“Bleichsucht und Blutarmut” steht auf der Kladde im Halbkreis ausgeschnitten. Und unten: “Fort mit den TÄTOWIERUNGEN“.
In dieser Sammlung finden sich die Briefe, Postkarten und Zeitungsausschnitte, die Kurt Schwitters in den Jahren 1919-21 sammelte, zusammenklebte und verMERZte. Ausserdem sind einige Skizzen der Antworten des MERZ-Künstlers (und seiner Frau) enthalten.
Bereits diese, relativ kleine Sammlung (unter 60 Blätter) zeugt das rege Leben, fulminante Aktionen und Unverständnis des Publikums. Man kann die Inhalte in mehrere Gruppen kategorisieren:
Dadaisten.
Raoul Hausmann, Richard Huelsenbeck, Tristan Tzara – die Korrespondenz sprudelt (wenn auch einseitig, da die Antworten von Schwitters in dieser Kladde kaum enthalten sind). Tzara, Serner sind von Schwitters Arbeiten begeistert, nehmen mit ihm Kontakt auf und möchten ihn im finanziell geplagten Band “Der Zeltweg” veröffentlichen.
Die “Status Quo”-Entwicklungen, die den kanonischen Stereotypen teilweise widersprechen. Richard Huelsenbeck, der oft in Schwitters’ Biographien als sein Counterpart dargestellt wird, ist dem MERZer wohlwollend gesonnen. Klar, gibt es Differenzen, klar, es wird an ihrer Freundschaft gerüttelt. Doch ist Huelsenbeck fernab seiner zugesprochen nihilistischen Pose. Er schreibt freundlich und bestimmt:
Sie wissen dass ich Ihnen durchaus sehr freundschaftlich gegenüber stehe. Ich finde auch, dass der gewisse Gegensatz, den Sie und ich zwischen unseren Tendenzen feststellen konnten, uns nicht hindern dürfe, gemeinsam gegen den gemeinsamen Feind, Bourgeoisie und Banausentum vorzugehen (Bl. 11r, Sammelkladden, S. 18)
Raoul Hausmann pflegt zwar gute (ja beste) Freundschaft mit Schwitters, will aber mit der expressionistischen “Sturm-Gallerie” (in welcher Schwitters ausstellte) und seinem Initiator Herwarth Walden nichts zu tun haben und wird auf Dauer zickig:
Ist Herr Walden für mich so belanglos, dass ich Dir aus diesem Grunde versichern kann, dass ich mein Blatt damit nicht belästigen werde. (Bl 1, Sammelkladden, S. 8)
Man sieht, es brodelt nur so vor Differenzen und Diskrepanzen zwischen Freundschaft und dem künstlerischen Schaffen, man zieht sich gegenseitig aus gemeinsamen Projekten zurück, um im nächsten Moment wieder zu kooperieren. Und Schwitters bleibt loyal gegenüber seinen Aussteller und Verleger, aber auch vertritt er Interesse seiner Dada-Freunde und empfiehlt sie überall weiter.
Verleger, Aussteller.
Das sind meistens Geschäftsbriefe, Ideen, Projektandeutungen. Man liest zwischen den Zeilen die Problematik, den schwer zugänglichen Avantgardisten zu vermarkten, in Zeiten der Nachkriegsinflation und knapper Kassen. Man bleibt aber erfinderisch.
Schwitters’ Verleger Steegemann beispielweise realisiert eine der ersten Viralen Campagnen zu dem Gedichtband “Anna Blume”: er lässt auf den Wänden Hannovers in einer Guerilla-Aktion Plakate mit Zehn Geboten kleben, und eine Woche darauf werden die Gebote mit dem eigentlichen Gedicht überklebt. Die Öffentlichkeit rastet aus, speit und wird auf die Palme gebracht. Man reisst die Plakate ab, man überschreibt die Plakate mit eigenen Texten, Parodien, Sarkasmen, die besten davon werden wiederum von Steegemann in seiner Zeitschrift “Der Marstall” veröffentlicht.
Es ist eindeutig eine fröhliche und aggressive Taktik, das Spießbürgertum aus ihren Schlafsesseln auszurütteln. Das Publikum wird echt sauer.
Publikum (negativ).
Hier sind (wohl nicht alle, aber einige aussagekräftige) Exemplare der Reaktionen auf Schwitters Schaffen präsentiert. In Möchtegern-Parodien versucht man, dem Autor zurückzuzahlen, wie dieser Anonymer:
Liebes Anna Blume Tier
ich liebe Dir.
Du scheinst nicht mehr ganz richtig zu sein. In Ilten [psychiatrische Heilanstalt,- V.A.] ist noch eine Zelle frei (Bl. 37, Sammelkladden, S.44)
Auf die psychische Unzurechnungsfähigkeit versuchen viele Kritiker das ganze Schaffen Schwitters zu reduzieren. Sie sind verletzt in ihrer Kant’schen Mündigkeit, denn ihr Vernunft kann mit den Texten und MERZ-Bildern nichts anfangen. Und das nervt. Gewaltig.
Publikum (wohlwollend)
Doch nicht alle sind in ihrer eigenen Rationalität verletzt. Es gibt begeisterte, die auf der gleichen Wellenlänge mit Schwitters leben.
Da schreibt der Facharzt für innere Krankheiten, Dr. Rubin, der ein MERZ-Bild in seiner Praxis auf die Wand hängen lässt:
Als ich nach einiger Zeit ins Zimmer trat, hörte ich sowohl von meiner Frau als auch von unserem Fräulein Ausrufe des Entzückens. Offen gestanden: ich war platt! [...] Was die Damen entzückte, war nun nicht das >>merz<<liche der Bilder sondern der durch Farben- und Rahmenwahl gelungene freudige Gesamtwert. (Bl. 46 r, Sammelkladden, S. 51)
Das ist charakteristisch für Schwitters’ Oeuvre: er ist, in Gegensatz zu Berliner Dadaisten, ein Allround-Schaffender, er steht mit einem Fuss im bürgerlichen, mit dem anderen im anarchistisch-avantgarden. Nicht, dass er sich nicht entscheiden kann – er hat sich schon längst entschieden. Er kann das Publikum mit ungewöhnlichen Massnahmen empören, er kann das Publikum aber auch mit klassischen Motiven einlullen. (Es kulminierte in seiner traurigen Endphase, als Schwitters auf der norwegischen Insel Hjertøya in einer einsamen Hütte sein Merzbau für sich allein realisierte, und gleichzeitig zum Überleben klassische Landschaftsbilder an das breite norwegische Öffentlichkeit verkaufte, das Publikum, das seine MERZ-Kunst in keinster Weise verstehen konnte.). Er kann aber auch mit einem Werk mehrere Zielgruppen auf einmal treffen und begeistern. Diese Multikompatibilität und Vielseitigkeit (ja stilistische Flexibilität) war einer der Hauptpunkte der Konflikte mit Berliner Dada, als Huelsenbeck den Merz-Künstler Kaspar Davin Friedrich der dadaistischen Revolution nannte und für die bürgerliche Verankerung kritisierte. Aber Schwitters verleugnete es nicht einmal, und distanzierte sich von DADA. Schwitters ist nicht DADA, er ist MERZ. Er hat das Bürgerliche infiltriert und praktiziert die Implosion einer bürgerlichen Gesellschaft.
Auf andere wirkt Schwitters’ Schaffen fast transzendental. Der Grafiker Georg Arndt schreibt:
Ich habe mich gefragt, woraus die starke und unmittelbare Wirkung Ihrer Bilder resultiert und gerate im Verlegenheit: Ich weiss es nicht, – ich fühle nur, dass es so ist, – Also ein mystischer Vorgang! (Bl. 20 r, Sammelkladden, S. 26)
Eine weitere – höchst affirmative und sympathische Reaktion – findet sich im Brief einer 15-jährigen Sophia Falk, die Anna Blume zeichnete, und zwar so, dass man das Bild von beiden Seiten (wie im Gedicht) sehen=lesen konnte:
Das Bild entspricht (meiner Meinung nach) wirklich Ihrem Gedicht. Sie brauchen nämlich nur das Bild von der anderen Seite gegen das Licht halten, und Anna [Bl. 50 v] ist >>von hinten, wie von vorne<< (Bl. 50 r, Sammelkladden, S. 54)
Das Bild finden Sie übrigens in der Illustration zu meinem vorherigen Eintrag.
Publikum (verwirrt)
Diese Gruppe versucht, vor allem “Anna Blume” zu verstehen. Diese Rezipienten wollen’s, können’s aber nicht. Sie werden nicht empört oder erzürnt, sondern eher verzweilfelt, und wenden sich an Schwitters mit Hilferufen, endlich das Gedicht zu erklären:
[...] Zunächst einmal die Frage, wer ist überhaupt Anna Blume? Was verstehen Sie unter 27 Sinnen, ich kenne nur 5? [...] Was he[ißt] ungezähltes Frauenzimmer? (Bl. 44, Sammelkladden, S. 49)
Vielleicht haben Sie den Drang mich aus diesem [...] Wirrwarr zu befreien, indem Sie mir den Weg andeuten, den ich zu beschreiten habe, um Sie [...] zu verstehn. Ich möchte fast sagen, ich hoffe bestimmt darauf, dass Sie mir antworten (Bl. 49 r., Sammelkladden, S.54)
Man merkt buchstäblich, wie Hirnschmalz schmelzt, wie Verzweiflung ihren Raum findet, doch die Leser geben nicht ab.
Leider sind die Antworten in dieser Sammelkladde nicht präsent. Es ist aber ein Briefentwurf von Helma Schwitters enthalten. Die Frau des Künstlers, eine wahre Heldin, Muse und Unterstützerin, schrieb in Schwitters’ Abwesenheit über die “Nebensächlichkeit der Technik” im Schaffen ihres Mannes. Dies sei für Schwitters Kunst unwichtig, sondern das Ganze:
Es ist ja auch vollkommen gleichgültig, ob der Künstler das Gepappe wieder übermalt [...] sehen Sie doch nicht hinter Einzelheiten, sehen und fühlen Sie doch die Kunst, die Kunst die unaussprechlich dahinter steht. [...] Nichts ist wert[]los, das Geringste und Hässlichste hat die Berechtigung Grundstein zum Schönen und Edelsten zu werden. [...] [Mein Mann] versucht aufbauend ihnen [den Menschen - V.A.] zur Freudigkeit an den Nichtigkeiten des Lebens, die alle zusammen doch wieder ein großes, herrliches Welterleben geben, zu verhelfen (Sammellkladden, S. 58)
Sie trifft ganz genau den Kern der Schwitters’schen Philosophie: kein Element seines Schaffens ist unwichtig, alles wird gegeneinander gewertet, alles ist zu einem Zwischenspiel, zu einer materiell-ideellen Interaktion verwoben und schaft somit ein Gesamtkunstwerk, das man nicht in Einzelteile auseinanderbauen sollte, wenn man dieses Gesamtkunstwerk denn wirklich begreifen möchte.
Interessant ist bei Bleichsucht und Blutarmut die Auswahl der Texte, die Schwitters selbst zusammenstellte – Skizze des Briefes seiner Frau, DADA-Korrespondenz, wütende Anonymbriefe, ein paar eigener Briefentwurfe – das alles wiedergibt die Unstabilität, Explosivität der Epoche, seiner aktiven Zeit als Künstler inmitten von Kulturfronten und Gesellschaftsumbrüche. Das werden wohl die weiteren Sammelkladden ebenso demonstrieren. Werden wir sehen.
S. auch weitere Teile der Rezension von “Kurt Schwitters. Die Sammelkladden 1919-1923″.
Quelle: http://merzdadaco.hypotheses.org/80