Kurz nach dem Fernsehbeitrag bei nano auf 3sat erreichten mich wieder einige Rückmeldungen, darunter eine besonders interessante einer 1932 in Berlin geborenen Frau, deren Email ich hier gerne teilen möchte. Der Fernseh-Beitrag wurde später bei Quarks & Co. auf der Webseite gezeigt und bei Facebook diskutiert:
https://www.facebook.com/QuarksundCo/posts/10154313784930564
Ich bekam aber auch eine Email von einer Frau aus Berlin (geb. 1932), die mich besonders berührt hat und die ich hier gerne als persönlichen Erfahrungsbericht veröffentlichen möchte.1
Hallo Sascha Foerster,
nein, ich bin keines der 4000 Nachkriegskinder, von denen Studien gemacht wurden über 10 Jahre lang, schon darum, weil ich als Berlinerin (1932-1950) dafür gar nicht in Frage kam.
Ich habe mich jedoch in der Vergangenheit sehr oft mit dem auseinandergesetzt, was meine Generation erlebt hat und was niemals auch nur ansatzweise in irgendeiner Form hinterfragt wurde. Es ist, als wäre das, was wir erlebt hatten während unserer Kindheit (häufige nächtliche Fliegeralarme; Angst vor Bomben von den Flugzeugen am Himmel und den Splittern der Flakgeschosse; Angst dann vor den herannahenden sowjetischen Truppen; Angst zu hungern; Angst, die betrunkenen russischen Soldaten könnten mich (knapp 13), meine Mutter oder die Nachbarin die ersten Wochen im Mai 1945 nachts in unserem Versteck im Kohlenkeller finden; Angst, die zwei russischen Soldaten, die eines Tages in unser kleines Haus am Rand von Berlin kamen und ‘Uhri, Uhri’ suchten und meinem Vater eine Pistole an die Schläfe setzten, könnten ihn wirklich erschiessen, dann – ich weiss nicht, ob das nicht noch schlimmer war – die ersten Tages-Zeitungen, die einige Wochen nach dem Ende des Krieges wieder erschienen und über die Greuel des Volkes berichteten, zu dem ich gehörte, die an den Insassen der KZs begangen worden waren…… Und der Hunger, zwei Jahre lang. Ich erinnere mich lebhaft an die Lektüre der Morgenzeitung, ich denke, es war die MORGENPOST, die ich täglich las, jedes Wort über all’ die Verbrechen, die die Nazis an den Juden, Zigeunern, Andersgläubigen und denkenden begangen hatten. Ich erinnere mich daran, wie elend und hilflos ich mich damals gefühlt hatte und – wie allein. Niemals und niemand hat jemals mit mir über all’ diese Erlebnisse gesprochen. So war das eben. Es WURDE NICHT ÜBER ETWAS GESPROCHEN, WAS JA EH’ ALLE GLEICHZEITIG ERLEBT HATTEN. Man tat seine Pflicht, hatte seine Aufgaben und übte daneben Treu’ und Redlichkeit! Das scheint mir heute noch das Unmenschlichste an der Situation!
Ich hatte mich – (mit 9 Jahren wohlgemerkt!) – auf Fragen meines Vaters für den Besuch des Lyzeums entschieden und ging also dann nach angemessener Zeit wieder regelmässig zum Unterricht, meine Leistungen wurden aber immer schlechter und ich hielt mich schlicht für zu dumm und glaubte nicht einmal, das Abitur je zu bestehen. Bestand es dann aber doch knapp, dachte jedoch niemals an ein Studium und es war niemand da, der mit mir je darüber sprach oder mir zusprach. Man war wohl einfach froh, alles einigermassen heil überstanden zu haben, im Gegensatz zu meiner Grossmutter, die noch 3 Monate vor Ende des Krieges im Zentrum Berlins (Mitte), durch eine Sprengbombe bei einem Luftangriff im Luftschutzkeller ums Leben kam. Der Grossvater war zu diesem Zeitpunkt noch an seinem Arbeitsplatz, wenige Kilometer entfernt. Er hat den Tod seiner Frau nie mehr verwunden. Und diese Grossmutter hatte bei Familienfesten nie verabsäumt, über ‘diesen Verbrecher, diesen Halunken….’ zu schimpfen.
Nach dem Sommer 45, als die Dinge sich einigermassen wieder ‘normalisiert’ hatten, bekamen wir einen neuen Mathe-, Physik- und Chemielehrer’, direkt aus Auschwitz. Er sah sehr jüdisch aus und war mild und sehr freundlich. Er war, denke ich, nicht älter als Ende 2O. Er stellte uns auch seine junge Frau vor, ebenfalls sehr jüdisch aussehend. Sie hatten beide Auschwitz überlebt, aber nicht ihre dort geborenen Zwillinge. Etwa 25 Jahre später hatte ich beide in San Francisco/Cal. besucht und später mit einer Schulfreundin auch die
Witwe allein noch einmal. Sie hatten sich sehr über unsere Besuche gefreut, – auch wenn wir die einzigen Schülerinnen waren, von denen sie jemals noch nach ihrem Auszug aus Berlin etwas gehört oder gesehen hatten.
Verzeihen Sie, dass diese e-mail so lang geworden ist. Es ‘läppert sich’ zusammen, auch wenn man nur einige Punkte aus einem langen Leben erwähnen wollte.
Ich wünsche Ihnen alles Gute für Ihre Studien. Und viel verwendbares Material!
Mit freundlichen Grüssen
HL
Auf diese Email hin fragte ich nach, ob ich sie als Erfahrungsbericht veröffentlichen darf und ob sich die Erfahrungen ihrer Meinung nach auf ihren Lebenslauf ausgewirkt haben. Als Antwort erhielt ich eine weitere spannende Email:
Lieber Sascha Foerster,
ich bedanke mich sehr für Ihre e-mail, die nun schon seit dem 4. Juli auf meine Antwort hier auf meinem laptop wartet. Entschuldigung! Es ist so heiss hier, in Südwest-Spanien an der Küste und ich habe mich z.T. nicht gut genug gefühlt, um zu antworten. Aber – obwohl es heute genauso heiss ist – fühle ich mich doch beinahe genötigt, Ihnen zu antworten: es ist der 70. Jahrestag des Hitler Attentats und gleichzeitig der 70. Todestag des damaligen Hitler-Attentäters Stauffenberg und ich kann mich noch sehr genau an meine Reaktion – die eines ignoranten 12-jährigen BDM-Mädchens – erinnern auf die Radiomeldung vor 70 Jahren! Heute bewundere ich Stauffenberg sowie den gesamten Hitler-Widerstand natürlich sehr, und bedaure ausserordentlich, dass Claus Schenk Graf von Stauffenberg sein Leben daraufhin lassen musste und der wahre Kriegsverbrecher und Mörder nochmals fast ein weiteres Jahr weiterherrschen konnte!
Sie dürfen meine Reminiszenzen gerne weiterverwenden, wenn sie Ihnen für Ihr Projekt dienen können. Auf Ihre Frage nach direkten Einwirkungen des 2. Weltkrieges und besonders des Hitler-Regimes auf meinen Lebenslauf, kenne ich nur einen Punkt: Ich habe mich von meinem 13. Lebensjahr bis vor wenigen Jahren – bis es mir ganz bewusst war – als Deutsche SEHR SCHULDIG gefühlt! Vergessen Sie nicht: uns wurde schon bei den Jungmädchen (die jüngere Garde der BDM-
Mädchen, von 10 – 14 Jahren) eingeredet, dass WIR, besonders die blonden, blauäugigen Menschen die wertvolleren der Spezi Mensch waren. (Da kommt mir eine Erinnerung: Ich fuhr einmal während des Kriegs mit einem Zug – ich vermute von Küstrin oder Landsberg a. W. nach Berlin und, als der Zug kurz halten musste an einem kleinen Bahnhof, sah ich eine Gruppe, – wohl Kriegsgefangener, - dort stehen. Einer der Zuggäste meinte, es seien kanadische Kriegsgefangene. Daraufhin beobachtete ich die Männer ganz genau und fand, als 11-12-jähriges Kind, dass
diese eigentlich genauso aussähen wie Deutsche!) Irgendwie tröstet mich diese Erinnerung, die sehr lebhaft ist, denn sie zeigt, wie immer man uns von der Politik oder der Hitler-Jugend indoktriniert hatte:
Ich kleines Mädchen hatte mir eine eigene Meinung gebildet, wenn mir die Möglichkeit gegeben war, selber zu beurteilen. Natürlich lebten wir damals ohne die vielen Medien, die Kindern, resp. allen Menschen, heute zur Verfügung stehen. Meine Eltern konnten sich – finanziell - nur EINE Tageszeitung halten, es gab kaum, – oder meine Eltern konnten es sich nicht leisten- , Wochenzeitschriften, keine anderen politischen Radiosendungen als die NAZI-gesteuerten, die ebenfalls von
der Regierung erstellten Wochenschauen im Kino, natürlich kein Fernsehen etc. Ich frage mich natürlich, wenn ich meinen letzten Absatz nachlese, können Sie, ich meine, Ihre Generation, noch vollumfänglich die Grenzen nachvollziehen, die die den Menschen damals gezogen wurden? Das ist nicht als Kritik gedacht, natürlich nicht. Ich kann nur alle jungen Menschen ermuntern, sich für demokratische, freiheitliche Regierungen einzusetzen, dafür zu kämpfen, für sich und die folgenden Generationen.
Ja, jetzt möchte ich doch noch einmal auf meine Schuldgefühle, die mich als junges deutsches Mädchen bei Kriegsende befallen und mich dann mindestens 5 Jahrzehnte belagert hatten, ein-
gehen. Ich war als 13-Jährige so entsetzt, was ich nach Kriegsende in den Zeitungen las über die Naziverbrechen – besonders die KZs – und was den Juden dort angetan worden war, dass es meine Seele wohl für Jahrzehnte zugeschüttet hatte.
Nach Schulabschluss, 1950, in Berlin, war einerseits meine Angst davor, dass die Russen eines Tages/Nachts diese Insel einfach einnehmen konnten,so gross und andrerseits die Alternative: ‘Was tun?, sprach Zeus’ so erdrückend, dass ich mich als unerfahrene Achtzehnjährige (mein Vater hatte mir eröffnet, dass er mir kein Studium zahlen würde/könnte und mein Minderwertigkeitsgefühl so gross (Studium? Welches? Und : Das würde ich sowieso nicht schaffen/können) umsah und – mir einen Platz als mothers’ help (heute: au pair) in einem englischen Haushalt besorgte! Wohlbemerkt: ohne PC, i-Pad, i-Phone, Fax, handy oder Telefon (wir hatten keines!).
Es ging auch mit Briefmarken, Adresse noch mit Füller aufs Couvert schreiben. Kugelschreiber gab es, glaube ich, auch noch nicht! Und, natürlich, ohne Flugticket, sondern als Beifahrerin in einem Laster bis Köln, glaube ich, und von da mit der Bahn (3. Klasse, Holz!) bis an den Kanal in Belgien. Dann kam der wunderbare englische Zug mit gepolsterten(!) Bänken, einem aufgeklappten Tisch zwischen den beiden Bänken, auf dem ein Zugkellner ‘high tea’ servierte. Gottlob war mein Englisch (8 Jahre am Lyzeum bis zum Abitur) recht gut und ich konnte meinen englischen Mitreisenden, die mich dann zum high tea eingeladen hatten, als sie das dünne, blonde, deutsche Mädchen hörten, eindrücklich auf Englisch alles erzählen. Von Berlin und von East Yorkshire, wohin ich noch mit dem Zug von London aus reisen musste. Nun, ich hatte sehr viel Glück
mit der englischen Familie mit drei kleinen Mädchen, dem etwa 30-jährigen Ehepaar, mit dem grossen englischen
Land-/Farmhaus und mit allen Verwandten und Nachbarn der Familie. Ich wäre dann gerne nach knapp 2 Jahren für immer
in England geblieben. Das liess sich jedoch nicht verwirklichen, 5 – 7 Jahre nach dem Krieg!
So bin ich danach wieder zurückgefahren nach Berlin, habe mich sofort umgesehen, fand aber keine Arbeit. Aber ich war hartnäckig. Und hatte nach 3 Monaten dann doch eine Stelle als ‘Empfangsvolontärin’ für DM 50.- im Monat!!!! So bin ich also in die Hotelerie ‘gerutscht’, habe ich mich hochgearbeitet, mich selber weitergebildet und habe dann nochmal für 3 Monate eine Stelle in einem französischen Haushalt mit (5 Kindern) in Paris angenommen, um mein Schul-Französich aufzubessern. Anschliessend fand ich heraus, dass die Schweizer Hotelerie händeringend in den 50er-Jahren Sprachkundige als Hotelsekretärinnen suchte. So kam ich 1954 (wenige Wochen vor dem ‘Wunder von Bern’) in die Schweiz und konnte meine Sprachkenntnisse gut einsetzen und sogar noch eine weitere autodidaktisch dazulernen.
Ich war in die Schweiz gekommen, um eine halbwegs gut bezahlte Arbeitsstelle zu finden, war aber im heiratsfähigen Alter und – blieb dann insgesamt knapp 50 Jahre dort, bis ich mich entschloss, mich in Südspanien niederzulassen, weil meine Schweizer Rente hier weiter reicht.
Erst in den letzten – vielleicht 15 – 20 Jahren – fühle ich mich nicht mehr ständig schuldig dafür, in den dreissiger Jahren in Berlin/Deutschland geboren worden zu sein. Mein ‘Herumzigeunern’ in verschiedenen europäischen Ländern jedoch ist wohl mein ganz persönliches Schicksal, das – so wie ich es sehe, – wenig mit der politischen Vergangenheit meines Heimatlandes zu tun hat. Aber als ‘Deutsche’ habe ich den Kopf oft einziehen müssen (oder freiwillig eingezogen) – auch in der Schweiz – , wohl vor allem aus eigenen Schuldgefühlen.
Falls Sie noch ein bisschen Hitze brauchen können: Ich würde Ihnen gerne ein paar Grad C schicken. Aber der Osten Deutschlands hat momentan wohl auch noch rund 30°. Wir hier haben seit langem keinen Regen mehr gehabt!
Ich wünsche Ihnen alles Gute und grüsse Sie
freundlich,
Ihre
HL
- Natürlich veröffentliche ich solche Emails nur nach Zustimmung und anonymisiert.
Quelle: http://zakunibonn.hypotheses.org/1269