ihre Ausrichtung auf die Digital Humanities. Oder umgekehrt? (aus Sahle 2013)1

Durch meine (mir irgendwie zugefallene Funktion) im CCeH erhielt ich tatsächlich einmal einen Einblick in die Arbeitswelt von Wissenschaftler|inne|n jenseits der maschinellen Analyse von Textdaten. Und konnte auf der anderen Seite dort Ideen in Forschungsanträgen unterbringen, die eher aus dem von mir gemeinhin bearbeiteten Bereich stammen. Alles in allem entwickelte sich ein durchaus fruchtbarer Austausch, den die Beteiligten weiter verfestigen wollten – was liegt da an einer Uni näher als eine gemeinsame Lehrveranstaltung? Also startete ich mit Patrick Sahle (Geschäftsführer des CCeH), Franz Fischer (Projektmanager DiXiT) und Claes Neuefeind (Mitarbeiter am Lehrstuhl für Sprachliche Informationsverarbeitung, wie ich) die Planung für ein gemeinsames Kolloquium, das wir nutzen wollen, uns gegenseitig, aber auch interessierten Studierenden Einblick in unser Verständnis von DH zu geben.

Den Anfang machte gestern mein geschätzter und im DH-Umfeld weithin bekannter Kollege Patrick Sahle, indem er die Frage aufwarf, was denn die Digital Humanities überhaupt seien. Als (noch, gefühlter) DH-periphärer Wissenschaftler scheint mir diese Frage innerhalb diese Forschungszweiges die meistdiskutierte überhaupt zu sein. Wahrscheinlich gilt aber für alle Forschungsfelder, die im Begriff sind, ein Fach (also quasi institutionalisiert) zu werden, dass sie zunächst einen langen Kampf gegen bestehende Strukturen führen müssen, ehe sie selbst als eine etablierte anerkannt werden. Auf dem wissenschaftlichen Schlachtfeld geht es natürlich oft einfach um die Verteidigung von Pfründen – Planstellen, Fördergelder, Deutungshoheit. Um sich da durchzusetzen, muss man als Unterstützer|in einer neuen Fachrichtung lange, zähe Kämpfe bestehen und sich durchzusetzen wissen.

Patrick führte nun ein paar Belege dafür an, dass die Institutionalisierung der DH (deren Definition nicht so ganz scharf gefasst werden kann – hier findet man aber mehr als 800 Versuche, das zu tun) schon relativ weit fortgeschritten ist und uns möglicherweise auch erhalten bleiben wird. Zu diesen Belegen zählen die Organisationsstruktur in weltweite, kontinentale, ländereigene und lokale DH-Verbände, die Ausbildung von Zentren (wie z.B. dem Kölner CCeH), eine Vielzahl von Tagungen und Zeitschriften zum Thema sowie – noch recht spärlich gesät, aber immerhin schon vorhanden – DH-Studiengänge, wie wir in Köln eben auch einen haben.2

dhschnittmenge

Sind DH eine Schnittmenge oder die Klammer zwischen zwei Schnittmengen? (aus Sahle 2013)

Relativ unstrittig ist die Frage, dass es eine Schnittmenge zwischen den einzelnen Geisteswissenschaften und der Informatik gibt und das man diese als Digital Humanities bezeichnen kann. Die Frage ist allerdings, ob die DH vollständig in dieser Schnittmenge aufgehen oder ob es einen wesenhaften DH-Kern gibt, der weder Fachwissenschaft noch Informatik ist. Patrick ist der Meinung, dass sich dort tatsächlich etwas befindet, und da kann ich tatsächlich zustimmen. Was sich aber genau da befindet, darüber kriegen wir uns gegenwärtig sicher noch in die Haare, so wie wir das bezüglich unser unterschiedlichen Textbegriffe spaßeshalber fast immer tun, wenn wir uns sehen. Das Scharmützel bezüglich Text versuchen wir in der nächsten Sitzung des Kolloquiums im Boxring zu klären. Wenn es mein Zustand danach erlaubt, werde ich berichten. :)

1 Beide Grafiken sind mir dankenswerterweise von Patrick zur Verfügung gestellt worden  – und zwar ohne dass er wusste, was ich hier denn so schreibe. Sie sind entnommen aus: Patrick Sahle (2013): DH Studieren! Auf dem Weg zu einem Kern- und Referenzcurriculum der Digital Humanities. DARIAH-DE Working Papers Nr. 1. Göttingen: DARIAH-DE, 2013. URN: urn:nbn:de:gbv:7-dariah-2013-1-5

2 Patrick erwähnte auch DH-Blogs, die aber seiner Meinung nach oft zu bloßen Pressemitteilungs-Veröffentlichungs-Plattformen verkommen wären – diese Bemerkung ist nicht ganz unschuldig daran, dass ich mich heute hier an den Beitrag gesetzt habe.

Quelle: http://texperimentales.hypotheses.org/1297

Weiterlesen

Ein Jahrzehnt und alles ist anders – Das Selbstverständnis Peters von Dusburg und Nicolaus` von Jeroschin im Vergleich

Übersetzungen von Texten sind zu allen Zeiten eine nicht ganz einfache Angelegenheit. Wer auch heute einen deutschsprachigen Text in eine andere Sprache übersetzt, erfährt diese Schwierigkeiten immer wieder von neuem und selbst. Dass dies auch in früheren Zeiten der Fall war, ist schon lange Gegenstand mediävistischer Forschung. Besonders eindrücklich ist dieser Umstand an der Übersetzung der Chronica terre Prussie von Peter von Dusburg durch Nicolaus von Jeroschin zu erkennen. Der folgende Beitrag möchte gerade die strukturellen Probleme von sprachlichen Übertragungen an diesen beiden Texten aufweisen.

1. Beurteilungen und Urteile der Werke
Um 1326 hatte Peter von Dusburg auf Anregung des Hochmeisters Werner von Orsel die Chronica terre Prussie fertig gestellt. Damit hatte er die erste Chronik des Deutschen Ordens geschrieben. Bereits ein Jahrzehnt später übersetzte Nikolaus von Jeroschin dieses für den Orden so wichtige Werk in die deutsche Sprache. Der Auftrag dazu wurde von Hochmeister Luder von Braunschweig erteilt und durch Dietrich von Altenburg erneuert.
Dass Jeroschin zu dieser Leistung befähigt war, zeigt eine schon vorher im Auftrag Gottfrieds von Heimburg gefertigte Übersetzung der Adalbert-Legende des Johannes Canaparius.
,Übersetzenʽ heißt in Jeroschins Fall jedoch nicht, modern verstanden, ein für gewöhnlich zu erwartendes, eng am Original orientiertes Übertragen eines Textes einer Sprache in eine andere.
Gisela Vollmann-Profe erklärt dies, indem sie feststellt, dass

„[.] es bei der Übertragung darum gehen mußte, die Wirkung der Vorlage möglichst zu erhalten, [so] daß er [Jeroschin] gerade um dieser Bewahrung des Effektes Willen Veränderungen vornehmen mußte.“ [1]
Denn das Ziel war es, einen Text von Interesse für den Orden den Brüdern leichter zugänglich zu gestalten, diesen an ihre eigenen Erfahrungen mit Literatur anzupassen, man könnte vielleicht sogar sagen, den Text den Ordensbrüdern nahezubringen, statt zu erwarten, dass die Ordensbrüder dem Text näher treten. [2]
Darum heißt es auch bei Vollmann-Profe weiter:
„Möglichst getreu zu bewahren war die stoffliche Basis. Denn die Dignität des Gegenstandes – gottgewollte und von Gott unterstützte Kämpfe gegen die Ungläubigen -, wahrheitsgetreu aufgezeichnet, forderte Respekt. Zugleich aber garantierten die mitgeteilten Heldentaten das Interesse der Rezipienten, handelte es sich doch um die gesta fortia der Vorgänger im eigenen Orden. Jeroschin hat sich dementsprechend verhalten: Er übersetzte »ziemlich accurat« […].“ [3]

Zumindest die frühere Forschung fällte das Urteil einer ‚ziemlich akkuraten Übersetzung‘. Schon Hartknoch äußerte sich 1679 [4] in der Weise. Auch Max Töppen sprach sich 1853 dafür aus, wenn er bemerkt, dass „Jeroschin sich im Ganzen überaus treu an sein Original gehalten habe […].“ [5] Helmut Bauer nimmt diesen Umstand wiederum anders wahr, indem er 1935 feststellt:
„Die andere Sprache und der andere Mann mußten die Übersetzung zu etwas anderem machen. Zwar wurde der Ge-samtentwurf Dusburgs von Jeroschin beibehalten, aber seine Einstellung steht den Ordenschroniken des ausgehenden 14. Jahrhunderts, die sich in jeder Weise von Dusburg entfernen, näher als Dusburg selbst.“ [6]
Wie man an dieser kleinen historischen Umschau erkennen kann, wechselte die Einstellung des Betrachters je nach Forschungsfrage und Zweck. Der eine favorisierte Dusburg, der andere Jeroschin. Strehlke, der Herausgeber der ‚Scriptores rerum prussicarum‘, fühlte sich noch in der Einleitung zum Abdruck der Schrift Jeroschins 1861 genötigt, diesen mit dem Wert der Sprache zu begründen [7] , während Ziesemer später Dusburg als weniger relevant erachtete. [8]

2. Die Chronica terre Prussie
In diesem Beitrag soll jedoch gezeigt werden, dass beide Texte eigenständige Werke bilden und einen eigenständigen Wert besitzen. Um dies zu erreichen, wird der Prolog beider Texte miteinander verglichen.
Dusburg strukturierte seinen Text, indem er ihn in vier Teile gliederte:
1. Gründung des Ordens,
2. Ankunft der Brüder im Ordensland,
3. Ereignisse im Preußenland,
4. Geschichte der Päpste und Kaiser (auf dem Rande). [9]

Dabei scheint Dusburg sich selbst als eine Art Evangelist zu begreifen, wenn es im Widmungsbrief heißt:
„Antedebant enim ad illud Tobie verbum, quod opera Domini revelare honorificum est.[Herv. im Original] Quorum imitatus sum vestigia, […].“ (Sie merkten nämlich auf jenes Wort des Tobias, daß „die Werke des Herrn zu enthüllen ehrenvoll sei.“ Ihren Spuren bin ich gefolgt […].) [10] Diese Deutung wird unterstützt, indem Dusburg an einer weiteren Stelle bemerkt:
„Dictum est in actibus apostolorum, quod Stephanus plenus gracia et fortitudine faciebat signa magna.[Herv. im Original] Nec dubitandum est, quin fratres domus Theutonice pleni fuerint gracia et fortitudine, cum ipsi pauci numero tam potentem et ferocem et innumerabilem Pruthenorum gentem sibi subdierunt, quam eciam multi principes, licet sepius attemptarent, non poterant sibi aliqualiter subiugare.“ (In der Apostelgeschichte heißt es, daß „Stephanus, voll der Gnade und Kraft, große Zeichen vollbrachte.“ Und es ist kein Zweifel, daß die Brüder des Deutschen Hauses voll der Gnade und Kraft waren, als sie, wenige an Zahl, sich das so mächtige, wilde und unzählbare Prußenvolk unterwarfen, das selbst viele Fürsten trotz häufiger Versuche sich nicht im geringsten hatten unterjochen können.) [11] Die Stellung des Werkes ist weiterhin durch die Sprache bestimmt. Dass Dusburg die Chronik in lateinischer Sprache verfasste, scheint auf ein sakrales Selbstverständnis zu verweisen. Der Auftrag zur Abfassung erfolgte zwar durch den Hochmeister, wird aber in einer eher heilsgeschichtlich verstandenen Tradition verortet.

3. Die Kronike von Pruzinlant
Nikolaus von Jeroschin übersetzte die Chronica ungefähr ein Jahrzehnt später. Er verfasste die Kronike von Pruzinlant in Reimversen. Als eine wesentliche Veränderung ist wohl zu verstehen, dass Jeroschin Dietrich von Altenburg als Auftraggeber benennt, sich selbst aber nicht mehr in der Tradition der Evangelisten versteht, die entsprechende Verortung ist bei der Übersetzung vollständig verschwunden. Stattdessen berichtet der Autor, dass eine erste Übersetzung, die schon durch Luder von Braunschweig in Auftrag gegeben wurde, während der Erstellung vernichtet wurde: „[…] di von dem argen tire vortilgit wurdin, goteweiz!“ [12] Insofern findet man an dieser Stelle doch noch etwas von dem „heiligen Kampf“ den auch der Autor austragen muss, doch eben nicht mehr das Selbstverständnis, das noch Peter von Dusburg kennzeichnete. Auch versteht Jeroschin sich damit wohl nicht mehr als Teil des früheren heiligen Vorgangs, ist er doch angewiesen auf göttlichen Beistand:

„Berûche mich, getrûwir got:
Der vatir sende mir dî macht,
daz iz werde vollinbrâcht,
des ich hî gedenke ;
des sunis wîsheit lenke
mîne cranken sinne,
daz ich vornumft gewinne ;
ȏ sûzir geist, dîn gûte
dî sele mîn durchvlûte
mich waschende von erge,
daz ich dir ein herberge
muge sîn nâch dînre lust.
Bewone, hêrre, mîne brust
Mich sêliclîch irlûchtinde
Und an genâdin vûchtinde ;
Daz dich mîner zungen ort
Gelobe mit getichte,
dar ûf ich mich hî richte,
alse mir gebotin hât
des gebot mir obe stât!“ [13]

Weiterhin scheint Jeroschin auch nicht mehr von einem Heilsgeschehen zu erzählen, so wie es bei Dusburg war. Denn Jeroschin versteht sich als Dichter, („Ouch des tichteres zunge an der materien straze […]“ ) [14] der den Text „nach predigères sitte“ teilt. Dabei erwähnt auch er vier Abschnitte, wobei aber die Abschnitte drei und vier seiner Vorlage zusammengeführt werden:

„Nu ist min sin darûf gekart,
daz ich daz teil wil mischin
den andren teilen zwischin
inhant der rede ein stucke
vlechtinde in ein lucke,
swâ daz ich dî gelege
gevûclich noch gewege,
sô daz diz und gene mêr
sich irvolgen î gewêr
an der zal der jâre. [15]

4. Fazit
Der Beitrag beschäftigte sich mit dem Selbstverständnis der ersten Chronisten des Deutschen Ordens. Bedeutend ist ihr Verhältnis, da Nicolaus von Jeroschin eine Übersetzung des Textes von Peter von Dusburg vornimmt. Doch wurde nur der Stoff übersetzt. Wie der Vergleich des Selbstverständnisses gezeigt hat, nehmen beide Autoren vollkommen andere Positionen ein, um die Eroberung des Preußenlandes durch den Deutschen Orden zu beschreiben. Für Peter von Dusburg ist der Vorgang gleichwertig mit dem Wirken Jesu auf Erden, für Jeroschin schon nur noch eine Dichtung. Es scheint sogar so, dass Jeroschin den intendierten Sinn seiner Vorlage gar nicht mehr nachvollziehen kann, betrachtet man die Leichtigkeit, mit der er die Struktur umgestaltet und damit eine gänzlich andere Zentrierung auf das Thema vornimmt.
In dieser Hinsicht besitzt Helmut Bauers schon wiedergegebenes Wort noch immer Gültigkeit, wenn er dazu anmerkt: „Die andere Sprache und der andere Mann mußten die Übersetzung zu etwas anderem machen.“ [16]

  1. Vollmann-Profe, Gisela (2003): Ein Glücksfall in der Geschichte der preußischen Ordenschronistik. Nikolaus von Jeroschin übersetzt Peter von Dusburg. S. 125-140. Erschienen in: Brunner, Horst; Williams-Krapp, Werner (Hrsgb.): Forschungen zur deutschen Literatur des Spätmittelalters. Festschrift für Johannes Janota. Tübingen. Hier S. 128.
  2. Siehe dazu auch Vollmann-Profe (2003): S. 132-135.
  3. Dies.: S. 128.
  4. Zitiert nach Ziesemer, Walther (1906): Nicolaus von Jeroschin und seine Quelle. (Kapitel I und II.). Berlin. Hier S. 11.
  5. Töppen, Max (1853): S. 17.
  6. Bauer, Helmut (1935): Peter von Dusburg und die Geschichtsschreibung des Deutschen Ordens im 14.Jahrhundert in Preußen. Erschienen in der Reihe: Ebering, Emil (Hrsgb.): Historische Studien. Berlin 1935. Nachdruck Vaduz. Hier S. 57.
  7. Siehe dazu Dusburg, Petri de: Chronicon terre Prussiae. Ediert von Töppen, Max. Erschienen in: Hirsch, Theodor; Töppen, Max; Strehlke, Ernst (Hrsgb.): Scriptores Rerum Prussicarum. Die Geschichtsquellen der preussischen Vorzeit bis zum Untergange der Ordensherrschaft. Bnd. I Leipzig 1861. Unveränderter Nachdruck Frankfurt a.M. 1965. S. 292. Siehe auch Vollmann-Profe, Gisela (2007):S. 135ff.
  8. Ziesemer, Walther (1907): S. 110.
  9. Dusburg, Peter von: Chronik des Preussenlandes. Übers. u. erl. v. Scholz, Klaus; Wojtecki, Dieter. Erschienen in der
    Reihe: Buchner, Rudolf; Schmale, Franz-Josef (Hrsgb.): Ausgewählte Quellen zur Deutschen Geschichte des Mittelalters. Bnd. 25. Darmstadt 1984. Der lateinisch-sprachige Text folgt der Edition: Dusburg, Petri de: Chronicon terre Prussiae. Ediert von Töppen, Max. Erschienen in: Hirsch, Theodor; Töppen, Max; Strehlke, Ernst (Hrsgb.):Scriptores rerum Prussicarum. Die Geschichtsquellen der preussischen Vorzeit bis zum Untergange der Ordensherrschaft. Bnd. I Leipzig 1861. Unveränderter Nachdruck Frankfurt a.M. 1965. S. 36.
  10. Dusburg, Peter von (1984): S. 26.
  11. Dusburg, Peter von (1984): S. 28.
  12. Jeroschin, Nicolaus von: Di Kronike von Pruzinlant. Strehlke, Ernst (Hrsgb.). Erschienen in: Scriptores Rerum Prussicarum. Die Geschichtsquellen der preussischen Vorzeit bis zum Untergange der Ordensherrschaft. Bnd. I Leipzig 1861. Unveränderter Nachdruck Frankfurt a.M. 1965. Z. 190-191.
  13. Jeroschin, Nikolaus von: V. 66-86.
  14. Jeroschin, Nikolaus von: V. 236-237.
  15. Jeroschin, Nicolaus von: V. 282-291.
  16. Bauer, Helmut (1935): S. 57.

Quelle: http://ordensgeschichte.hypotheses.org/9475

Weiterlesen

Ein absurd-skurriler Besuch im Museum für Kommunikation Berlin

imageGemeinsam mit einer Bekannten besuchte ich die Ausstellung Dialog mit der Zeit. Die Erlebnisausstellung im Museum für Kommunikation Berlin. Ich habe diesen Ort als Treffpunkt vorgeschlagen, weil ich hoffte, dass eine inspirierende Ausstellung schöne Gesprächsanlässe gibt.

An der Kasse werden wir darauf aufmerksam gemacht, dass wir nur die umherfahrenden Roboter im Erdgeschoss fotografieren dürfen und sonst nichts. Aha, wo sind wir gleich nochmal?

Am Eingangsbereich der Ausstellung im 2. Stock werden wir begrüßt und auf die in einigen Minuten stattfindende Führung hingewiesen. Wir könnten uns ruhig ein bisschen umsehen derweil. Derweil besprechen wir zwei Besucherinnen uns aber, dass wir einfach so durch die Ausstellung schlendern wollen. Es ist immer interessant zu sehen, welche Themen auf welche Weise angesprochen werden. Man muss ja nicht alles bis ins kleinste Detail mitmachen, auch nicht in einer Erlebnisausstellung – dachten wir.

Im zweiten Raum probiere ich zunächst die Telefonansage aus. Übrigens sind schwer verständliche Telefonansagen kein altersspezifisches Problem. Da kommt eine resolut wirkende ältere Dame auf uns zu. Die Ausstellung könnten wir nur mit einer Führung besuchen und wir möchten bitte mitkommen, es würde ein interessanter Film gezeigt. Wir blicken uns an und gehen mit. Der Film zeigt ein zunächst junges Gesicht, das altert und faltiger wird. Ganz so wie bei der Agingbooth-App von iTunes. Als ich merke, worum es in dem Film geht, zücke ich mein Tablet und setze den Tweet Im Museum für Kommunikation in Berlin darf man keine Fotos machen und z.B. twittern ab. Dann führt eine ältere Dame mit einigen Worten in die Ausstellung ein. Sie blickt mich strafend an: ¨Wenn Sie vielleicht auch zuhören und ich Ihre Aufmerksamkeit haben könnte. Schließlich wollen Sie ja etwas von hier mitnehmen und da wäre es von Vorteil, wenn Sie zuhören würden.¨

Ein Zeitsprung! Ich fühle mich nicht wie 50 sondern wie 15 und meine Lehrerin tadelt mich, weil ich nicht aufpasse.

So geplättet stecke ich mein Tablet in die Tasche zurück.

Wir zwei entscheiden uns, jetzt wirklich allein weiterzugehen. Kaum entfernen wir uns einige Schritte von der Gruppe, ruft uns die ältere Dame zu:

Sie müssen bei der Gruppe bleiben!

Wir möchten aber alleine durch die Ausstellung gehen.

Aber die Ausstellung ist nur mit einer Führung interessant.

Wir möchten gerne selbst entscheiden, was wir interessant finden. Worin besteht das Problem?

Es gibt kein Problem. Aber am Eingang steht ein Schild, auf dem steht, dass Sie nur mit einer Gruppe in die Ausstellung dürfen.

Welches Schild? Wir haben keines gesehen.

Das Schild am Eingang! Außerdem haben Sie diese Anhänger um, Sie wurden am Eingang darauf aufmerksam gemacht, dass Sie nur mit einer Führung durch die Ausstellung können.

Nein, das war ein allgemeiner Hinweis, das gleich eine Führung stattfindet. Wir möchten bitte selbst für uns entscheiden.

Ja, dann entscheiden Sie für sich selbst.

Wir tun das und kehren in den zweiten Raum zurück. Dort probiere ich die Station aus, wie es sich für ältere Menschen anfühlt, eine Tür zu öffnen. Wieder kommt eine ältere Dame auf uns zu. Es folgt ein sehr ähnlicher Dialog.

Nächste Station: Sehtest. Die junge Dame vom Eingang der Ausstellung nähert sich uns: ¨Ich hörte von einem unserer Senior-Guides, dass es ein Problem gibt?” Spätestens  jetzt fühlen wir uns wie Randalierer. Dialog s.o.

image (1)

Wir sind jetzt schnell fertig mit der Besichtigung. Ich fühle mich sehr unwohl und auch fassungslos. Dem Bedürfnis, mich mit meiner Begleiterin auszutauschen, kann ich hier nicht nachkommen. Auch habe ich das Gefühl, das man uns einfach nicht Ernst nimmt und fühle mich in meiner Privatsphäre verletzt. Beim Verlassen der Ausstellung sehen wir das besagte Schild im Din-A-4 Format. Es wäre hilfreich gewesen, wenn ich bereits bei der Recherche zur Ausstellung im Internet einen entsprechenden Hinweis gelesen hätte oder wir spätestens an der Kasse darauf hingewiesen worden wären, dass der Besuch der Sonderausstellung nur mit Führung erlaubt ist. Dann hätten wir die Möglichkeit gehabt, uns gleich einen anderen Ort für unsere Kommunikation zu suchen.

Fazit: Das war der absurdeste Museumsbesuch, den ich jemals erlebt habe. Auch hätte ich mir – zumal ich mich in einem Museum befand, und nicht an einem Krankenkassen-Info-Stand – tiefergehende Zukunfts-Themen und Denkanstöße als dargeboten erhofft. Warum wird eine Ausstellung so einseitig konzipiert? Wenn die Zukunft des Alters darin besteht, andere zu reglementieren und festzulegen, wie sie die Dinge zu sehen haben, dann wird mir Angst vor dem Alter. Und daran ändern auch keine zweisprachigen Beschriftungen  (dt./engl.) etwas.

Mein persönlicher Tipp: Widmen Sie Ihre Zeit einem älteren Menschen in Ihrer direkten Umgebung und treten Sie mit diesem in einen Dialog mit der Zeit. Das ist keine Zeitverschwendung und bereichert beide Seiten.

 

Digitale Bildquelle (Bild oben): www.artigo.org
Künstler: Meister des Hausbuchs, Titel: Der Jüngling und der Tod, Ort: Wien, Albertina, Zeit: letztes Viertel 15. Jh.

Digitale Bildquelle (Bild unten): www.artigo.org
Künstler: Ferdinand Georg Waldmüller, Titel: Die Ermahnung, Ort: Wien, Museen der Stadt Wien, Zeit: 1846

Quelle: http://games.hypotheses.org/1932

Weiterlesen

Wallenstein als Feldherr – oder nicht?

Wallenstein als Feldherr war eine prachtvolle Erscheinung. Diesen Eindruck vermittelt er auf jeden Fall in den zeitgenössischen Gemälden. Besonders das Reiterbildnis aus dem Palais Waldstein stellt ihn in dieser Rolle heraus. Kein Wunder, daß der Prager Katalog zu „Albrecht von Waldstein“ von 2007 dieses Motiv an prominenter Stelle platziert, gleich neben dem Vorwort der Herausgeber ganzseitig auf S. 14. Das Gemälde, dem Maler Christian Kaulfersch zugeschrieben, zeigt den Feldherrn Wallenstein hoch zu Roß im schwarzen Vollharnisch. Der Kopf ist unbedeckt und schaut direkt in die Richtung des Betrachters; die linke Hand hält die Zügel, in der rechten liegt der Kommandostab. Der Rappe sowie die geschwärzte Rüstung geben dem Gemälde ein düsteres Gepräge; um so auffallender ist daher die Pracht des Sattel- und Zaumzeugs sowie der Pistolentasche.

Als Nicht-Kunsthistoriker will ich mich nun gar nicht aufs Glatteis begeben und eine weitergehende Bildbeschreibung versuchen. Als Historiker stolpere ich aber über die Tafel in der Bildecke rechts unten, auf der unter anderem deutlich sichtbar eine Jahreszahl prangt: 1631. Offenbar das Jahr, in dem das Gemälde angefertigt wurde. Und genau hier fangen die Fragen an: Denn wie kommt Wallenstein dazu, sich im Jahr 1631 als Feldherr porträtieren zu lassen? Im Sommer 1630 war er doch von all seinen Ämtern entbunden worden; seitdem hatte er kein Kommando mehr über die kaiserlichen Truppen. Erst Ende 1631 sollte er wieder von Kaiser Ferdinand II. neubestallt werden; damals begann das sog. 2. Generalat. Doch ist es plausibel, daß dieses Gemälde ganz knapp noch in dieses Jahr zu datieren ist? So rasch läßt sich ein derartiges Gemälde doch wohl kaum verfertigen. Oder wurde es zurückdatiert? Plausibler ist vielmehr, daß Wallenstein dieses Bild viel früher in diesem Jahr in Auftrag gab – womit wir an der Frage nicht vorbeikommen, warum er in einer Phase, in der er ohne ein militärisches Amt zu bekleiden, sich ausgerechnet als Feldherr darstellen ließ.

Natürlich konnte er damit auf seine Leistungen in den Jahren zuvor verweisen, als er den Kondottiere Ernst von Mansfeld besiegt und für den Kaiser den Krieg gegen den König von Dänemark gewonnen hatte. Allerdings findet sich in diesem Gemälde überhaupt keine Reminiszenz an konkrete Ereignisse in diesen Feldzügen; das Bild scheint den Feldherrnruhm Wallensteins ganz allgemein betonen zu wollen. Eine solche Lesart ist natürlich möglich, und doch ruft sie andere Fragen hervor. Denn wenn Wallenstein in genau dieser Phase die Rolle des Feldherrn für sich selbst herausstellt, hatte dies durchaus Signalwirkung – zumal bei einem repräsentativen Gemälde. Eben weil seine Entlassung 1630 auf den Druck der Reichsstände und insbesondere der Katholischen Liga erfolgt war, würde ein Gemälde, das ihn erneut in dieser Rolle abbildet – und zwar nicht rückwärtsgewandt auf konkrete Ereignisse bezogen, sondern in generalisierender Absicht – ein Politikum ersten Ranges gewesen sein. Maximilian von Bayern, das wird man unterstellen dürfen, hätte eine solche Selbstdarstellung Wallensteins als Affront empfunden, der seinen düstersten Ahnungen über die Rückkehr des verhaßten Friedländers nur neue Nahrung gegeben hätte.

Wohl nicht Kaulfersch, wohl nicht Wallenstein, vielleicht 1631 (Ausschnitt).

Wohl nicht Kaulfersch, wohl nicht Wallenstein, vielleicht 1631 (Ausschnitt).

Doch solche Spekulationen brauchen hier gar nicht weiter verfolgt zu werden. Denn während mich allein die Tafel mit dem Hinweis auf 1631 stutzig gemacht hat, ist Ilka Waßewitz vor kurzem noch auf ganz andere Ungereimtheiten gestoßen (Ein Abbild des Herzogs? – Anmerkungen zum Reiterbildnis Wallensteins im Prager Palast, in: „Die blut’ge Affaire bei Lützen“. Wallensteins Wende, hrsg. v. Inger Schuberth und Maik Reichel, Wettin-Löbejün 2012, S. 220-227). Hier geht es zunächst um die über dem Kopf des Reiters positionierten Reichsinsignien sowie Lorbeer- und Palmzweige. Hinzu kommen Übermalungen, die nicht nur den Hintergrund des Gemäldes betreffen, sondern auch die Figur des Reiters selbst. Ihre Analyse ist sehr behutsam und läuft doch auf die These hinaus, daß hier ursprünglich gar nicht Wallenstein, sondern Kaiser Ferdinand III. porträtiert wurde. Besonders die Übermalungen im Gesicht und Kopfbereich der Reiterfigur unterstützen diese Annahme; andere Punkte – insbesondere die erwähnte Tafel mit der Datierung 1631 – sprechen dagegen.

Eine eindeutige Antwort auf die Frage, wer hier nun als Feldherr porträtiert wurde, ist derzeit offenbar nicht möglich. Aber daß es sich um Wallenstein handelt, muß zumindest mit einem großen Fragezeichen versehen werden. Eigentlich schade, denn eine Kampfansage an den bayerischen Kurfürsten mittels eines repräsentativen Reitergemäldes hätte ich dem auf Rache sinnenden Wallenstein schon zugetraut.

Quelle: http://dkblog.hypotheses.org/632

Weiterlesen

Auf Verwundbarkeiten achten, Resilienz stärken. Perspektiven für ländliche Räume

Auf der Resilienz-Tagung in Tutzing (27.2 – 1.3.2015) wurde des Öfteren vorgeschlagen, den Zusammenhang zwischen Vulnerabilitätsvermeidung und Resilienz zu reflektieren. Eine eingehende Analyse beider Begriffe findet sich bei Christmann u. a. (2011). Aus den Reihen des Forschungsverbundes ForChange hat Martin Schneider in der von der Hanns-Seidel-Stiftung herausgegebenen Broschüre „Armut im ländlichen Raum? Analysen und Initiativen zu einem Tabu-Thema“ einen Beitrag dazu veröffentlicht (erschienen in der Reihe „Argumente und Materialien zum Zeitgeschehen Nr. 97“).

Ausgehend von der Entwicklungs- und Armutsforschung, bei der der Begriff der Vulnerabilität sehr verbreitet ist, analysiert Schneider, warum arm zu sein (auch) heißt verwundbar zu sein. Der Perspektivenwechsel gegenüber traditionellen Armutskonzepten besteht darin, dass der Fokus nicht nur auf den Mangel an materiellem Einkommen und auf die Verteilung von Gütern gelegt wird, sondern auch auf die Frage, ob die zur Verfügung stehenden persönlichen, sozialen und strukturellen Ressourcen und Sicherungsmechanismen ausreichen, Veränderungen, Krisen und Katastrophen bewältigen zu können. Fehlen jene, öffnet sich das Fenster der Verwundbarkeit. Im Wikipedia-Eintrag zu Vulnerabilität wird ganz in diesem Sinne folgende Definition vorgeschlagen: „Verwundbar sein heißt …: Stressfaktoren ausgesetzt [zu] sein (externe Dimension), diese nicht bewältigen zu können (interne Dimension) und unter den Folgen der Schocks und Nichtbewältigung leiden zu müssen.“

Für Martin Schneider ist dies der Punkt, um Resilienz als „Gegenbegriff“ zu Vulnerabilität einzuführen. Sie ist dies seiner Ansicht nach nicht deswegen, weil externe Veränderungen und Krisen vermieden werden. Bei Resilienz gehe es vielmehr um die Stärkung der internen Dimension, also um die Fähigkeit, Krisen zu meistern und die Handlungsfähigkeit zu erhalten bzw. zu stärken. Diesen Aspekt von Resilienz macht Schneider auch fruchtbar für das Verständnis und die Notwendigkeit von transformativen Prozessen, also von Resilienz-Strategien, die einen Wandel des jetzt dominanten Wirtschafts-, Gesellschafts- und Kulturmodells zum Ziel haben (eben um die „Auslöser“ von Verwundbarkeiten zu „bekämpfen“). Im letzten Teil wendet Schneider seine Vulnerabilitäts- und Resilienz-Reflexionen auf die regionale Entwicklung an. Er erörtert dabei auch die Frage, ob das Verlassen des ökonomischen Wachstumspfades die Resilienz von ländlichen Regionen fördern bzw. deren schon vorhandene Resilienz stärken kann. Dies würde seiner Ansicht nach dazu drängen, den im Konzept der Resilienz bislang weniger dominanten Aspekt der Transformationsfähigkeit hervorzuheben. Schneider weist darauf hin, dass für transformative Resilienz-Praktiken das lokale Handeln und das praktische Einüben von nachhaltigen Lebensstilen von entscheidender Bedeutung sind. Dazu brauche es Pioniergruppen, Experimentierfelder und soziale Labore – eben das, was sich heute unter Überschriften wie „Raumpioniere“, „Transition Towns“ („Städte im Wandel“), „Commoning“ („Gemeinsame Nutzung, Pflege und Entwicklung öffentlicher Güter“) oder „Social Banking“ (Wiederindienstnahme des Finanzsektors für eine nachhaltige Entwicklung von Gesellschaft und Realwirtschaft) entwickelt. Je weniger eine Gruppe oder Region auf Fremdversorgung angewiesen ist, um Probleme, Krisen, Notlagen oder Katastrophen bewältigen zu können, umso resilienter ist sie. Eine Erhöhung regionaler Resilienz macht unabhängiger und souveräner. Sie ist ein Beitrag zu mehr Mitbestimmung, Selbstermächtigung, Einfluss und Kontrolle – und in diesem Sinne nicht ganz unbedeutend für eine Verlebendigung der lokalen Demokratie, für die Entwicklung nachhaltiger Muster des Arbeitens und Wirtschaftens und für den Abbau sozialer Ungleichheiten. Als Stärke von ländlichen Räumen sieht Schneider, dass „Resilienzgemeinschaften“ wie Selbsthilfeeinrichtungen, Genossenschaften, Nachbarschaftshilfen und Vereine dort noch sehr verbreitet sind.

Anzumerken sind noch folgende Punkte: (1) Der Beitrag von Martin Schneider geht zurück auf ein Referat bei einer gemeinsamer Veranstaltung der Akademie für Politik und Zeitgeschehen der Hanns-Seidel-Stiftung, des Wissenschaftlichen Kuratoriums der Bayerischen Akademie Ländlicher Raum und der Katholischen Landvolkshochschule Petersberg. Er geht deswegen auch der Frage nach, wie die Resilienz-Perspektive in die Diskussion um die Gleichwertigkeit von Lebensverhältnissen eingebracht werden kann. Dies ist politisch nicht unbedeutend, wenn man bedenkt, dass der Bayerische Landtag  zum Gleichwertigkeits-Postulat eine Enquete-Kommission eingerichtet hat. (2) Martin Schneider versteht Resilienz vor allem als Vulnerabilitätsvermeidung. Weniger im Blick ist, inwieweit „Verwundungen“ die persönliche und vielleicht auch regionale Resilienz fördern. Für einen Theologen ist diese Fragestellung nicht uninteressant. Markus Vogt hat in seinem Beitrag in den Working Papers dazu bereits einige Anmerkungen gemacht (Vogt 2015: 8f.).

Download:

[Download gesamter Beitrag von Martin Schneider: Auf Verwundbarkeiten achten, Resilienz stärken, erschienen in: aus: Franke, Silke (Hg.): Armut im ländlichen Raum? Analysen und Initiativen zu einem Tabu-Thema. (Hanns-Seidel-Stiftung, Argumente und Materialien zum Zeitgeschehen Nr. 97), München 2015]

Die gesamte Broschüre  “Armut im ländlichen Raum? Analysen und Initiativen zu einem Tabu-Thema” kann auf der Homepage der Hanns-Seidel-Stiftung downgeloaded oder kostenlos bestellt werden [weiter].

Literatur:

Christmann, Gabriela / Ibert, Oliver / Kilper, Heiderose / Moss, Timothy (2011): Vulnerabilität und Resilienz in sozialräumlicher Perspektive. Begriffliche Klärungen und theoretischer Rahmen. (Working Paper 44, Leibniz-Institut für Regionalentwicklung und Strukturplanung), Erkner, http://www.irs-net.de/download/wp_vulnerabilitaet.pdf (abgerufen am 30.01.2015).

Welzer, Harald (2013): Selbst denken. Eine Anleitung zum Widerstand, Frankfurt/M. 2013.

Vogt, M. (2015): Zauberwort Resilienz. Eine Begriffsklärung  (Bayerischer Forschungsverbund ForChange, Working Paper 15/2), März 2015, http://resilienz.hypotheses.org/wp2  (abgerufen am 26.03.2015).

Quelle: http://resilienz.hypotheses.org/459

Weiterlesen

Auf der Suche nach der vorlesungsfreien Zeit

In Multitaskgewittern ging bei mir auch diese vorlesungsfreie Zeit, von Außenstehenden bisweilen völlig irreführend als Semesterferien bezeichnet, zu Ende. Hier ein Antrag für ein Forschungsprojekt, dort ein Konzept für eine Forschungskooperation, Submissions, Papers, Betreuung laufender Projekte, Meetings, Meetings et cetera pp. (z. B. eigene Forschung) und nun trennt mich nur eine Kaskade kirchlicher Feiertage von meiner ersten Sommersemesterveranstaltung.

Kurse, die man Studierenden anbietet, gehören vorbereitet, sonst wird das für beide Seiten eine unschöne und vor allem langatmige Veranstaltung. Aber es bleibt nur so wenig Zeit! Gerade rechtzeitig vor einer Panikattacke erinnerte ich mich an meinen Blogbeitrag vor fast genau einem Jahr, in dem ich die Planungen zu einer meiner Veranstaltungen im letzten Sommersemester beschrieb. Darin verlinkte ich unter anderem eine Mind Map, die ich mit Bubbl erzeugt hatte und die sich trefflich als Grundlage für meine diesjährigen Erweiterungen (siehe Abbildung) entpuppte (dafür musste ich aber tatsächlich wieder Flash installieren – ging eine ganze Zeit lang ohne).

Course-Text-Mining-2015_37e2cdle

Den aufmerksam Hinschauenden wird vielleicht auffallen, dass die letztjährige Mindmap lediglich erweitert wurde, was allerdings auch beabsichtigt ist. Völlig neu ist der Definitions-Teil (gelb), wo ich am Anfang des Seminars ein paar Worte darüber verlieren möchte, was Maschinelles Lernen einerseits von Regelbasierten Systemen unterscheidet und einen kurzen Ausblick darauf wagen, was es mit dem gerade sehr gehypten Deep Learning auf sich hat. Christoph Kappes spülte mir eine schmale, gleichzeitig aber sehr brauchbare Präsentation zu den mathematischen Grundlagen des Maschinellen Lernens in meine Twitter-Timeline, die ich sicherlich gut für den Theorie-Teil (orange) verwenden kann.

Die Anwendungsfelder (blau) und Software-Lösungen (grün) sind sicherlich ein wenig überladen für einen einsemestrigen zwei-Stunden-pro-Woche-Kurs. Hier ist aber auch keine völlige Abdeckung angedacht. Der Kurs im letzten Jahr war an ein Kooperationsprojekt mit dem Bundesinstitut für Berufsbildung angelehnt, bei dem es um die Kategorisierung von Abschnitten in Stellenanzeigen ging (das Fachwort dafür lautet Zone Analysis, da habe ich gerade ein Paper zu geschrieben). Dieses Projekt ist inzwischen abgeschlossen, ein Nachfolgeprojekt zur Informationsextraktion aus den kategorisierten Abschnitten steht in den Startlöchern. Ein Großteil der Softwarelösungen ist daher schon implementiert und muss lediglich auf die neue Aufgabe angepasst werden. Alternative wäre eine Sentiment-Analyse auf anderen Daten, z.B. eine Auswertung von Tweets mit dem Hashtag #tatort. Mal sehen, was das Rennen macht, man sollte den Studierenden ja auch ein wenig Auswahl lassen.

Essenz: Einen Blog zu führen, in dem man ab und zu einmal etwas so halb durchdenkt und ausformuliert, kann einem also offensichtlich dabei behilflich sein, sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf zu ziehen. Und dann gibt es ja auch noch Twitter. Die nächste Seminarplanung kommt bestimmt – schon nächsten Donnerstag steht ein Kolloquium an, für das ich teilweise verantwortlich bin  8-O

Quelle: http://texperimentales.hypotheses.org/1283

Weiterlesen