Die wundersame Planungsgeschichte des zweiten Philosophenturms der Universität Hamburg

Anton F. Guhl und Malte Habscheidt Vor genau 40 Jahren, am 1. April 1975, war es endlich soweit: Rund zwölf Jahre, nachdem mit dem „Philosophenturm“ das bis dahin größte Gebäude der Universität eingeweiht worden war, konnte mit dem „zweiten Philosophenturm“ … Weiterlesen

Quelle: http://netzwerk.hypotheses.org/2242

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Vorsprung durch Technik – eine mobile Mühle für den Krieg

Es soll niemand sagen, daß es in der Vormoderne keinen technischen Fortschritt gegeben habe. Ein Beispiel dafür bietet die fahrbare Getreidemühle, die ich im Waldstein-Katalog von 2007 gefunden habe (S. 475, 6.5.4). Dargestellt ist eine Feldgetreidemühle, die auf einem fahrbaren Untersatz montiert war und von Pferden betrieben wurde. Der Vorteil lag auf der Hand: Man war nicht auf Mehl angewiesen, sondern konnte auch das Rohmaterial verarbeiten. Da die Versorgungsfrage für jede Armee stets eine große Herausforderung darstellte, war es naheliegend, Techniken zu entwickeln, die gerade für einen Heerhaufen – ökonomisch gesprochen eine Ansammlung von unproduktiven Menschen, der auf zumeist knappe Ressourcen zurückgriff – die notwendigen Versorgungsgüter leichter verwertbar machten.

Fahrbare Getreidemühle

Fahrbare Getreidemühle

So plausibel das alles ist, muß ich doch gestehen, daß ich von solchen Phänomenen recht wenig weiß. Über die gängigen Quellengruppen, die sonst über den Krieg und die Feldzüge informieren, habe ich kaum jemals etwas über solche Techniken und erst recht nichts über Innovationen erfahren. Pech bei der Auswahl der Akten, ein blinder Fleck in meiner Wahrnehmung? Ich kann und will nichts ausschließen, aber auch das Beispiel im Katalog selbst stimmt mich nachdenklich. Denn das Beispiel stammt aus dem Jahr 1606 und berichtet von einer Episode, derzufolge der spanische Feldherr Spinola das Stättchen „Lochum“ (gemeint ist offenbar Lochem in der Provinz Gelderland) eingenommen hat. Mit dabei waren auch „schone Muillwagen“, wie es in der deutschen Legende des Einblattdrucks heißt.

Es handelt sich also um einen Beleg aus dem spanisch-generalstaatischen Krieg und nicht aus dem Dreißigjährigen Krieg. Nun waren die militärischen Strukturen in beiden Konflikten so ähnlich, daß es methodisch kein Problem ist, solche Befunde aufzugreifen. Doch als ich nach weiteren Beispielen für solche Mühlen suchte, habe ich keine weiteren Belege entdecken können. Ich kann mir nicht vorstellen, daß ausschließlich in der Armee Spinolas solche mobilen Mühlen zum Einsatz gekommen sind. Das Motiv wurde von Hogenberg in Köln verlegt, und der Druck wird sicher einigermaßen Verbreitung gefunden haben – der tschechische Nachweis im Katalog spricht schon dafür wie auch der weitere Nachweis im VD17 für die BSB in München (12:658778R).

Man wußte also von solchen Techniken. Doch seit wann gab es die fahrbaren Mühlen eigentlich? (der Hinweis im Flugblatt auf Pompeius als „Inuentor“ führt hier natürlich nicht wirklich weiter) Und wie weit waren sie verbreitet: Waren derartige Mühlen vielleicht schon in dieser Zeit allgegenwärtig? Ja waren sie womöglich Standardausstattung für den Troß der Heere des Dreißigjährigen Kriegs, daß schon gar nicht mehr über sie berichtet wurde? Vielleicht habe ich wie gesagt grundlegende Dinge, die in diesen Jahrzehnten alltäglich waren, verpaßt und ausgeblendet. Aber ein wenig frage ich mich schon, wieviel wir eigentlich über solche Techniken und auch ihre Fortentwicklungen (nicht) wissen, die für das Verständnis der Kriegsläufte in dieser Epoche wesentlich sind.

Quelle: http://dkblog.hypotheses.org/626

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Ein Attentäter im Visier Fouchés? Dritter Beitrag zur Blogserie Theodor von Hallberg-Broich

In den Berichten der napoleonischen police secrète des Premiere Empire für die Jahre 1804 bis 1805 stellt sich die im vorherigen Beitrag beschriebene Situation um Hallbergs willkürliche Verhaftung nicht nur zeitlich etwas anders dar.

Unter dem Datum des 24. Vendémiaire des Jahres XIII (also Mittwoch, dem 16. März 1804) findet sich unter der Nummer 430, „Événements divers“, folgender stichwortartiger Eintrag, der hier in Übersetzung wiedergegeben werden soll: „Fremder in Mannheim arretiert, den Rhein überquerend: Baron von Halberg (sic!), bayerischer Hauptmann, gemeldet wie gefährlicher Feind unter dem Namen Palbus oder Pulbas.“1

Ein weiterer Eintrag zum „Fall Hallberg“ findet sich nicht acht, aber rund neun Monate später unter dem Datum des 30. Frimaire des Jahres XIII (oder Donnerstag, dem 21. Dezember 1804), Eintragung Nr. 691: „Herr Marschall Moncey zeigt dem Minister den Beschluss des Oberstaatsanwalts des Haut-Cour imperiale an, er hat dem Kommandanten der Gendarmerie von Mont-Tonnerre befohlen, Herrn Halberg (sic!), der des Attentats gegen seine Majestät angeklagt und in Mainz inhaftiert ist, unter sicherem Geleitschutz in die Conciergerie zu überführen.“2

Bis auf einige vor allem zeitliche Unstimmigkeiten lässt sich bis hierher das Bild Theodor von Hallberg-Broichs als durchaus bedeutendem Feind Napoleons aufrechterhalten, den die Geheimpolizei um Joseph Fouché im Visier hatte.

Joseph Fouché, Duc de Otrante, Gemälde vor 1829 [Bild: von École française [Public domain], via Wikimedia Commons; URL: http://www.myartprints.co.uk/kunst/french_school/school_portrait_of.jpg].
Joseph Fouché, Duc de Otrante, Gemälde vor 1829 [Bild: von École française [Public domain], via Wikimedia Commons; URL: http://www.myartprints.co.uk/kunst/french_school/school_portrait_of.jpg].

Dieses Bild wird jedoch mit der weiteren Durchsicht der französischen Berichte und insbesondere der zum Fall Hallberg in den Archives Nationales erhaltenen historischen Dokumente zunehmend fraglicher.

Auf dem Quellenblog „Napoleon auf der Spur – Quellenblog zur napoleonischen Ära in den deutschen Landen“ soll in Kürze ein erstes archivalisches Dokument zum “Fall Hallberg” in Transkription wiedergegeben werden.

1 Wortlaut im Original: „Etranger arrêté, à Manheim, passant le Rhin: Baron de Halberg, capitaine bavarois, signalé comme adversaire dangereux sous le nom de Palbus ou Pulbas.“ Siehe: Ernest d’Hauterive (Hrsg.), La police secrète du premier empire – Bulletins quotidiens adressés par Fouché a l’Empereur 1804–1805, Paris 1908, S. 137–138.

2 Wortlaut im Original: „M. le maréchal Moncey annonce au Ministre qu’à la requisition du grand procureur général près la haute-cour impérial, il a ordonné au commandant de la gendarmerie du Mont-Tonnerre de faire transférer à la Conciergerie, sous escorte sûre, le sieur Halberg, accusé d’attentat contre Sa Majesté et détenu à Mayence.” Siehe d’Hauterive 1908 (wie Anm. 1), S. 217.

Quelle: http://rhad.hypotheses.org/660

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Zur Auseinandersetzung mit Täterschaft in der eigenen Familie

Von Dr. Oliver von Wrochem Die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und die Erinnerung an seine Verbrechen sind 70 Jahre nach Kriegsende als gesellschaftliche Verpflichtung anerkannt. Erster und Zweiter Weltkrieg werden in den Medien stark thematisiert, „Erinnerungskultur“ ist Teil der schulischen Lehrpläne, Holocaust-Überlebende erhalten eine hohe Aufmerksamkeit, die deutsche Justiz ermittelt gegen noch lebende Nazitäter: soviel öffentliche Aufarbeitung war nie. Zugleich werden Stimmen laut, die diese Aufarbeitung als ritualisiert beschreiben und ein Unbehagen an den Formen der Erinnerungskultur artikulieren. In diesem Zusammenhang wird auf die … Zur Auseinandersetzung mit Täterschaft in der eigenen Familie weiterlesen

Quelle: http://erinnern.hypotheses.org/173

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„Weltwissen“ ohne Kolonien: Hans Belting über Kolonialismus, Kunst und Ausstellungspraktiken

von Helen May und Gesche Schifferdecker

„Kann man andere Kulturen ausstellen, indem man ihre Kunst ausstellt?“, fragt sich Hans Belting, Professor Emeritus am Institut der Kunstwissenschaft und Medientheorie der Staatlichen Hochschule für Gestaltung Karlsruhe. Und wenn man es versucht – wie umgeht man eine koloniale Perspektive auf die Kunst „der Anderen“? Wie gibt man nicht-westlichen Künstlern die Möglichkeit, sich zu präsentieren, ohne für sie zu sprechen?

Belting gelingt es in seinem Artikel „Weltwissen“ ohne Kolonien, die Eckpunkte postkolonialer Kunst,- aber auch Kultur- und Literaturkritik zu verbinden, ohne dabei auf die üblichen „Buzzwords“ zurückzugreifen. Durch die Ausstellung von Kunst in Völkerkundemuseen wird impliziert, dass der westliche Kunstbegriff nicht für andere Kulturen gilt. Kontemporäre, globalisierte Kunst zeigt, wie abstrus und beeinflusst diese Haltung von dem ist, was von Edward Said als „Orientalism“ beschrieben wurde: Auch afrikanische Künstler arbeiten nicht mehr unbedingt mit Masken, sondern beispielsweise mit Foto und Video. Selbstverständlich unterscheiden sich Kunst und ihre Intentionen aber auch auf einem globalen Level: „Mag Kunst im Westen auch zu einer ermüdeten Routine geworden sein, so ist sie doch anderswo das Privileg freier Meinungsbildung.“ (17) An Regionen kann man dies allerdings nicht festmachen: Durch Migration und Wechselwirkungen der Globalisierung ist ein „Wurzelgeflecht von ‚Ethnoscapes‘“ (17) entstanden, und diese Diaspora prägt die Kunstproduktion.

Die Beschäftigung mit außereuropäischer Kunst sollte nicht nur eine Betrachtung „des Anderen“, sondern vielmehr auch „eine Frage nach der eigenen Kultur in einem global erweiterten Blickfeld“ (16) sein und im Sinne der Critical-Whiteness-Theory die westliche Deutungshoheit hinterfragen.

Belting, Hans (2012): „Weltwissen“ ohne Kolonien: Zur Zeitgenossenschaft anderer Kulturen. In: Diawara, Mamadou / Günther, Klaus / Meyer-Kalkus, Reinhart (Hrsg.): Über das Kolleg Hinaus. Joachim Nettelbeck dem Sekretär des Wissenschaftskollegs 1981-2012. Wissenschaftskolleg zu Berlin. Berlin 2012. S. 15-20.

Den Artikel sowie den vollständigen Sammelband „Über das Kolleg Hinaus“ finden Sie hier.

Quelle: http://wwc.hypotheses.org/600

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Albrecht von Waldstein – ein vergessener Katalog

Heute geht es darum, Versäumtes nachzuholen. Denn im Jahr 2007 erschien in Prag ein opulenter und grandioser Katalogband zu Wallenstein, ohne daß diesem in der deutschen Geschichtswissenschaft die gebührende Aufmerksamkeit zugekommen wäre:
Fučíková, Eliška / Čepička, Ladislav (Hrsg.): Waldstein. Albrecht von Waldstein. Inter arma silent musae?, Prag 2007.
Rezensionen in den wichtigen Zeitschriften des Fachs sind mir nicht bekannt, und überhaupt sieht es so aus, als ob die Rezeption dieses Buchs nicht wirklich stattgefunden hat. Auch die Bibliotheksnachweise halten sich, wie eine Recherche über den KVK zeigt, in erstaunlich überschaubarem Rahmen.

Waldstein-KatalogWarum dies so passierte, darüber kann ich nur spekulieren. Ob es der Titel war, der von „Albrecht von Waldstein“ sprach? Das mag ich kaum glauben, denn so weit ist der Weg von Waldstein zu Wallenstein nicht. Und es ist kein wirkliches Geheimnis, daß dies nun mal die tschechische Namensform für die im Deutschen übliche Variante „Wallenstein“ darstellt. Golo Mann hat damals in seiner Monographie die Namensvarietät erläutert, auch darauf hingewiesen, daß sein Namensträger sich selbst Waldstein schrieb (S. 10).

Definitiv stand einer Rezeption nicht die Sprache entgegen, denn es gibt eine deutsche Ausgabe des Bandes, die jede Verständnisbarriere aus dem Weg räumt. Ob es daran lag, daß es kein wirkliches Jubiläum gab, das den Blick der (Fach-)Öffentlichkeit auf diese Persönlichkeit gelenkt hätte? Der Anstoß zu diesem Buch war, wie das Geleitwort erklärt, eher ein politischer: Man wollte das Waldsteinpalais, das heute der Sitz des Senats des Parlaments der Tschechischen Republik ist, im Bewußtsein der Öffentlichkeit stärker verankern – auch der europäischen. Dieses Anliegen sollte eine Ausstellung befördern, die wiederum von dem hier genannten Katalogband begleitet wurde.

Und dieser kann sich wirklich sehen lassen: ein über 600 S. starker Band, über 40 Artikel verteilt auf vier Sektionen, dazu ein umfänglicher Katalogteil, alles dies mit vielfach großformatigen und qualitativ hochwertigen Fotos veranschaulicht. Erarbeitet wurde er vor allem von tschechischen HistorikerInnen, und auch wenn einige österreichische Kollegen noch vertreten sind (ob die Nichtbeteiligung deutscher Fachvertreter die erstaunliche Nichtwahrnehmung in Deutschland miterklärt?), kann dieses Werk als absolut überzeugende Leistungsschau der tschechischen Historikerzunft gelten. Und nicht nur der Historiker, sondern ebenso der kunsthistorischen Disziplinen, die einen erheblichen Anteil daran haben, die unterschiedlichen Zeugnisse der Malerei, der Skulptur und der Architektur vorzustellen.

Gerade auf diesen kunsthistorischen Aspekt zielt auch die Frage im Titel des Katalogbandes: „Inter arma silent musae?“ Es lehnt sich sicher nicht unbewußt an das Ciceronische „inter arma silent leges“ an, doch der ganze Katalog ist darauf ausgerichtet, die Frage, ob denn die Musen zu Kriegszeiten verstummen, als rhetorisch zu entlarven. Zumindest in der Welt Wallensteins war dies nicht der Fall, dies will dieser Band zeigen. Und ich habe vor, in den nächsten Wochen immer wieder mal einzelne Aspekte, die mir in dem Band aufgefallen sind, vorzustellen.

Noch ein Wort zum Übersehen dieses Buchprojekts: Mir ist es im Jahr 2007 nicht anders ergangen als vermutlich einigen in der Zunft – ich habe damals, Schande über mein Haupt, nichts davon mitbekommen. Es bedurfte erst einer tschechischen Kollegin, die mich darauf hinwies und mir diesen Band auch beschaffte. Aber besser später als nie.

Quelle: http://dkblog.hypotheses.org/619

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Nikola Becker – Der Hitlerputsch und seine Vorgeschichte in Autobiographien von Münchener Bürgern – divergierende Deutungen

Lion Feuchtwanger verfolgt mit seinem Roman „Erfolg“ politische Absichten durch die Darstellung eines vermeintlichen Irrwegs des bayerischen Staats in den Jahren nach dem Umbruch von 1918/19 [Moser, Dietz-Rüdiger, Das Verhältnis von Fiktion und Realität in Lion Feuchtwangers Roman Erfolg. Ein Beitrag zum Bild der Stadt München in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts, in: München lesen: Beobachtungen einer erzählten Stadt, hg. von Simone Hirmer und Marcel Schellong, Würzburg 2008, S. 91-105, S. 93]. Die Bewertung der politischen Entwicklung erfolgt aus einer dezidiert linksgerichteten Perspektive, das Ende der Räteherrschaft wird in bitterer Ironie als Pervertierung einer vorgeblichen ‚Befreiung‘ geschildert. Im Vergleich der Gewalttaten des Räteunternehmens mit denen der Freikorps protokolliert Feuchtwanger minutiös die quantitative Überzahl der von rechter Seite begangenen Verbrechen. Deutlich streicht er das Ungleichgewicht in der juristischen Ahndung rechts- und linksradikaler Gewalttaten heraus. Moderne Entwicklungen im Bereich der Kunst werden in „Erfolg“ von einer kleinbürgerlich engstirnigen, verbohrt konservativen bayerischen Bevölkerungsmehrheit als Bedrohung der bürgerlichen Moral interpretiert. Ihre Träger wie Martin Krüger geraten zu Märtyrern, die zur Aufrechterhaltung der überkommenen Gesellschaftsordnung geopfert werden müssen. Insgesamt arbeiten im Roman Politik, Justiz, Verwaltung und Militär auf das engste zusammen, um nach dem Umsturz des alten Systems Ruhe und Ordnung wiederherzustellen. Sie schrecken dabei nicht vor der Beugung von Justiz und Gerechtigkeit zurück. Letztlich wird dadurch der Aufstieg des völkischen Nationalismus befördert oder aktiv herbeigeführt. Feuchtwanger legt somit am Mittel des historischen Romans eine spezifische Geschichtsinterpretation vor [Vgl. auch den Ausstellungskatalog: Erfolg. Lion Feuchtwangers Bayern, hg. von Reinhard Wittmann, München 2014].

Ein literarisches Medium zur Präsentation von Geschichtsbildern kann vielleicht mehr noch die Gattung Autobiographie darstellen. Volker Depkat nennt autobiographische Texte „hochkomplexe Ordnungs- und Orientierungsleistungen […], durch die sich Individuen, Gruppen und ganze Gesellschaften in der Zeit orientieren, historische Identitätsentwürfe formulieren, sie in Konkurrenz zu anderen behaupten und so immer auch Handlungsräume in einer jeweiligen Gegenwart eröffnen.“ [Depkat, Volker, Lebenswenden und Zeitenwenden. Deutsche Politiker und die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts (= Ordnungssysteme. Studien zur Ideengeschichte der Neuzeit, 18), München 2007, S. 503]. Autobiographische Narrative dienen somit – indem sie eine „Version“ der erlebten Geschichte präsentieren – dem Zweck, diese jeweilige Deutung plausibel, und somit mehrheitsfähig zu machen – also eine Deutungshoheit zu erlangen, die immer auch gegenwartsbezogenen Zwecken dient. Die Plausibilität vorgelegter Geschichtsentwürfe innerhalb eines gesamtgesellschaftlichen Diskurses variiert naturgemäß – der niemals endende Fortgang der Geschichte führt zu einem stetigen Wandel der Interpretationsversuche, zu Revisionen und Neubewertungen.

Unter den zum Roman „Erfolg“ etwa zeitgleich überlieferten, autobiographisch formulierten Geschichtsbildern Münchner Bürger, um die es hier gehen soll, finden sich Komplementär- und Gegenentwürfe. Zunächst zu 4 Werken, die Feuchtwanger politisch am nächsten stehen – Texte der Schriftsteller Oskar Maria Graf, Kurt Martens sowie des Nationalökonomen Lujo Brentano und des Politikers Ernst Müller-Meiningen.

Oskar Maria Graf liefert eine weithin zu „Erfolg“ komplementäre Beschreibung der politischen Entwicklung in Bayern ab. In dem 1927 erstmals erschienenen autobiographischen Roman „Wir sind Gefangene“ [Graf, Oskar Maria, Wir sind Gefangene. Ein Bekenntnis aus diesem Jahrzehnt, München 1927] beschreibt er, wie er aufgrund der Erfahrung des gewaltsamen Niederschlagens der Räterepubliken, die in seiner Wahrnehmung besonders gewaltsam den Arbeiter traf, vom existenzialistisch-nihilistisch gestimmten Bohemien zum politisch engagierten Schriftsteller wurde. Ähnlich wie Feuchtwanger wertet er die Räteherrschaft als trotz aller radikalen Rhetorik harmloses Unternehmen und stellt ihm den blutrünstigen, unverhältnismäßigen Charakter der Liquidierung entgegen. Auch Grafs München-Bild der 20er Jahre stimmt mit dem im „Erfolg“ überein: München sei „in jeder Weise finster und kleinbürgerlich“ und „sicher von allen Städten die provinzlerischste“ [Graf, Oskar Maria, Notizbuch des Provinzschriftstellers Oskar Maria Graf 1932. Erlebnisse – Intimitäten – Meinungen, München 2002 (Erstausgabe Basel u.a. 1932), S. 35f.].

Der heute weitgehend in Vergessenheit geratene, mit Thomas Mann befreundete Kurt Martens sympathisierte bereits im Kaiserreich mit der Sozialdemokratie aus Anti-Wilhelminismus. In seiner 1924 publizierten Autobiographie [Martens, Kurt, Schonungslose Lebenschronik 1901-1923, Wien u. a. 1924] erscheint die Revolution zunächst positiv, da er sich von ihr ehrlich eine soziale und politische Erneuerung erhoffte. Dieses Bild kippt dann aber mit den Räteereignissen, die er als Regiment des Unproduktiven, des Chaos, der Inkompetenz bewertet. Aber auch Martens sieht die Rätephase nicht als blutige Schreckensherrschaft, ihre Träger sind vielmehr lächerlich und unfähig. Die erlebte Geschichte seit 1919 mit Gewalttaten infolge der Liquidierung des Räteregimes, politischen Morden, einer politisierten Justiz, Inflation und Krisen führt Martens zur Wahrnehmung einer Ära des Zerfalls. Da die Republik den Niedergang nicht aufhalten kann, delegitimiert sie sich in seinen Augen, und somit tut dies auch die Idee der demokratischen Volksvertretung. Aus dieser Warte sucht Martens um 1923 nach politischen Alternativen: das national-völkische Lager, eine „Militärdiktatur“ [Ebd., S. 202], jedenfalls aber ein „konservatives Staatswesen“ [Ebd., S. 181.], das Ordnung nach innen und außen schafft.

Bei dem linksliberalen Vernunftrepublikaner Lujo Brentano, dessen Erinnerungen 1930 abgeschlossen wurden, findet sich ebenfalls prononcierte Kritik an der gewaltsamen Beseitigung der Räteherrschaft [Brentano, Lujo, Mein Leben im Kampf um die soziale Entwicklung Deutschlands, Jena 1931]. Insgesamt ist seine Perspektive stark auf die Reichsebene konzentriert. Die im „Erfolg“ thematisierten Ereignisse in Bayern, eine politische Rechtsprechung und das Aufkommen der vaterländischen Bewegung spielen bei Brentano keinerlei Rolle, der Nationalsozialismus wird nicht erwähnt. In Bezug auf die Weimarer Republik insgesamt entwickelt er einen Krisendiskurs, der am Schluss des Textes in der Sorge vor einer „soziale[n] Revolution“ [Ebd., S. 404kulminiert.

Der linksliberale zeitweilige bayerische Justizminister Ernst Müller-Meiningen in den Kabinetten Johannes Hoffmann II und Gustav von Kahr I legte 1923 Revolutionserinnerungen vor [Müller-Meiningen, Ernst, Aus Bayerns schwersten Tagen. Erinnerungen und Betrachtungen aus der Revolutionszeit, Berlin und Leipzig 1923]. Sein Blick auf die Revolutionsphase malt – abweichend vom bisher Gehörten – das Bild einer blutigen Schreckensherrschaft, in der Willkür, Korruption, Chaos und Terror herrschen. Bayern wird dadurch zum „Schandfleck Deutschlands“ und München zur „Kloake.“ [Ebd., S. 32 und S. 84]. Die von ihm selbst verantwortete rechtliche Abwicklung der Revolution rechtfertigt er durch das Postulat einer milden Behandlung der Revolutionäre. Es geht Müller-Meiningen in seinem Text um den Beweis der These, dass ein Sieg des Bolschewismus unmittelbar bevorgestanden und weiterhin gedroht habe. Damit verteidigt er die von ihm selbst mit getragene Ordnungszellen-Politik unter Gustav von Kahr: Sie sei notwendig gewesen zur Wiederherstellung und langfristigen Sicherung der staatlichen Ordnung. Allerdings kritisiert Müller-Meiningen ausdrücklich den ‚Rechtsruck‘ in Bayern seit Ende 1922: Denn er wünschte keine Regierung des national-völkischen Lagers, sondern eine betonter nationale Haltung der legitimen bayerischen und deutschen Regierungen nach außen, nämlich gegen den Versailler Vertrag.

Zeigen diese aus einer linken oder linksliberalen Anschauung entwickelten Geschichtsbilder schon Inkongruenzen, so sollen im Folgenden die als Gegen-Interpretamente zu begreifenden Wortmeldungen nationaler und konservativ gesinnter Autobiographen vorgestellt werden. Zu Wort kommen die Schriftsteller Josef Hofmiller und Thomas Mann, der Physiker Wilhelm Wien und der Nationalsozialist Ernst Röhm.

Der nach dem Krieg zu einem der Protagonisten des national-konservativen Lagers in München geratene Josef Hofmiller lehnte als Monarchist die Revolution als für Bayern nicht gemäßes politisches Ereignis ab. In seinen 1930 erstmals in der Beilage der „Münchner Neuesten Nachrichten“ publizierten Tagebüchern [Hofmiller, Josef, Revolutionstagebuch 1918/19. Aus den Tagen der Münchner Revolution, Leipzig 1938] beschreibt er die Revolution unter Begriffen wie Chaos und Unfähigkeit und die Rätephase als Herrschaft des blutigen Terrors. Weiße Gewalttaten rechtfertigt er als bloße Reaktion auf die Tyrannei der Roten. Als einzig möglicher Ausweg aus Not und Vernichtung und dem angeblich vorherrschenden Bolschewismus spricht er sich im Kontext von Mitte 1919 für die Errichtung einer Militärdiktatur unter Ludendorff aus. Ein Symptom für Bolschewisierung sieht Hofmiller in der künstlerischen Moderne, etwa dem Expressionismus.

In den um 1927 entstandenen Erinnerungen [Wien, Wilhelm, Aus dem Leben und Wirken eines Physikers. Mit persönlichen Erinnerungen von Erich von Drygalski, Carl Duisberg, M. von Frey, Hermann Oncken, F. Paschen, Max Planck, E. Rüchardt, E Rutherford und einem Nachruf von M. v. Laue und E. Rüchardt, Leipzig 1930] des nationalkonservativen Physikers Wilhelm Wien entsteht gleichermaßen der Eindruck eines bolschewisierten und terrorisierten Münchens nach dem Vorbild von Sowjetrussland. Dies sei das Probestück für die äußerst reale Gefahr einer kurz bevorstehenden Bolschewisierung ganz Deutschlands. Wiens Beschreibung des Hitlerputsches drückt die Erwartungen nationaler bürgerlicher Kreise an ihn aus, nämlich die ‚Nationalisierung‘ der Arbeiterschaft und ihre Abwerbung von der Sozialdemokratie. Den Putsch selbst missbilligte er aber, da er eine Intervention der Entente bei Gelingen befürchtete. Insgesamt wird von ihm die Gegenwart der Weimarer Republik mit der Herrschaft des Sozialismus gleichsetzt.

Die nur für 1918 bis 1921 erhaltenen Tagebücher [Mann, Thomas, Tagebücher 1918-1921, hg. von Peter de Mendelssohn, München 1979] Thomas Manns aus der Weimarer Zeit spiegeln noch deutlich die konservative Phase seines Denkens wider, bevor er sich Jahre später öffentlich zur Republik bekannte, nämlich seine Distanz zu einem Demokratieverständnis westlicher Provenienz. Die Revolution und besonders die Rätephase lehnt er als „Unfreiheit“ und „Tyrannei“ ab [Ebd., S. 161f.]. Allerdings erhofft er sich daraus die Entstehung eines genuin deutschen Republikmodells, und zwar eine „soziale Republik“, etwas ‚Neues‘ zwischen Bolschewismus und „westlicher Plutokratie“ [Ebd., S. 74 und S. 100]. Somit plädiert er für die deutsche Sonderrolle, nämlich der zivilisatorischen Aufgabe, ein Bollwerk gegen den Bolschewismus zu bilden. Die Eintragungen bis Ende 1921 zeigen Manns Liebäugeln mit Vorstellungen einer „notwendigen Vereinigung des deutschen Konservativismus mit dem Sozialismus, der die Zukunft gehört und nicht der Demokratie“ [Ebd., S. 369] und die Auffassung eines ideell positiven Kerns völkischen Denkens.

Die 1928 erstmals veröffentlichten Erinnerungen [Röhm, Ernst, Die Geschichte eines Hochverräters, München 1928] des Nationalsozialisten Ernst Röhm zeigen die Rezeption der deutschen Kriegsniederlage als Resultat der Revolution, und somit als ‚Dolchstoß in den Rücken‘ der militärisch angeblich nicht besiegten Armee und letztlich als Verrat an Kaiser und Reich. Sein eigenes Engagement bei den Einwohnerwehren ab 1919 begründet mit einer weiterbestehenden Revolutionsgefahr. Die Ausführungen spiegeln die Auffassung des radikal völkischen Lagers, dass die bayerischen Regierungen den Marxismus geduldet oder aktiv gefördert und nach außen eine zu wenig nationale Linie gefahren hätten wider (‚Erfüllungspolitik‘). Die These von Bayern als Hort der nationalen Bewegung weist Röhm am Beispiel des Hitlerputschs zurück. So erscheint Gustav von Kahr als großer Feind der Völkischen, die er im Putsch verraten habe und somit auch als Verräter am Nationalismus. Röhm postuliert den einzig wahren Nationalismus der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft.

War das nachrevolutionäre Bayern der frühen 20er Jahre also ein ‚reaktionärer‘, stark rechtsgerichteter Staat, der einen Rechtsputsch geradezu herausforderte oder gar begünstigte? Die vorgestellten Autobiographen geben unterschiedliche Antworten – je nach eigner Positionierung erscheint die Linke als marginale Erscheinung, übermenschliche Bedrohung oder schon real herrschende Kraft. Der Hitlerputsch selbst erfährt eine dementsprechende Einordnung: als Beleg für die Vormacht der Linken oder der Rechten. Feuchtwangers Blick auf die bayerische Geschichte stellte – die zeitgenössische Rezeption zeigt es – zum Zeitpunkt des Erscheinens eine Minderheitenposition dar. Seine Geschichtsdeutung erfuhr Kritik von rechter wie linker Seite [Vgl. Lüttig, Gisela, Zu diesem Band, in: Lion Feuchtwanger, Erfolg. Drei Jahre Geschichte einer Provinz, Berlin, 9. Aufl., 2013 (Taschenbuchausgabe), S. 869-878, hier S. 874-876]. Erst in einer von ‚1968‘ geprägten Gesellschaft drehte sich die Rezeption und der Roman wurde für manche zum Inbegriff einer wahrheitsgetreuen Darstellung der Ereignisse.

Quelle: http://histbav.hypotheses.org/3563

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Medizingeschichte I: Beschneidung, Kastration und Klitorisentfernungen im Mittelalter

Sich Operationen an der Vorhaut, an Penis, Hoden, Vulva oder der Klitoris unter vormodernen Hygienebedingungen vorzustellen, ist vermutlich für keinen Mensch einfach, der irgendwelche dieser Körperteile besitzt. Genau darum wird es (in dieser Reihenfolge) im folgenden Post gehen, wer das nicht lesen mag, sollte also nicht auf “weiter lesen” klicken – allerdings auch besser nicht zu viel über Intersexualität in der Gegenwart nachdenken. Worum geht es? Kosmetische Genitaloperationen im 20. und leider auch im 21. Jahrhundert basieren auf modernen (aus Sicht des Mittelalter-Historikers: historisch […]

Quelle: http://intersex.hypotheses.org/157

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Ein “Napoleonhasser”?! – Zweiter Beitrag zur Blogserie Theodor von Hallberg-Broich

Von Martin Otto Braun

Zweiter Beitrag zur Blogserie “Der adlige ‘Eremit’ Theodor von Hallberg Broich und der Erfolg einer konstruierten Familiengeschichte”.

Die im vorherigen Beitrag der Blogserie erwähnten jüngeren Biographien Theodor von Hallberg-Broichs schöpfen für die erste Lebenshälfte aus den bereits im 19. Jahrhundert erschienenen Werken des mit Hallberg vertraulichen Umgang pflegenden Johannes Gistel sowie des hallbergschen Enkels Baron Matthias von Künßberg-Thurnau.1 Viele Angaben zum Verhältnis des Freiherrn zu Napoleon bzw. des Franzosen, stammen somit aus dem direkten Umkreis Hallbergs. Sie sind auf ihren Wahrheitsgehalt bislang nur selten anhand von archivalischen Quellen überprüft worden.

Objekt des Hasses? Napoleon auf dem Kaiserthron in einer Darstellung Jean Dominique Ingres' (1780-1867) (Bild: Jean Auguste Dominique Ingres [Public domain], via Wikimedia Commons).
Objekt des Hasses? Napoleon auf dem Kaiserthron in einer Darstellung Jean Dominique Ingres’ (1780-1867) (Bild: Jean Auguste Dominique Ingres [Public domain], via Wikimedia Commons).

Bereits Wolter von Egan-Krieger zweifelte in seiner 2007 erschienenen Biographie des „Eremiten“ den Wahrheitsgehalt der Aussagen Gistels an.2 Die archivalischen Bezugspunkte seiner Hallberg-Biographie entstammen unter anderem dem Geheimen  Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz in Berlin und bayerischen Kommunalarchiven.

Trotz seiner Quellenfunde umreißt Egan-Krieger bereits im Vorwort die Schwierigkeit sich der historischen Person des Freiherrn zu nähern:

„Innerhalb meiner Recherchen habe ich zwar manches Dunkel im Lebenslauf Hallbergs zu lichten vermocht […], – ein überzeugendes Gesamtbild von ihm zu zeichnen gelang mir allerdings nicht. […] So gibt es so gut wie keine Aufzeichnungen über die ersten vier Jahrzehnte seines Daseins, dafür erstickt man förmlich in Selbstzeugnissen des Fünfzig- bis Siebzigjährigen.“3

Erzfeind Napoleon

Dieser Hinweis ist umso bemerkenswerter, als sich alle Hallberg-Biographen bis in die Gegenwart hinein in einem Punkt vollkommen einig sind: Theodor von Hallberg-Broich gilt als erbitterter Gegner Frankreichs und „Napoleonhasser“.4

Seine Biographen machen diese Feindseligkeit unter anderem an Theodor von Hallberg-Broichs Tätigkeit als Organisator und Anführer des bergischen Landsturms in den Befreiungskriegen der Jahre 1813 bis 1815 fest. In diesem Zuge wird ihm zugeschrieben, als erster mit seinen Truppen den Rhein bei Koblenz überschritten zu haben.5 Hallberg-Broich habe hierbei nicht nur den militärischen Rang eines „Feldobristhauptmanns“ erlangen können, sondern sei schließlich auch zum „Generalmarschcomissärs der kaiserlich russischen Truppen“ ernannt worden.6 Dass es sich zumindest bei Hallbergs angeblichem Rheinübergang und seinem Titel eines „Feldobristhauptmanns“ um eine von ihm selbstersonnene Legende handelte, hat bereits eine Untersuchung Helge Göhrings gezeigt.7 Doch auch für die Zeit vor den Befreiungskriegen ist – gerade vor dem Hintergrund der erwähnten Quellenlücken – Skepsis angebracht.

Portrait des Zoologen Johannes von Nepomuk Franz Xaver Gistel (1809-1873) (Bild: von Unbekannt (http://hbs.bishopmuseum.org/dipterists/dipt-g.html) [Public domain], via Wikimedia Commons).
Portrait des Zoologen Johannes von Nepomuk Franz Xaver Gistel (1809-1873) (Bild: von Unbekannt (http://hbs.bishopmuseum.org/dipterists/dipt-g.html) [Public domain], via Wikimedia Commons).

So gibt der früheste Hallberg-Biograph, Künßberg-Thurnau zum Ende seiner „Biographischen Skizzen“ an, dass Theodor von Hallberg 1785 eine Leutnants-Stelle im „General-Campranaischen Infanterieregiment“ in Jülich innegehabt und im Jahre 1793 – dem Todesjahr seines Vaters – seinen Abschied als kurbayerischer Hauptmann erhalten habe.

Hiernach sei Hallberg-Broich nach Amerika gereist. Nach einer unglücklich endenden Liebschaft mit einer englischen „Lady Stuart“ habe sich Hallberg-Broich auf seine Güter in die Rheinprovinzen zurückbegeben und dort ein „höchst einsiedlerisches Leben“ geführt, wobei er mit der „politischen Lage Deutschlands und Frankreichs“ beschäftigt gewesen sei.8 Interessanter als dies scheint bei Künßberg-Thurnau jedoch die Reaktion des Freiherrn auf den 2. Koalitionskrieg (1799–1800),9 der Hallberg-Broich offenbar schlagartig aus der zuvor beschriebenen Lethargie riss:

„Endlich rückten die Franzosen an den Rhein und Hallberg machte dem damaligen Churfürsten von Köln, einem österreichischen Erzherzog, den Vorschlag das Volk zu bewaffnen und damit Napoleon I. zu bekriegen. Da man dieses nicht begreifen konnte, so reiste Hallberg nach Wien, (1800) nahm Audienz bei Kaiser Franz II. welchem er seinen Vorschlag überreichte. Nachdem ihn der Kaiser zu lesen angefangen hatte, verabschiedete er den Hallberg mit den Worten: ‚Das verstehen wir nicht.‘ Hallberg, welcher sich jedoch mit dieser Antwort nicht zu begnügen schien, suchte anderweitig seine Ideeen (sic!) durchzuführen, bis er endlich in den Narrenthurm eingesperrt wurde, um von seinen Ansichten geheilt zu werden. Nach acht Tagen wurde er hieraus entlassen, nachdem er während diesem Zeitraume seine Ansichten widerrufen hatte.“10

Ruhe vor dem Sturm?

Nach der oben erwähnten Episode war das patriotische Feuer bei Hallberg-Broich jedoch offenbar erloschen, denn überraschenderweise berichtet Künßberg-Thurnau über eine mehrjährige Wanderschaft des Freiherrn durch die deutsch-österreichischen Provinzen, die Schweiz, Ungarn und Siebenbürgen.11

Titelbild aus Johanns Gistels “Leben des preußischen General’s Freiherrn Theodor von Hallberg-Broich, genannt “Eremit von Gauting”, Berlin 1863 (Bild: Von Ferdinand Freiherr von Lütgendorff-Leinburg (1785-1858) [Public domain], via Wikimedia).
Titelbild aus Johanns Gistels “Leben des preußischen General’s Freiherrn Theodor von Hallberg-Broich, genannt “Eremit von Gauting”, Berlin 1863 (Bild: Von Ferdinand Freiherr von Lütgendorff-Leinburg (1785-1858) [Public domain], via Wikimedia).

Erst nach dieser „Ruhephase“ führt der Biograph einen ausführlichen Hinweis an, der von weiteren Aufstandsplänen Hallberg-Broichs gegen Napoleon zeugen soll:

„‚Vertraute Briefe über die inneren Verhältnisse am preußischen Hofe seit dem Tode Friedrich II.‘ Amsterdam und Cöln 1808, enthalten im Bande III auf pag. 311 folgendes: ‚Um diese Zeit (1806) war es, als einer der thätigsten Patrioten unseres Landes der Herr von Hallberg-Broich dem Könige einen Plan zu einem allgemeinen Aufgebote darlegte. (…) Förster und Förstersöhne, aller herrschaftlichen Jäger der Städte, wie des Landes waren erlesen, das Schützenkorps dieses allgemeinen Aufstandes zu formieren, – aber es erhielt die königliche Sanction nicht (nur ein großer Aufstand konnte Preußen 1806 sowie Frankreich 1792 retten) – und kurz darauf als der Feind die Weichsel passiert hatte, sich uns eilig näherte, und alles vor sich her zurückdrängte, da war der Zeitpunkt vielleicht verschwunden‘.“12

Das Zitat verliert an Tragkraft, wenn man sich die Mühe macht, es im Original zu überprüfen. Hier steht an Stelle des bei Künßberg-Thurnau ausgeschriebenen „Herr von Hallberg-Broich“ lediglich die Abkürzung „H. v. H. B.“.13 Diese Initialen stimmen zwar durchaus mit dem Namenszug Hallberg-Broichs überein, eine eindeutige Aufschlüsselung des Namens wird im Original jedoch nicht gegeben.14 Dass es sich hierbei tatsächlich um Theodor von Hallberg-Broich gehandelt hat, ist somit nicht eindeutig nachweisbar.

Verhaftung und Einkerkerung

Anders verhält es sich mit der historischen Belegbarkeit eines weiteren Ereignisses, das bei von Künßberg-Thurnau unmittelbar auf die Pläne zum Aufstand von 1806 folgt. Der Biograph berichtet von einer willkürlichen Verhaftung Hallberg-Broichs durch französische Soldaten, die ihn über 36 Gefängnisstationen nach Paris transportierten. Matthias von Künßberg-Thurnau gibt eine Haftzeit des Freiherrn von Hallberg-Broich von insgesamt acht Monaten an, wobei der Delinquent starkes körperliches und seelisches Leid zu ertragen gehabt habe.

Während dieser Zeit soll Theodor von Hallberg-Broich immer wieder vergeblich Briefe aus dem Gefängnis an Napoleon geschrieben haben, um diesen um ein Verhör zu bitten. Aber nur ein Gnadengesuch seiner Mutter bei Kaiserin Josephine habe Hallberg-Broich – ohne vorheriges Verhör – schließlich aus der Haft befreit. Erst hiernach erfährt der Leser den Grund für Hallberg-Broichs Inhaftierung: „Hallberg war beschuldigt worden, an dem von einer Räuberbande ausgeübten Morde Theil genommen zu haben.“15

Fassen wir also zusammen: Hallberg war ein zwar unschuldig wegen Mordes inhaftierter, aber dennoch fanatischer Feind Napoleons. Saß Hallberg also aufgrund seiner vorangegangenen Aufstandspläne in Haft? Wohl kaum… Eine näheren Betrachtung der zeitgenössischen Quellen soll hierzu im nächsten Beitrag Auskunft geben.

Anmerkungen:

1 Künßberg-Thurnau gibt in seiner Schrift die Verwandtschaft ausdrücklich als Grund an, weswegen der Leser seine unparteiische Stellung bezweifeln könnte. Deswegen, so Künßberg-Thurnau, habe er sich weitestgehend darauf beschränkt, nur eigene Schriften Theodor von Hallberg-Broichs wiederzugeben. Siehe Matthias von Künßberg-Thurnau, Kriegsgeschichten, Reisen und Dichtungen. Aus den Papieren des Herrn Freiherrn von Hallberg-Broich (Eremit von Gauting), Landshut 1862, Vorrede (ohne Seitenangabe).

2 In seiner Biographie kann Egan-Krieger bereits kritisch auf einige Unklarheiten in den Angaben Gistels verweisen, wie etwa den Fenstersprung von Hallbergs zweiter Ehefrau Karoline, den der “Eremit” angeblich als Liebesbeweis von ihr verlangt haben soll. Quellenmäßige Belege lassen sich für diese Anekdote – wie auch für andere – nicht finden. Egan-Krieger vermutet den Grund für die Erwähnung solcher Anekdoten in der von Gistel geschriebenen Hallberg-Biographie in privaten Zwistigkeiten der beiden. Das freundschaftliche Verhältnis zwischen Gistel und Hallberg sei, laut Wolter von Egan-Krieger, um das Jahr 1836 beendet worden. Grund für das Zerwürfnis war, laut Egan-Krieger, die in einer Gesellschaft stattgefundene Verlesung eines von Gistel geschriebenen Lobgedichts auf Napoleon I. Hallberg-Broich, „maßlos in seinem Hass gegenüber dem einstigen französischen Imperator“, habe nach der Verlesung wutentbrannt die Gesellschaft verlassen und die freundschaftlichen Beziehungen zwischen beiden seien hierauf eingeschlafen. Im Vorwort seiner Studie verweist Egan-Krieger daher explizit auf die Unvereinbarkeit der Aussagen Gistels mit den hinterlassenen Papieren von Theodor von Hallberg-Broich und die große konservierende Bedeutung, die in diesem Zusammenhang der Schrift Matthias von Künßberg-Thurnaus zukomme. Zu allen Angaben vgl. Wolter von Egan-Krieger, Zwischen Weitsicht und Widersinn: Theodor Freiherr von Hallberg-Broich – Eine Lebensbeschreibung, Norderstedt 2007, S. 9–11 und S. 262–273.

3 Egan-Krieger 2007 (wie Anm. 2), S. 11.

4 Exemplarisch sei hier nur ein Aufsatz Schröders aus dem Jahr 1913 angeführt, der in der Zeitschrift “Der Niederrhein” unter dem Titel “Ein Napoleonhasser. Zur Erinnerung an Freiherrn von Hallberg Broich” erschien und auf den sich die Überschrift dieses Blogsposts bezieht. Siehe [Vorname unbekannt] Schröder, Ein Napoleonhasser. Zur Erinnerung an Freiherren von Hallberg-Broich, in: Der Niederrhein – Monatsschrift für Heimatkunde und Heimatpflege, Heft 1 (1913).

5 Zur angeblichen Überschreitung des Rheins während der Befreiungskriege siehe Künßberg-Thurnau 1862 (wie Anm. 1), S. 179; Johannes Gistel, Leben des preußischen General’s Freiherrn von Hallberg-Broich, genannt Eremit von Gauting, Berlin 1863, S. 30.

6 Vgl. Künßberg-Thurnau 1862 (wie Anm. 1), S. 179–180; Gistel 1863 (wie Anm. 5), S. 30–33; Werner Bülow, Der Eremit von Gauting – Theodor Freiherr von Hallberg-Broichs Leben, Ansichten und Reisen, Rosenheim 1991, S. 24–26; Egan-Krieger 2007 (wie Anm. 2), S. 40–47. Zur Tätigkeit von Hallberg-Broichs für den bergischen Landsturm liegen im Landesarchiv Nordrhein-Westfalen (seit 05.05.2014 Duisburg) Akten vor, die Aufschluss über die Organisation der Truppe bzw. Hallbergs Wirken geben. Siehe: Landesarchiv Nordrhein-Westfalen – Abteilung Rheinland, Generalgouvernement vom Nieder- und Mittelrhein, Formation der Bürgermiliz, Nr. 472–474; Landesarchiv Nordrhein-Westfalen – Abteilung Rheinland, Generalgouvernement Berg, Organisation der Landespolizei in Verbindung mit dem Landsturm als Polizeimiliz, Nr. 1884; Landesarchiv Nordrhein-Westfalen – Abteilung Rheinland, Generalgouvernement Berg, Frühlingsmanöver des Landsturms Siegburg am 7. März 1815 (Einladung durch Feldobristhauptmann Freiherr von Hallberg), Nr. 1490.

7 Helge Göhring zitiert zum Beweis einige Stellen aus den in Fußnote 6 angegebenen Akten. Siehe Helge Göhring, Der tolle Hallberg auf Haus Attenbach – Legende und Wirklichkeit eines Sonderlings zur Zeit des Bergischen Landsturms, in: Heimatblätter des Rhein-Sieg-Kreises, Jg. 59 (1991), S. 148–157.

8 Zu sämtlichen Angaben siehe Künßberg-Thurnau 1862 (wie Anm. 1), S. 174–175.

9 Zur Geschichte Jülichs in französischer Zeit siehe Vorstand des Jülicher Geschichtsvereins in Verbindung mit dem Stadtgeschichtlichen Museum Jülich (Hrsg.), Julier – France: Jülich in Frankreich 1794–1814 (=Jülicher Forschungen, Heft 3 = Führer des Stadtgeschichtlichen Museums Jülich, Nr. 5), Jülich 1994. Dass er sich zumindest kurzfristig nach der Einnahme Jülichs durch die Franzosen am 3. Oktober 1794 noch in Koblenz aufgehalten und diese Abwesenheit auch den Franzosen ordnungsgemäß mitgeteilt hatte, hat Schröder in seinem Aufsatz von 1913 festgestellt. Vgl. Schröder 1913 (wie Anm. 4), S. 127.

10 Künßberg Thurnau 1862 (wie Anm. 1), S. 175.

11 Wolter von Egan-Krieger vermutet, dass Hallberg-Broich aufgrund des drastischen Misserfolgs seiner ersten Aufstandspläne weitere zurückgestellt habe. Er bezweifelt jedoch den „Urlaubscharakter“ der Reise. Vgl. Egan-Krieger 2007 (wie Anm. 2), S. 24-25. Ob die Reise überhaupt stattgefunden hat, ist zu bezweifeln.

12 Zitiert nach Künßberg-Thurnau 1862 (wie Anm. 1), S. 175-176.

13 Friedrich von Coelln, Vertraute Briefe über die innern Verhältnisse am Preußischen Hofe seit dem Tode Friedrichs II., Bd. III, Amsterdam und Köln 1808, S. 352.

14 Wolter von Egan-Krieger zitiert zwar offenbar die Original-Schrift, da er die Abkürzung verwendet, scheint in der Aufschlüsselung, die bei ihm der Abkürzung in eckigen Klammern folgt, jedoch von Matthias von Künßberg-Thurnaus Schrift beeinflusst. Vgl. Egan-Krieger 2007 (wie Anm. 2), S. 26.

15 Künßberg-Thurnau 1862 (wie Anm. 1), S. 176.

Quelle: http://rhad.hypotheses.org/617

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