Ich schreibe für meine Diss gerade zum Zusammenhang zwischen positiven Erlebnissen und Lernen – z.B. während des Spielens – da fällt mein Blick auf einen Zeitungsartikel, den mir meine Freundin gestern mitgebracht hat: „Ein Hoch auf den Frontalunterricht“ von Tina Baier. Sie nimmt den Artikel „Die zehn populärsten Irrtümer der Pädagogik“ der Zeitschrift „Schule&Wir“, (S. 4-7), die vom Bayerischen Kultusministerium herausgegeben wird, aufs Korn. Frau Baier regt sich zu Recht auf und mir kommt auch die Galle hoch. Nicht das der Artikel des Ministeriums grundsätzlich falsch ist, aber vieles ist platt, einseitig und bewusst verzerrt formuliert.
Es ist aber auch zu blöd, dass Schulen mit einem reformpädagogischen Ansatz bei Eltern so beliebt sind. In Zeiten sinkender Schülerzahlen muss man sich was einfallen lassen und da ist es zunächst mal am einfachsten, den „Gegner“ schlecht zu machen.
Zu dumm, dass am Ende des ministerialen Artikels nur Tipps zum Weiterlesen von verärgerten Lehrern (Wisniewski und Vogel, sh. hier) und einer Journalistin aufgeführt sind. Wenn ich Ministerium wäre, würde ich renommierte Wissenschaftler als Leseempfehlung geben. Und es ist jetzt schon wieder ziemlich blöd, die renommierten Wissenschaftler, wie Gerhard Roth, Gerald Hüther und Manfred Spitzer sagen allesamt so ziemlich das Gleiche. Und das steht dem Inhalt des Artikels in “Schule&Wir” in vielen Punkten zugegen.
Zumindest wären die genannten Herren in der Lage, relevante Irrtümer, die es im pädagogischen Bereich gibt, auf dem Stand der Forschung zu diskutieren. Und zwar in einer Art und Weise, die den Intellekt mitdenkender Eltern nicht beleidigt.
Demokratische Bürger sind unbequem
Aber es doch klar, warum das Kultusministerium Spaß am Lernen und Lob argwöhnisch betrachtet und Noten, Sitzenbleiben sowie Frontalunterricht propagiert: Der Staat schafft sich seine Bürger selbst. Und wo kämen wir hin, wenn sich in der Schule Demokratie breit machen würde? Demokratie ist für den Bürger nur in geringen Dosen gut, gerade eben so viel, dass er den Eindruck hat, in einer zu leben. Mehr nicht. Wirklich demokratisch erzogene Bürger sind unbequem und außerdem: Vielleicht hat der Staat Angst, dass ihm letztendlich die CSU-Wähler wegbrechen?
Die Parolen, mit denen heute das Bayerische Kultusministerium wirbt, wie „Ohne Fleiß kein Preis“, sind nicht nur längst überholt, sie sind zutiefst demokratiefeindlich. Ich meine damit nicht, dass Faulheit gut ist. Aber Fleiß von außen als Parole anzusetzen, zu propagieren, dass nur der Fleißige gut sein kann, weil er eine Eins schreibt und damit einen Wert hat, ist überholt. Hat man im Ministerium schon einmal davon gehört, dass „Fleiß“ bei Interesse der Schüler einfach da ist? Nur hat diese Bereitschaft der Mitarbeit eher die Ausprägung von „Engagement“ oder „begeisterter Mitarbeit“. So etwas zu schaffen, ist einem demokratischen Lehrer möglich!
Reformpädagogik hat alte Wurzeln
Interessant finde ich, wie weit und erfolgreich viele reformpädagogische Ansätze, wie Montessori, die Individualpsychologie nach Alfred Adler, die Heilpädagogik und Gruppenpädagogik bereits im Wien der 1920er und 30er Jahre, also vor dem 2. Weltkrieg und der NS-Zeit, waren. Die Stadt war zu der Zeit maßgeblich in Fragen des Unterrichts sowohl für inländische als auch für ausländische Besucher. Hier zwei Zitate von Rudolf Dreikurs, einem Schüler Alfred Adlers. Die Erstauflage des Buches kam 1971 heraus und hat nichts an Aktualität eingebüßt:
“In einer Epoche, in der alle außer den Privilegierten soziale Gleichberechtigung verlangen, wird die Anmaßung derer, die sich zu Bonbon- und Prügelverteilern machen möchten, einfach nicht mehr akzeptiert. Es ist einigermaßen grotesk, daß wir zwar selbst durchaus negativ auf solche anmaßenden Methoden reagieren, trotzdem aber versuchen, sie in der Erziehung unserer Kinder anzuwenden.” [...]
“Unsere Schwierigkeiten entstehen daraus, daß wir nicht fähig sind, als Gleiche miteinander zu leben. Wir müssen neue Methoden und Einstellungen entwickeln – innerhalb der Familie, im Schulleben, in der Wirtschaft und in der Politik.
Wir sind noch immer mit einer autokratischen Tradition beladen, und es gelingt uns nicht, uns davon zu lösen. In der allgemeinen Wirrnis, die daraus entsteht, können wir nicht tun, wozu wir durchaus imstande wären, nämlich eine soziale Atmosphäre, innerhalb der sich die Demokratie entwickeln kann, zu schaffen und das trotz der Verhältnisse, die sie hemmen.“
Literatur: Rudolf Dreikurs: Selbstbewußt. Die Psychologie eines Lebensgefühls. Soziale Gleichwertigkeit und innere Freiheit, 3. Auflage 1990, S. 31 und S. 222
Bild: Max Liebermann: Nähschule (Arbeitssaal) im Amsterdamer Waisenhaus – 2.Fassung, 1876-1877, Ort: Wuppertal, Von-der-Heydt-Museum, Bildquele: www.artigo.org
Quelle: http://games.hypotheses.org/1675