Zur Aktenkunde der Emser Depesche

 

Einige Male wurde ich gefragt, ob das Bannerbild zu diesem Blog aus der Emser Depesche stamme. Das ist richtig. Genau gesagt: Es zeigt einen Ausschnitt des Kopfes der Entzifferung des telegrafischen Berichts Abekens aus Bad Ems.

Die Emser Depesche eignet sich gut, um den Erkenntnisgewinn einer aktenkundlichen Herangehensweise an die archivalischen Quellen zu demonstrieren. Dabei wird deutlich, wo die Unterschiede zu einer rein historisch-philologischen Textkritik liegen, die mit Texten und Textzeugen operiert, ohne die Natur von Aktenschriftstücken als Produkten von Verwaltungsprozessen zu berücksichtigen.

Walder (1972) ist die maßgebliche Edition der Depesche. Sie bietet einen zuverlässigen Text, zeugt aber auch von einer gewissen Ratlosigkeit im Umgang mit Überlieferungsverhältnissen, die aus aktenkundlicher Sicht eigentlich recht übersichtlich sind. Walder betrachtete Abekens Konzept des Telegramms und die Bismarck vorgelegte Entzifferung als unterschiedliche Dokumente und konnte auch die Ausfertigungen des Runderlasses mit dem redigierten Text begrifflich nicht treffend bezeichnen.

Walder (1972: 3) wollte “von der Depesche in den verschiedenen Stadien, die sie durchlaufen hat” jeweils “den genauen Text durch wortgetreuen Abdruck der erhaltenen Originale [...] geben”. Das ging soweit, das Originallayout im Drucksatz nachzubilden, andererseits aber Abkürzungen unaufgelöst zu lassen. Imitation also statt Edition, eine drucktechnische Variante der “paläographischen Abschrift” der klassischen Diplomatik. Zur an sich in der Tat gebotenen Differenzierung stellte Walder unglücklicherweise der “Emser Depesche” eine “Depesche aus Ems” gegenüber und perfektionierte damit die Verwirrung.

Die heute maßgebliche Quellensammlung zu den Ursprüngen des Deutsch-Französischen Krieges von 1870/71, Becker (2007: Nr. 854), übernimmt Walders Text, geht in der Fokussierung auf die Textgestalt aber noch weiter, indem die “Depesche aus Ems” der “Emser Depesche” im Paralleldruck gegenübergestellt wird – als wären es Original und interpolierte Verfälschung einer mittelalterlichen Urkunde in einem Diplomata-Band der MGH.

Einen Aktenvorgang, auch wenn er nur aus wenigen Stücken besteht, kann man in dieser Weise aber nicht aufbereiten, weil jedes einzelne Aktenschriftstück eben nicht bloß ein Textzeuge ist, sondern in seiner Materialität, mit unikalen Bearbeitungsspuren, eine räumlich und zeitlich definierte Momentaufnahme eines Entscheidungsprozesses markiert.

Dies zur Einleitung. Ich habe mir vorgenommen, an dieser Stelle in den nächsten Wochen fünf aktenkundliche Aspekte des als “Emser Depesche” bekannten Vorgangs zu behandeln:

  1. Der Überlieferungszusammenhang
  2. Abekens Telegramm I: Das Konzept
  3. Abekens Telegramm II: Die Entzifferung
  4. Bismarcks drei Teilrunderlasse
  5. Aktenkundliche Perspektiven

Der letzte Teil soll ein von Schäfer (2009: 98-101, 119) angemahntes Desiderat aufgreifen: Die Aktenkunde sollte sich, wie vor ihr schon die Urkundenlehre, stärker als umfassende Diplomatik begreifen, die “die Schriftlichkeit in Gerichtsbarkeit und Verwaltung sowie deren Produkte” zum Gegenstand hat. Hinzuzufügen ist die Regierungstätigkeit, die trotz Bürokratisierung keine Verwaltung im engeren Sinne ist. Das Telegramm in der Diplomatie ist dafür ein dankbares Demonstrationsobjekt.

Auf den Inhalt im Einzelnen und die historische Bedeutung der Emser Depesche muss hier wohl nicht eingegangen werden. Indem Bismarck den Bericht über die Begegnung Wilhelms I. mit dem französischen Botschafter in Bad Ems in einer redigierten Fassung verbreitete, provozierte er Frankreich zur Kriegserklärung. In wie weit Bismarck dies planvoll betrieb oder die Entwicklung ihn vor sich hertrieb, ist in der Forschung bis heute umstritten (monographisch zuletzt Wetzel 2005: 176 f.). Man könnte den Eindruck haben, es würden mi dt dieser Sachfrage in der Hand auch jahrzehntealte Gelehrtenfehden um Imperialismus und den Primat der Innenpolitik fortgesetzt. Der Wikipedia-Artikel hinkt der Forschung hinterher.

Ich arbeite seit einigen Wochen an diesem Thema, an dem ich einmal das ganze Instrumentarium der Aktenkunde demonstrieren möchte. Es ist zwar für die Depesche nicht relevant, aber ein schöner Zufall, dass das Landesarchiv Baden-Württemberg jetzt eine wichtige, von Becker (2007) schon ausgewertete Parallelüberlieferung zu den Akten des Auswärtigen Amts zur spanischen Thronfolge digitalisiert und online gestellt hat (über Archivalia).

Ich bin froher Hoffnung, etwa wöchentlich bloggen zu können … Demnächst also mehr: gleiche Stelle, gleiche Welle.

Literatur

Becker, Josef 2007. Bismarcks spanische “Diversion” 1870 und der preußisch-deutsche Reichsgründungskrieg: Quellen zur Vor- und Nachgeschichte der Hohenzollern-Kandidatur für den Thron in Madrid 1866-1932. Bd. 3: Spanische “Diversion”, “Emser Depesche” und Reichsgründungslegende bis zum Ende der Weimarer Republik: 12. Juli 1870-1. September 1932. Paderborn. (Eingeschränkte Vorschau bei Amazon. Wer sich einloggt und nach Nr. 854 sucht, kann den gesamten Editionstext der Depesche lesen.)

Schäfer, Udo 2009. Amtliche Aktenkunde der Neuzeit: Records Management des 21. Jahrhunderts. Zur Schnittmenge zweier Disziplinen. In: Uhde, Karsten Hg. 2009. Quellenarbeit und Schriftgutverwaltung – Historische Hilfswissenschaften im Kontext archivischer Aufgaben. Veröffentlichungen der Archivschule Marburg 48. Marburg. S. 89-128.

Wetzel, David. 2005. Duell der Giganten: Bismarck, Napoleon III. und die Ursachen des Deutsch-Französischen Krieges 1870-71. Paderborn.

Walder, Ernst Hg. 1972. Die Emser Depesche. Quellen zur neueren Geschichte 27-29. 2. Auflage. Bern.

 

 

 

Quelle: http://aktenkunde.hypotheses.org/181

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Krise und Systemwandel im Alten Ägypten – von Elisa Priglinger

Klimawandel. Die Mehrheit der Klimaforscher_innen ist sich einig, dass sich das Klima in den kommenden Jahrzehnten drastisch verändern wird. Diese Problematik ist mittlerweile in das Bewusstsein der Menschen eingedrungen und fordert nach Maßnahmen. Dass dies nicht nur geografische, sondern auch … Continue reading

Quelle: http://soziologieblog.hypotheses.org/6714

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Facebook hui / Twitter pfui? – Die Integration von Social Media in Kommunikationskonzepte kultureller Veranstaltungen

 

An Twitter scheiden sich die Geister. Während beispielsweise die ARD-Filmreihe „Tatort“ bereits frühzeitig zu einem Paradebeispiel dafür wurde, wie kollektiv via Hashtag (#tatort) auf Twitter zu einem Ereignis diskutiert wird, zielen heute immer mehr Medien, aber auch Kulturinstitutionen ganz bewusst auf die Einbindung des Publikums über diesen Social Media Kanal. Eines der jüngsten Beispiele ist der Digitalsender EinsPlus, der bei der Übertragung des Eurovision Song Contest 2014 die Twitter-Wall gleich mit auf den Bildschirm holte und so das Second Screen-Verhalten forcierte, um Zuschauer interaktiv […]

 

 

Quelle: http://musermeku.hypotheses.org/1200

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Wenn ein Fürst auf Brautschau geht. Teil I

 

Einer der bekanntesten Allgemeinplätze über das Leben in der Vormoderne betrifft das Zusammenleben von Männern und Frauen. Die Ehe, so sagt man, habe mit gegenseitiger Liebe und Zuneigung gar nichts zu tun gehabt. Die romantische Beziehung der Geschlechter sei eine Erfindung des 19. Jahrhunderts. Bei vormodernen Eheschließungen hätte Pragmatismus geherrscht. Diese Pauschalisierung, die in der Regel mit einer negativen Wertung der vor-romantischen Ehepraxis einhergeht, ist nicht falsch. Aber, wie bei den meisten Allgemeinplätzen, steckt der Teufel im Detail. Ja, in allen Ständen und Schichten, vom Adel über das Stadtbürgertum bis hin zu den bäuerlichen Schichten, galt die Partnerwahl in erster Linie als eine Sache der Familien, nicht der Betroffenen. Die, zumeist männlichen, Oberhäupter der Familienverbände arrangierten die Ehen ihrer Kinder mit Blick auf das Interesse der gesamten Familie. Ehen stifteten soziale Kontakte, versprachen materiellen Gewinn und mehrten die Ehre des Familienverbandes. Persönliche Befindlichkeiten von Braut und Bräutigam hatten davor zurückzutreten. Gerade im Adel spielte die ‚richtige‘ Partnerwahl eine besonders wichtige Rolle, weil man über die größten sozialen, kulturellen und ökonomischen Ressourcen der vormodernen Gesellschaft verfügte. Eine Heirat besaß hier, wie Evelin Oberhammer bemerkt, „über die individuell-private Komponente hinaus, öffentlichen Charakter“ (Oberhammer 1990:182). Trotzdem darf man es sich nicht zu einfach machen und adelige Partnerwahl bzw. Eheschließung auf externe Faktoren reduzieren.

Die Normen und Vorstellungen, die bei der Partnerwahl handlungsleitend wirkten, waren deutlich vielschichtiger, als das Klischee der ‚arrangierten Ehe‘ glauben macht. So war es, um nur ein Beispiel zu nennen, den Zeitgenossen ungemein wichtig, dass die Ehepartner miteinander harmonisierten. Eine zerrüttelte Ehe, in der Mann und Frau aufgrund gegenseitiger Abneigung nicht mehr miteinander verkehrten, gesellschaftlich wie sexuell, schadete dem Familienwohl und widersprach den christlichen Wertvorstellungen, wonach die eheliche Verbindung der Geschlechter eine vor Gott geheiligte Form des Zusammenlebens darstellte. Unter den Bedingungen der vormodernen Partnerwahl war die dauerhafte Eintracht der Eheleute jedoch etwas, was kaum im Voraus garantiert werden konnte. Häufig sahen sich die Brautleute vor der Vermählung zum ersten Mal. Sie lernten sich also erst dann gegenseitig kennen, wenn sie bereits verheiratet waren. Dieser Heiratspraxis wohnte ein starkes Moment von Unvorhersehbarkeit inne, das nur abgemildert, nicht umgangen werden konnte.

Der Adel ging mit dieser Kontingenz in strategischer Weise um, indem er versuchte, das Unplanbare planbar zu machen. Da es in der Regel die Männer waren, für die eine Frau gesucht wurde, spricht man bei der Partnerwahl auch von Brautschau. Die Grundvoraussetzung für eine erfolgreiche Brautschau war Wissen. Zum einen benötigte man theoretisch-methodisches Wissen: Wie erkannte man zum Beispiel, ob eine Frau fruchtbar war? Welche Charakterzüge waren an einer Frau wünschenswert, welche gefährlich und wie erkannte man sie? Zum anderen hatte man den Heiratsmarkt ständig zu beobachten und relevante, zukünftig vielleicht einmal nützliche Informationen zu sammeln. Ein probates Mittel, um Nachrichten über geeignete Kandidatinnen auszutauschen, war das Medium des Briefes. Insbesondere die weiblichen Mitglieder eines Hauses nutzten ihr weit verzweigtes Korrespondenznetz in diesem Sinn. Aber auch während man Besuch empfing, bei Freunden, Bekannten oder am Hof weilte, gab es immer wieder Gelegenheiten, die Kenntnis des Heiratsmarktes aufzufrischen

Die hier bisher nur angedeutete Vorstellungswelt, die der adeligen Heiratspraxis zugrunde lag, gewinnt an Konturen, wenn man sich den Quellen zuwendet. Außergewöhnlich ergiebig ist in dieser Hinsicht ein Dokument aus dem späten 17. Jahrhundert, das über mehrere Generationen im Fürstenhaus Liechtenstein kursierte. Diese sogenannte ‚Instruktion‘ hatte Fürst Karl Eusebius von Liechtenstein (1611-1684) für seinen Sohn und Nachfolger Johann Adam (1657-1712) verfasst. Die Erziehungsinstruktion ist eine frühneuzeitliche Textgattung, die sich aus der mittelalterlichen Spiegelliteratur entwickelt hat. Spiegel waren moraldidaktische Schriften, die den Weg zum tugendhaften Leben aufzeigen wollten. Üblicherweise wählte man die Form des Tugendspiegels, in dem die Normen für den richtigen Lebenswandel anhand von Beispielen (exempla) erläutert wurden. Seltener waren sogenannte Lasterspiegel, die dem Motiv der verkehrten Welt waren. Sie malten moralisch verwerfliches Handeln in drastischen Bildern, um vor dieser Kontrastfolie das richtige Verhalten einzufordern. Die Tugenden, die immer wieder bemüht wurden, hatten sich in spätantiker Zeit unter dem Einfluss der Kirchenväter zu einem Katalog verfestigt. Es gab vier Kardinal-Tugenden, aus denen sich alle anderen ableiteten: Klugheit, Maß, Tapferkeit und Gerechtigkeit. Später wurde es üblich, die Tugenden in Frauengestalt zu allegorisieren. Von ihnen gab es insgesamt sieben. In der vormodernen Bilderwelt sind diese Frauen quasi allgegenwärtig.

Die "Mäßigung" von Piero del Pollaiolo um 1470. Eine von sechs Tugendallegorien, die der Maler aus Florenz geschaffen hatDie “Mäßigung” von Piero del Pollaiolo um 1470. Eine von sechs Tugendallegorien, die der Maler aus Florenz geschaffen hat

Die Sollens-Sätze der Spiegel fußten also in der Regel auf einem christlichen Fundament, d.h. sie wurden moraltheologisch begründet. Daran änderte sich auch in der Frühen Neuzeit nichts, als sich, bedingt durch den Buchdruck, das Feld der moraldidaktischen Erziehungsschriften immer weiter ausdifferenzierte. All den mehr oder weniger neuen Textsorten, den Ehebüchlein oder -predigten, den Erziehungsschriften und der Hausväter- bzw. Ökonomieliteratur stimmten in einer Sache überein. Sie besaßen den Anspruch von zumindest mittelbarer Anwendbarkeit. Sie sollten die Menschen durch Praxistauglichkeit belehren und erziehen, nicht durch theoretisch-theologische Denk- und Stilübungen.

Die Erziehungsinstruktion war vor allem eine Textgattung des Adels. In ihr bearbeitete der Verfasser verschiedene Themenfeldern, die praktische Relevanz für das Leben und Wirken seiner Nachkommen besaßen. Die weitaus meisten bekannten Instruktionen hatte der Vater an den ihm nachfolgenden Sohn verfasst. Manchmal richtete er sich auch an alle Söhne. Seltener überliefert sind Instruktionen, in denen sich Väter an ihre Töchter wenden. Dagegen scheinen Mütter häufiger an ihre Töchter geschrieben zu haben. Nur ausnahmsweise existieren Instruktionen von Frauen an ihre Söhne. Auch die Instruktion von Fürst Karl Eusebius berührt verschiedene Themen, wie die standesgemäße Lebensführung, das richtige Finanzgebaren und natürlich die Politik. Für die bisherigen Ausführungen relevant sind insbesondere seine mehrseitigen Ausführungen zur Brautschau und zum ehelichen Lebenswandel.

Zu Anfang dieses Abschnitts seiner Instruktion erinnert Karl Eusebius seinen Sohn an den Sinn und Zweck der Ehe:

So du dir vor allem werdest angelegen seyn lassen, deiner Vermählung und Erhaltung deiner eigenen Descendenz und Lini per sucessionem masculinam, vor und zu welchen allein von Gott und denen Gesatzungen ist gesetzet, geordnet und zugelassen worden das Christliche Ehe-Beth […] über welches nichts Angenehmeres, Wohlgefälligeres, Nutzlicheres und Erfreilicheres seyn kann, als seine succession in perpertua secula zu stabiliren und zu erhalten
(pag. 121)

Die erste Pflicht eines Familienoberhauptes war es, die biologische Fortsetzung, die ‚Fortpflanzung‘ der Dynastie sicherzustellen. Dazu bedurfte es natürlich einer ausreichenden Zahl von Nachkommen. Die einzige Möglichkeit, dies auf legitime Art und Weise zu besorgen, war das „Christliche Ehe-Beth“. Die Gesetze Gottes und übrigens auch die der Menschen („denen Gesatzungen“) sanktionierten jede Form von Verkehr außerhalb der Ehe. Dem dynastisch denkenden Adel Europas blieb keine andere Wahl als die monogame Bindung eines Mannes an eine Frau (bzw. einer Frau an einen Mann!). Heiraten war Standespflicht: „wer Landt und Leüth hat, muß vermehlet seyn, seine Succession nach dem Willen des Allerhöchsten zu erhalten“ (pag. 123).

Diesen Punkt betont Karl Eusebius in seiner Instruktion immer wieder. Den katholischen Liechtenstein ging es dabei gar nicht so sehr um einen möglichen vorehelichen Sexualkontakt seines Sohnes mit seinen potenziell skandalträchtigen Folgen (nämlich einer Schar von Kegeln, also unehelichen Kindern). Er scheint eher Angst davor gehabt zu haben, dass sich Johann Adam gar nicht oder zu spät vermählte:

werdest dir also nicht einfallen durch ein narrishen Capricio und Einfall und Laster Einstreüung des Teüfls deine ehiste Vermählung zu protrahiren und auf zushieben, mit etwan narrichten Einfall, du woltest gar nicht heürathen sub specie der Andacht oder eines geistlichen Stands, deme solst du nicht folgen; dan es seyn Einwurf und Fang-Strickh des Teüfls“(pag. 121)

So kommt es an dieser Stelle zu der paradoxen Situation, dass der Eintritt in den geistlichen Stand und den Zölibat als Teufelswerk beschrien wird. Die Gefahr, auszusterben, war freilich tatsächlich eine nur allzu reale Bedrohung für jedes Adelsgeschlecht. Kinderreichtum war nicht nur aus theologischer Sicht eine erfreuliche Angelegenheit, weil sich dadurch die Zahl der Christen vermehrte. Vielmehr war es für ein Haus überlebensnotwendig, nicht nur einen Erben, sondern viele hervorzubringen. Die Kindersterblichkeit war hoch, fast jede Krankheit konnte den Tod bedeuten, Reisen waren lang und beschwerlich, der im Adel übliche Kriegsdienst zog nicht gerade selten Tod oder Verwundung nach sich. Deshalb war es nur folgerichtig, wenn die Dynastie auf Alternativen in Form von zweiten, dritten und vierten Söhnen zurückzugreifen in der Lage war. Im Übrigen galt Ähnliches auch für die weibliche Nachkommenschaft. Es wird zwar immer wieder kolportiert, dass Mädchen als eine Belastung, gar als Fluch gesehen wurden (wegen der zu zahlenden Aussteuer), daran ist in der Praxis aber wohl wenig gewesen. Denn auch die Töchter dienten der Dynastie, indem sie in andere Häuser einheirateten und so Beziehungen etablierten bzw. stabilisierten. Vielleicht handelt es sich bei diesem Klischee um einen Reflex aus der in der Tendenz misogynen, d.h. frauenfeindlichen Literatur der Zeit? Insgesamt ist jedenfalls klar: Gerade im Adel galten Kinder als Segen.

Johann Adam I. Andreas Fürst von Liechtenstein (1684-1712). Gemälde von Peter van Roy (1683 – nach 1738).

Eine große Kinderschar stellte für die meisten Häuser gleichzeitig eine sehr schwere finanzielle Bürde dar. Eheschließungen waren eine teure Angelegenheit. Die Ausgaben für eine prächtige Hochzeitsfeier machten dabei nur einen Bruchteil  der eigentlichen Kosten aus. Die langfristige Belastung verbarg sich in der materiellen Ausstattung des Brautpaares. Töchter entzogen der Familie bei ihrer Vermählung Kapital in Form der Mitgift (Aussteuer), die je nach Rang und Stand des Hauses den Jahreserträgen mehrerer Gutsbetriebe oder kleiner Herrschaften ausmachen konnte. Im Gegenzug musste der Bräutigam Sicherheiten in Höhe der Mitgift stellen. Diese sogenannte Widerlage bestand üblicherweise aus Grundbesitz, dessen Einkünfte dann für die Bedienung der Zinsen von 5-10% verwendet wurden. Hinzu kam mit der sogenannten Morgengabe eine Barleistung des Bräutigams an seine Braut, die er ihr am Tag nach der Hochzeit verehrte. Sie betrug häufig, aber nicht immer, ungefähr 10% der Mitgift. Die Braut ihrerseits erhielt vor der Vermählung von ihrer Familie mehr oder weniger umfangreiche Sachleistungen, wie Schmuck, Kleider, Decken usw. Der aufwändige Gabentausch im Umfeld einer Eheschließung erfüllte einen doppelten Zweck. Die Geschenke und Verehrungen stifteten ein Band gegenseitiger Abhängigkeit zwischen den Brautleuten und ihren Familien. Sie bildeten aber auch das ökonomische Fundament der Ehe.

Weil ein Eheprojekt derartig hohe Aufwändungen mit sich brachte, verheirateten kinderreiche Adelshäuser, die es sich nicht leisten konnten oder wollten, nicht alle ihre Nachkommen. Bei den Liechtenstein etwa war es üblich, dass sich nur der älteste Sohn vermählte. Dieser Brauch hing unmittelbar zusammen mit der inneren Verfassung des Hauses. Karl von Liechtenstein (1569-1627), der Vater von Karl Eusebius, hatte nämlich 1598 eine Erbeinigung mit seinen beiden Brüdern Maximilian und Gundaker geschlossen, die den Familienbesitz de facto in einen sogenannten Fideikommiss umwandelte. Damit besaß der jeweilige Familienälteste (Senior), in diesem Fall Karl, später sein Sohn Karl Eusebius, weitgehende Privilegien bei der Handhabung der Hausgeschäfte. Fortan empfing nur noch der Senior allein die Lehen, er übernahm alle innerfamiliären Vormundschaftsfälle und vertrat ganz allgemein das Haus nach außen. Der Kern des Hausgutes, u.a. die Herrschaften Feldsberg, Herrenbaumgarten und Plumenau, unterstand seiner alleinigen Verfügungsgewalt. Für den gesamten Besitz bestand ein Veräußerungsverbot. Das aus Spanien stammende Rechtsinstitut des Fideikommiss war zu jener Zeit im Reich und den Erblanden fast völlig unbekannt. In den meisten Adelsfamilien blieb bis weit ins 18. Jahrhundert die gemeinsame Güterwaltung verbunden mit der Güterteilung üblich. Diese Besitz-Zersplitterung war in der Familie Liechtenstein seit Anfang des 17. Jahrhunderts ausgeschlossen.

Der Fidekommiss spielte den Liechtenstein bei ihren Eheprojekten auch in anderer Weise in die Hände. Sie konnten es sich nämlich mithilfe der großen Latifundien in Böhmen und Mähren leisten, ihren Ältesten bereits sehr jung zu verheiraten. In anderen, weniger begüterten Häusern mussten die Söhne bis zu ihrem eigenen Regierungsantritt, also bis zum Tod des Vaters, warten, falls sie nicht mit ihrer Braut auf Jahre im elterlichen Haushalt leben wollten. Wenn Karl Eusebius seinem Nachfolger eine möglichst frühe Eheschließung nahe legt, dann nur, weil die Familie es sich leisten kann. So ist denn auch das Argument, es sei doch „ein Freüd und Ergetzlichkeit“ die eigenen Kinder bis ins Erwachsenenalter begleiten zu können, für andere adelige Ehepaare purer Luxus. Die ökonomische Realität machte häufig eine rasche Heirat unmöglich.

Karl Eusebius spricht neben dieser dynastiesichernden Funktion der Ehe auch den vorerwähnten politischen Charakter der adeligen Heiratspraxis an:

Die andere Qualität und Wesenheit in deiner und aller der Deinig und Successoren unsers Haus bestehet in der vornehmen Vermählung und Befreindung der vornehmsten adelichsten uhralten fürstlichen und chürfurstlichen Geschlechtern […] dan ein dergleichen adelichste Freundshafft ist summa delectationis, honoris & consolationis & utilitatis & dignitatis [höchst erfreulich, ehrenvoll und sowohl tröstlich, wie nützlich als auch würdevoll]“ (pag. 125)

Freundschaft und Verwandtschaft sind hier austauschbare Begriffe. Im adeligen Verständnis bedingte das eine das andere und umgekehrt. Freunde, die man um Rat und Beistand bitten konnte waren eben in erster Linie die eigenen Verwandten. Durch Heiratspakte schuf sich eine Familie potenzielle Verbündete. Dabei war besonders wichtig, die Standesgleichheit zu wahren. Der fürstlichen Rang des Hauses Liechtenstein machte notwendig, sich nur mit Familien aus den höchsten Kreisen des Reichsadels zu verbinden. Man müsse „sich des vornehmsten Stammen allezeit höchst- und billich erfreüen und nicht einer unbedachtsammen Lieb, einer Schönheit überwinden noch mit Heürath einlassen sollen, als dergleichen hohen Verwandtens, so reputirlich und also vor allem zu shätzen“ (pag. 126).

Ein zweiter großer Faktor war die Konfession der Braut. Karl Eusebius fordert ausdrücklich:

keine ketzerishe Gemahlin jemahls, auf was Weyß oder Vorwand es beshehen könte, zu nehmen, dan ob gleich Exempl vorhanden, das dergleichen Heürath dennoch gerathen seyn, und die ketzerishe Gemahlin bekehrt ist worden, so ist dennoch nicht zu trauen, und denen alten Exempl nach der heyligen Schrifft zu besorgen, wie durch die Weiber die Männer verführet seyn worden“ (pag. 132)

In den Augen des liechtensteinischen Oberhaupts schadete eine konfessionsverschiedene Ehe mehr, als sie nützte. Einer Protestantin im Ehebett durfte man nicht trauen. Selbst wenn sie sich später bekehren ließ, könnte sie sich bloß verstellen, um ihren Gemahl vom wahren Glauben abzubringen. Furcht und Feindseligkeit gegenüber der anderen Konfession waren auch Jahrzehnte nach dem Dreißigjährigen Krieg noch aktuell.

Tatsächlich konnten die Liechtenstein diesen hier mit Nachdruck formulierten Anspruch auf ein reichsadeliges Konnubium lange Zeit nicht umsetzen. In den Augen ihrer Wunschpartner aus dem Reichsfürstenstand waren sie bloße Emporkömmlinge, weil sie aus dem landsässigen Herrenstand der habsburgischen Erblande stammten. Johann Adams Großvater Karl hatte den Reichsfürstentitel im Jahr 1620 vom Kaiser erhalten. Im Gegensatz zu den alten reichsfürstlichen Geschlechtern besaßen die Liechtenstein auch noch nicht die Reichsstandschaft, d.h. sie hatten keinen Sitz auf der Fürstenbank des Reichstages. Man versuchte zwar immer wieder, verwandtschaftliche Bande mit den alten Fürstenhäusern im Reich zu knüpfen, doch scheiterten diese Projekte stets. Deshalb blieb den Liechtenstein nichts anderes übrig, als sich weniger prestigeträchtige Alternativen zu suchen.

Karl Eusebius heiratete 1644 Johanna Beatrix Prinzessin von Dietrichstein. Die Dietrichstein stammten ebenfalls aus dem erbländischen Herrenstand und waren von Kaiser Ferdinand II. in den Reichsfürstenstand erhoben worden. Als katholisches Geschlecht ehemaliger Landsassen stand das Haus vor dem gleichen Problem wie die Liechtenstein. Die alten Reichsadelsgeschlechter verweigerten ihnen aufgrund ihrer Herkunft das Konnubium. Was lag also näher, als sich mit den anderen Neufürsten aus der unmittelbaren Umgebung zu ‚befreunden‘? Zusammen mit den ebenfalls in den 1620er Jaheren gefürsteten Eggenberg gaben die Liechtenstein und Dietrichstein ihre Nachkommen wechselseitig in den Ehestand. So entstand ein über mehrere Generationen stabiler, exklusiver Heiratskreis zwischen drei der reichsten und mächtigsten Adelsfamilien im Territorium der Habsburger. Diese $endogame Heiratspraxis hatte enge verwandtschaftliche Beziehungen zwischen den drei Häusern zur Folge. Karl Eusebius‘ Ehefrau zum Beispiel war gleichzeitig seine Nichte. Johann Adam heiratete mit Maria Theresia von Dietrichstein eine Cousine ersten Grades. Einen päpstlichen Dispens wegen zu naher Verwandtschaft einzuholen, war im ausgehenden 17. Jahrhundert nicht mehr die Ausnahme, sondern die Regel im Haus Liechtenstein.

Literatur

Beatrix Bastl: Eheliche Sexualität in der Frühen Neuzeit zwischen Lust und Last. Die Instruktion des Fürsten Karl Eusebius von Liechtenstein, in: Archiv für Kulturgeschichte 78 (1996), S. 277–301.
Evelin Oberhammer: Gesegnet sei dies Band. Eheprojekte, Heiratspakten und Hochzeit im fürstlichen Haus, in: Der Ganzen Welt ein Lob und Spiegel. Das Fürstenhaus Liechtenstein in der frühen Neuzeit, hrsg. v. ders., Wien/München 1990, S. 182–203.

 

 

Quelle: http://edelfrauen.hypotheses.org/94

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Digitalisierungsstrategien in Deutschland – Versuch einer Bestandsaufnahme

 

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Dass die einfache und fachfremde Idee “Warum digitalisieren wir nicht alles und werfen den Rest weg?” nicht umsetzbar ist, ist inzwischen jedem klar, der in einem Archiv arbeitet.( Oder sollte es zumindest sein) Aber warum gibt es keine zentralen Digitalisierungsstrategien des Bundes wie z.B. in den Niederlanden? Warum dies in Deutschland anders ist und was in Deutschland auf dem Bereich Digitalisierung überhaupt geschieht ist das Thema des Beitrags von Marcus Stumpf. Der Beitrag beruht aus einem Vortrag beim Deutsch-Niederländischen Archivkolloquium 2013 und ist in der aktuellen Archivpflege 80/2014 abgedruckt.

Digitalisierungsstrategien in Deutschland – Versuch einer Bestandsaufnahme

von Marcus Stumpf

Um es vorweg zu nehmen: Eine nationale Digitalisierungsstrategie gibt es in Deutschland nicht und wird es wohl auch zukünftig aufgrund der föderalistischen Struktur der Bundesrepublik und der Kulturhoheit der Länder kaum geben. Und selbst wenn man regionale und institutionsbezogene Digitalisierungsstrategien in die Betrachtung mit einbezieht, was im Folgenden geschehen soll, fällt die Bestandsaufnahme relativ ernüchternd aus. Die Strategiediskussion ist offenkundig in Deutschland noch nicht so weit vorangeschritten, dass sich daraus ein reicher Fundus an Beispielen ergeben würde.

Bevor nun Ansätze der Strategiediskussion diskutiert werden, soll der internationale und nationale Rahmen kurz in den Blick genommen werden, ohne den die in Deutschland gerade einsetzende Diskussion nicht zu verstehen ist.

Vor einigen Jahren hat die Smithsonian Institution in den USA, die größte Forschungs- und Bildungseinrichtung der Welt, in der allein 18 Museen zusammengefasst sind, unter dem Titel „Inspiring Generations through Knowledge and Discoverya Smithsonian for the 21st century eine neue Strategie veröffentlicht. Ihre Vision lautet „Sharing our resources with the world und daher wird unter den strategischen Zielen auch die Ausweitung des Zugangs (broadening access) durch die Digitalisierung als ein ganz wesentliches Ziel benannt: „Digitizing the collections and making them accessible online are major Institutional priorities“.[1] Zu dieser solchermaßen explizit formulierten Priorität hat das Smithsonian kürzlich ein eigenes Strategiepapier vorgelegt. In diesem beschreibt der Direktor der Smithsonian Institution, G. Wayne Clough, die Ausgangslage: „Today’s digital revolution is providing a dizzying array of tools that offer opportunities for learning institutions all over the world to become more vibrant and accessible. This revolution provides the means to share vital information, enabling people to learn more, shape informed opinions, and make decisions in their daily lives. Suddenly, everybody can have access to information that previously was only available to the experts.” […]

„We at museums, libraries, and archives must ask: How can we prepare ourselves to reach the generation of digital natives who bring a huge appetite — and aptitude for the digital world?”[2]

Bemerkenswert ist – gerade vor dem Hintergrund der archivarischen Diskussion in Deutschland zur Digitalisierung – der große Enthusiasmus von Clough in Bezug auf die erwarteten Effekte einer Ausweitung des Onlinezugangs zu den Museums- und Sammlungsbeständen des Smithsonian. Als Selbstverpflichtung postuliert wird eine Demokratisierung des Zugangs zu den Beständen: „We can help all the people, not just a few of the people, to understand our culture, the cultures of other countries, and life in all its dimensions.”[3] Nicht mehr nur Experten können nun die Bestände nutzen, sondern jedermann; niemand muss mehr zwingend an die Orte reisen, an denen Kulturgut aufbewahrt wird, sondern kann aus der Ferne recherchieren, rezipieren und forschen. Clough sieht sich ferner in der Pflicht, den Rezeptionsgewohnheiten und -erwartungen der ‚Digital natives‘ entgegen zu kommen. Da diese die Angebote des Web 1.0 und des Web 2.0 anders, intensiver und intuitiver nutzen werden als Menschen, die vor der digitalen Revolution zur Welt gekommen sind, müssten auch die digitalen Angebote ausgeweitet und intuitiver nutzbar gemacht werden.[4]

Abb. 1: http://www.si.edu/content/gwc/BestofBothWorldsSmithsonian.pdf (S. 70)Abb1. Best of Both Worlds: Museums, Libraries, and Archives in a Digit

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Die Fotomontage aus dem Strategiepapier des Smithsonian veranschaulicht den vielfach zu beobachtenden Wandel der Rezeptionsgewohnheiten im digitalen Zeitalter; – einen Wandel, der für Archive und andere Kulturgut bewahrende Institutionen Konsequenzen nach sich zieht: Klassische Aneignungstechniken wie das geduldige Betrachten, das Speichern im Gedächtnis und das Exzerpieren werden zunehmend ersetzt durch das schnelle Fotografieren oder Kopieren. Man sichert sich Bilder und Texte quasi im Vorbeigehen, um sie jederzeit wieder aufrufen, betrachten und irgendwann später in Ruhe studieren zu können. Aufgrund dieses grundlegenden Wandels ziehen es Archivbenutzerinnen und -benutzer immer öfter vor, Archivgut digital zu benutzen. Eine wachsende Benutzergruppe nutzt aus Kostengründen nur noch aus der Ferne, indem sie nach Onlinerecherche und E-Mailauskunft Scans ordert. Im Lesesaal sinkt zunehmend die Verweildauer der Nutzenden, weil diese sich zwar die Originale vorlegen lassen, aber dann ohne tiefere Befassung und Lektüre direkt zur Digitalkamera greifen oder Scans bestellen. Diese Entwicklung ist natürlich nicht neu, wird sich aber wohl weiter verstärken, je besser und umfangreicher die digitalen Angebote der Archive werden.

 

Europeana und Deutsche Digitale Bibliothek

Das sicherlich bekannteste Projekt in Europa, das den mutmaßlichen „Riesenhunger der Digital Natives“ auf digitalisiertes Kulturgut stillen will, ist die Europeana. Sie wurde im Jahr 2005 von den Regierungen der EU-Mitgliedsstaaten Frankreich, Polen, Deutschland, Italien, Spanien und Ungarn angeregt, und am 20. November 2008 von Manuel Barroso und der zuständigen EU-Kommissarin Viviane Reding freigeschaltet,[5] für EU-Verhältnisse also in bemerkenswerter Geschwindigkeit realisiert.

2009 waren in der Europeana bereits fünf Mio. digitale Objekte eingestellt, im Juli 2010 zehn Mio. und pünktlich zum fünften Geburtstag des Portals standen Ende November 2013 rd. 30 Mio. Digitalisate online.[6] Die Europeana wächst also kontinuierlich, um ihrem selbst gesetzten Anspruch gerecht zu werden, „to be a catalyst for change in the world of cultural heritage [and] to create new ways for people to engage with their cultural history, whether it’s for work, learning or pleasure”. [7] Diese Zielsetzung kommt derjenigen nahe, die der Direktor der Smithsonian Institution für seine Museen gesetzt hat.

Deutschland ist mit zurzeit 4,4 Mio. digitalen Objekten der größte Datenlieferant der Europeana, der Anteil an den 30 Mio. Einzelobjekten beträgt damit knapp 15%. Glaubt man der jüngsten veröffentlichten Nutzerstatistik der Europeana,[8] kommen außerdem die meisten Nutzerinnen und Nutzer aus Deutschland: 712.000 Zugriffe auf die Webseiten der Europeana, im Vergleich etwa zu 615.000 aus Frankreich, 322.000 aus den Niederlanden oder 290.000 aus Spanien.[9]

In Gestalt der Deutschen Digitalen Bibliothek (DDB) liegt nun auch eine nationale Plattform vor, die sich als Hauptaggregator für die Europeana etablieren soll. Träger der DDB ist das sogen. Kompetenznetzwerk, das aus von Bund, Ländern und Kommunen getragenen Kultur- und Wissenschaftseinrichtungen besteht.[10] Noch befindet sich die DDB im Beta-Betrieb und es ist daher alles andere als einfach, sich einen Gesamtüberblick über vorhandene digitale Bestände in deutschen Archiven, Bibliotheken, Museen und anderen Wissenschaftseinrichtungen zu verschaffen. Will man dies tun, kann man hilfsweise über die Webseite http://www.kulturerbe-digital.de recherchieren, auf der zahllose Projekte gelistet, kurz beschrieben und verlinkt sind.[11]

 

07_Stumpf_Abb_2_Kulturerbe_digitalAbb. 2:  Kulturerbe digital

 

 

 

 

 

 

 

 

Man sieht also, dass die virtuelle Infrastruktur in Deutschland im Entstehen ist und die bestehenden Angebote – neben der DDB und der Europeana auch etablierte spartenübergreifende Portale wie das BAM-Portal[12] und die regionalen Archivportale[13] – auch genutzt werden. Auch über die genannten Portale hinaus ist die Portalsituation sehr bunt. Allein die Bibliotheken haben neben ihren Verbundkatalogen sehr gut etablierte Angebote wie etwa das „Zentrale Verzeichnis digitalisierter Drucke“ (ZVDD) zur Recherche und Ansicht der Digitalisate aus den großen Projekten zur Digitalisierung der Drucke des 16., 17. und 18. Jh. (VD16, VD17 und VD18),[14] „Kalliope“ für Nachlässe und Autographen,[15] und für mittelalterliche Handschriften die – in Bibliothekskreisen allerdings nicht unumstrittene und technologisch überarbeitungsbedürftige – Plattform „Manuscripta Mediaevalia“.[16]

Ob die DDB also einmal das digitalisierte Kulturgut (Metadaten und Content) aus Deutschland vollständig aggregieren wird, bleibt abzuwarten.

Mindestens genauso wichtig wie die Plattformen selbst ist indes die Frage, welches Kulturgut digitalisiert werden soll, denn dass das Archiv-, Bibliotheks-, Museums- und Sammlungsgut jemals vollständig online sein wird, darf mit Fug bezweifelt werden. Die Kulturgut verwahrenden Einrichtungen müssen zwangsläufig Prioritäten setzen.

Hier fehlt es – anders als in anderen Ländern[17] – noch an übergreifenden Strategien, die nicht nur den Ist-Zustand beschreiben (wer hat bereits was mit welchen Mitteln digitalisiert), sondern definieren, welche langfristige Entwicklung angestrebt wird und welche Prioritäten bei der Digitalisierung gesetzt werden sollen.

 

Strategien und Strategieansätze in Deutschland

Im März 2011 legte der Deutsche Bibliotheksverband ein Thesenpapier zur Digitalisierung vor. Unter dem Titel „Deutschland braucht eine nationale Digitalisierungsstrategie!“ werden der Auf- und Ausbau der Deutschen Digitalen Bibliothek und „verstärkte Anstrengungen für die Digitalisierung“ gefordert, der zusätzliche Finanzbedarf der Bibliotheken für die Jahre 2012–2016 wird auf 10 Mio. Euro jährlich beziffert.[18]

Mit diesem Papier gelangte das Thema zumindest vorübergehend auf die bundespolitische Agenda. Im Deutschen Bundestag wurde am 26. Januar 2012 von der schwarz-gelben Parlamentsmehrheit der Antrag verabschiedet, die Regierung solle eine „Digitalisierungsoffensive für unser kulturelles Erbe“ beginnen. „Die Verstärkung der Digitalisierungsanstrengungen [sei] auch unter dem Gesichtspunkt der internationalen Außenrepräsentation wichtig [...]“. Die DDB solle „zu einem Schaufenster für die Kultur- und Wissenschaftsnation Deutschland werden“.[19] Geschehen ist im Sinne einer ausformulierten Digitalisierungsstrategie auf Bundesebene seither freilich nicht viel, zumal auch danach kein Beschluss zu einer verstärkten finanziellen Förderung der Digitalisierung ergangen ist. Die Anträge der Oppositionsparteien waren hier zum Teil sehr viel konkreter; so forderte die Linke die Bereitstellung von 30 Mio. Euro jährlich zusätzlich allein durch den Bund.[20] Im Antrag der SPD-Fraktion fehlen Angaben zum konkreten Finanzbedarf. Von der Bundesregierung wird allerdings gefordert, „eine Übersicht über den Stand der Digitalisierung in Deutschland in Abstimmung mit den Ländern vorzulegen“,[21] bislang ohne Erfolg.

Eine gesamtstaatliche Strategie zur Digitalisierung von Kulturgut aller Sparten fehlt, und damit bleibt auch ein planvolles, von Bund, Ländern und Kommunen gemeinsam getragenes Handeln ein Desiderat, obwohl der Bedarf zuletzt auch in den Empfehlungen des Wissenschaftsrats zur Weiterentwicklung der wissenschaftlichen Informationsinfrastrukturen in Deutschland bis 2020 ausdrücklich betont wurde. Mit Bezug auf die Digitalisierung heißt es dort, dass auch bei dieser Gegenwarts- und Zukunftsaufgabe das Schmieden von Allianzen von besonderer Bedeutung sei: „Würden Möglichkeiten der Koordination und Kooperation zwischen Einrichtungen der Informationsinfrastruktur sowie zwischen und innerhalb bestehender Zusammenschlüsse besser genutzt, könnten das vorhandene Potential besser ausgeschöpft und der Prozess der digitalen Transformation beschleunigt werden“.[22]

Nicht viel besser sieht es auf Länderebene aus: Lediglich das Land Brandenburg verfügt über ein ausformuliertes und öffentlich zugängliches Strategiepapier, das im Jahr 2009 im Auftrag des brandenburgischen Ministeriums für Wissenschaft, Forschung und Kultur erstellt wurde und an dem Archive, Bibliotheken, Museen und Hochschulen mitgewirkt haben.[23] Das Papier gibt eine Übersicht über den aktuellen Stand der Digitalisierung in den Kultureinrichtungen Brandenburgs, es werden die in den einzelnen Einrichtungen vorhandenen Digitalisierungsressourcen beschrieben, vor allem aber findet sich der Handlungsbedarf konkretisiert, der für eine verstärkte Online-Bereitstellung von Erschließungsdaten und Content im Rahmen der DDB als erforderlich angesehen wird. Kernpunkt der Handlungsempfehlungen ist die Einrichtung eines Landeskompetenzzentrums „Brandenburg.digital“, in dem nicht etwa das operative Digitalisierungsgeschäft zentralisiert werden soll (im Sinne eines Digitalisierungszentrums), sondern vor allem Koordinierungs-, Standardisierungs- und Beratungsleistungen erbracht werden sollen.[24]

Das Kompetenzzentrum ist Ende 2012 am Fachbereich Informationswissenschaften der Fachhochschule Potsdam eingerichtet worden.[25] Ferner haben die Bemühungen dazu geführt, dass die brandenburgische Landesregierung die Digitalisierung als wichtige kulturpolitische Aufgabe formuliert hat: In der „Kulturpolitischen Strategie 2012“ der Landesregierung heißt es: „Die Digitalisierung eröffnet die Chance, in großem Umfang neue Nutzerkreise für kulturelle Werte und Vorhaben zu gewinnen.“[26] Ferner wird zum Ziel erklärt, die Infrastruktur zur Digitalisierung auszubauen.[27] Auch wenn keine konkreten Finanzierungszusagen gegeben werden, so ist doch offensichtlich mit dem Strategiepapier erfolgreiche Lobbyarbeit geleistet und mit der Einrichtung der Koordinierungsstelle ‚Brandenburg-digital‘ ein wichtiger Schritt getan worden.[28]

In dem Brandenburgischen Strategiepapier zur Digitalisierung wird im Übrigen offengelegt, dass der Nachholbedarf erheblich und die Ressourcen ausbaufähig sind. Zugespitzt formuliert: Brandenburg hat eine Gesamtstrategie, aber es fehlen die Kapazitäten, andere Bundesländer haben hingegen mehr Kapazitäten, aber (noch) keine Strategie.

Auf institutioneller Ebene ist die Digitalisierungsstrategie der Stiftung Preußischer Kulturbesitz von 2010 erwähnenswert.[29] Nach einleitenden programmatischen Ausführungen zur Wichtigkeit der Digitalisierung werden

Prioritäten benannt. Danach soll die Stiftung prioritär digitalisieren,

„wo sie Kulturerbe von nationaler und internationaler Bedeutung öffentlich zugänglich machen kann,

  • wo die Digitalisierung der Vermittlung deutscher, europäischer und außereuropäischer Kulturen, dem internationalen Kulturaustausch oder allgemeinen Bildungsaufgaben dient,
  • wo die Sammlungen herausragend oder einmalig sind,
  • wo der Bedarf von Forschung und Wissenschaft groß ist,
  • wo die Einrichtungen der SPK besondere Verantwortung übernehmen,
  • wo die Digitalisierung den Ausstellungs- und Forschungsvorhaben der Einrichtungen der SPK dient,
  • wo sie die Präsentation von Inhalten der anderen Einrichtungen der Stiftung Preußischer Kulturbesitz ergänzen oder die Vernetzung von Inhalten unterstützen kann,
  • wo das Digitalisat dem Schutz eines gefährdeten Originals oder dem Erhalt von Inhalten dient, oder
  • wo wirtschaftliches Interesse besteht (Tourismus, Verlage) und sie durch bpk – Bildagentur für Kunst, Kultur und Geschichte für die kommerzielle Nutzung vermarktet werden können.“[30]

 

Diese Kriterien stecken ohne Zweifel einen sinnvollen Rahmen ab, doch muss man bei näherem Hinsehen konstatieren, dass sie für die Kulturgut verwahrenden Institutionen der Stiftung kaum operationalisierbar sind. Denn es wird wenig Kulturgut in den musealen Sammlungen, Bibliotheken und Archiven geben, auf das nicht wenigstens eines der genannten Priorisierungskriterien zutrifft.

 

Rolle der Deutschen Forschungsgemeinschaft

Bevor die Strategiediskussion der deutschen Archive im engeren Sinne vorgestellt werden soll, ist die Rolle der Deutschen Forschungsgemeinschaft im Bereich der Erschließung und Digitalisierung hervorzuheben. Nicht nur dass zwischen 2002 und 2012 allein rd. 100 Mio. Euro für Erschließung und Digitalisierung von Archiv- und Bibliotheksgut sowie die Entwicklung von entsprechenden Werkzeugen, Infrastrukturen und Informationssystemen der Bibliotheken und Archive aufgewendet wurden,[31] die DFG-Gremien üben über ihre konzeptionelle, steuernde und gutachterliche Tätigkeit hinaus einen großen Einfluss auf die Standard- und Strategiebildung im Bereich der Digitalisierung aus und wirkt damit auf die deutschen Archive, Bibliotheken und Museen zurück. Es wundert nicht, dass der Wissenschaftsrat die Arbeit der DFG, also auch den Förderbereich Wissenschaftliche Literaturversorgungs- und Informationssysteme (LIS), würdigt und weiter stärken will.[32]

Erwähnt seien an dieser Stelle vor allem die DFG-Praxisregeln zur Digitalisierung, deren Standards zur Digitalisierung, vom Scannen über die Generierung von Metadaten zur Bereitstellung in Portalen, auch international hohes Ansehen genießen.[33] Weithin etabliert ist auch der DFG-Viewer, der als Open Source frei nachnutzbar Mindeststandards für die digitale Präsentation historischer Quellen in Deutschland setzt und fortlaufend in Zusammenarbeit mit der Fachcommunity weiterentwickelt wird. In Form von Positionspapieren, die in gemeinsamer Arbeit von Informationsinfrastrukturexpertinnen und -experten, Fachwissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern entstehen, wird zudem in regelmäßigen Abständen die Förderpolitik mit ihren Schwerpunkten transparent gemacht.[34]

 

Strategiediskussion der Archive

Wayne Clough, der eingangs erwähnte Direktor der Smithsonian Institution rühmt in seinem Strategiepapier gerade die Archive und Bibliotheken als ‚early adopters’ der Digitaltechnik.[35] Mit ihrer Ethik des Open Access hätten sie die Digitalisierung und das „Social Networking“ früh angenommen. Trifft dieses Lob aber auch auf die deutschen Archive zu?

Dass die (Wissenschaftlichen) Bibliotheken früh auf die digitale Technologie gesetzt haben und den „open access“ befürworten, ist bekannt: Schon in den späten 1980er Jahren wurde mit der Retrokonversion und Onlinestellung der Bestandskataloge begonnen, lange schon werden die benutzungsrelevanten Arbeitsabläufe elektronisch unterstützt und mit erheblichen Anstrengungen wichtige Bestände insbesondere der älteren Zeit digitalisiert. Für die Archive wird man konstatieren müssen, dass sie dem Weg der Bibliotheken inzwischen zwar folgen, aber doch mit einer Zeitverzögerung von beinahe einer Dekade. Der Open-Access-Gedanke wird inzwischen intensiv diskutiert, ist aber noch lange nicht voll in den Archiven etabliert, stößt natürlich auch durch die Archivgesetze auf vorgegebene Grenzen.

Indessen ist m.E. nicht von der Hand zu weisen, dass im Mittelpunkt der Fachdiskussion lange eher die Risiken der Digitalisierung als deren Chancen standen. Erst allmählich scheint sich die Erkenntnis durchzusetzen, dass die Archive gerade auch auf diesem Feld in einer Konkurrenzsituation mit anderen Informationsinfrastruktur- und Wissensspeichereinrichtungen stehen.

Auf den ersten Blick sieht es mit der Präsenz der deutschen Archive in der Europeana nicht schlecht aus: Hinter den größten deutschen Lieferanten, der Sächsischen Landes- und Universitätsbibliothek und der Bayerische Staatsbibliothek folgt recht bald ein archivischer Vertreter – nämlich das Landesarchiv Baden-Württemberg.: Dabei fällt auf, dass die deutschen Content-Lieferanten ihre Daten und digitalen Objekte meist direkt an die Europeana liefern, einige auch über das „Gemeinsame Portal zu Archiven, Bibliotheken und Museen“, kurz: BAM-Portal genannt.[36] Noch ist die DDB für Archive nicht der zentrale Aggregator für die Europeana.[37]

Archivportale

Die regionale archivische Portallandschaft ist uneinheitlich: In elf Bundesländern existieren regionale Archivportale, die zumindest zum Teil als Aggregatoren für das entstehende Archivportal-D und die DDB in Betracht kommen,[38] es gibt daneben aber auch Spartenportale etwa für die deutschen Wirtschaftsarchive[39] und die Kirchenarchive.[40] Über die meisten dieser Portale können Informationen zu den einzelnen Archiven, die Beständeübersichten und teilweise noch Onlinefindbücher recherchiert werden, nur die wenigsten haben jedoch bereits den weiteren Ausbauschritt hin zur Ebene digitalisierter Bestände vollzogen, namentlich die Archivportale in Baden-Württemberg, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen.[41]

Immerhin gibt es für die Schaffung eines deutschen Archivportals neben und zugleich als Bestandteil der Deutschen Digitalen Bibliothek nach jahrelangen Diskussionen in der Community ein klares Commitment auf der Ebene der kommunalarchivischen und staatsarchivischen Spitzengremien, der Archivreferentenkonferenz des Bundes und der Länder und der Bundeskonferenz der Kommunalarchive beim Deutschen Städtetag, das auch vom Verband deutscher Archivarinnen und Archivare (VdA) unterstützt wird.[42] Das von der DFG geförderte Archivportal-D wird zurzeit als für die Archive konzipierte Präsentationssicht („View“) der Deutschen Digitalen Bibliothek entwickelt und soll auch das Archivportal Europa bedienen.[43] Viele Archive haben im Übrigen schon die Chance genutzt, sich in der von der DDB angebotenen „Wissenschaftslandkarte“ eintragen zu lassen.[44]

 

Archive in der Wissenschaftslandkarte der DDBAbb. 3: Archive in der Wissenschaftslandkarte der DDB

 

 

 

 

 

 

 

 

Warum beanspruchen die Archive eine spezifische Präsentationssicht innerhalb der DDB? Aus archivfachlicher Sicht und aufgrund der provenienzorientierten Erschließungstradition in Deutschland besteht weitgehend Konsens darüber, dass eine kontextlose Präsentation archivischer Erschließungsinformationen und Einzeldigitalisate nicht sinnvoll ist. Ohne Verknüpfung der Digitalisate mit den Erschließungsinformationen (Klassifikation und Titelaufnahme) im Onlinefindbuch und ohne gleichzeitige Sicht auf die Archivtektonik steht das einzelne Digitalisat isoliert da.[45] In Bezug auf einen angemessenen Auftritt der deutschen Archive auf dem europäischen Parkett wird insofern mit dem Archivportal-D ein wichtiger Schritt verwirklicht.

 

Retrokonversion von Findbüchern

In den wenigen vorhandenen Strategiepapieren deutscher Archive – zu nennen sind das ARK-Positionspapier „Digitalisierung von Archivgut im Kontext der Bestandserhaltung“ und die Strategiepapiere des Landesarchivs Baden-Württemberg und des Bundesarchivs – findet sich die eindeutige Prioritätensetzung zugunsten der Onlinestellung der Findmittel als wichtigstes Onlinerechercheangebot: Im Strategiepapier des Landesarchivs Baden-Württemberg heißt es: „Ziel ist es, sämtliche Findmittel, die zu einem großen Teil noch in Papierform vorliegen, in einem überschaubaren Zeitraum im Internet oder – sofern sie noch nicht frei zugänglich sind – im Intranet zugänglich zu machen. Gleichzeitig sollen die digitalen Erschließungsinformationen standardisiert in nationalen und internationalen Internet-Portalen oder Online-Informationssystemen bereitgestellt werden.“[46] Ähnlich heißt es im Strategiepapier des Bundesarchivs von 2011: „Basis und Rahmen für die Bereitstellung von bildlichen Digitalisaten aus Schriftgutbeständen sind Online-Findmittel. Findbücher und Beständeübersicht sind die wesentlichen Hilfsmittel für die Ermittlung von relevantem Archivgut für Fragestellungen im Zuge der Benutzung und Auswertung.“[47]

Dieses strategische Ziel teilen das Landesarchiv Baden-Württemberg und das Bundesarchiv mit den meisten anderen Archiven, und durch die von 2006 bis 2013 laufende Förderlinie der DFG sind die Archive diesem Ziel schon ein Stück näher gekommen. Im Rahmen der Förderlinie wurden insgesamt 2.600 Findmittel mit knapp 4.8 Mio. Verzeichnungseinheiten retrokonvertiert und der Forschung online bereitgestellt.[48]

Contentdigitalisierung

Der nächste Schritt für die deutschen Archive ist konsequenterweise nun auch die Digitalisierung von Archivbeständen selbst. Mit diesem Ansatz im Allgemeinen, erst recht aber in der Frage der Methoden und Prioritäten befinden sich die deutschen Archive auf dem Wege zu einer einmütigen Strategie, freilich nach einigem Zögern: Während Archive in anderen Ländern längst große Digitalisierungsinitiativen gestartet hatten, blieben (und bleiben zum Teil) die deutschen Archive lange Zeit dem Mikrofilm konzeptionell und operativ treu und zwar nicht nur als Sicherungs-, sondern auch als Schutzmedium. Dennoch begannen schon Ende der 1990er Jahre im archivischen Bereich Digitalisierungsprojekte. Zu nennen ist hier die von 1996 bis 1999 von der VW-Stiftung geförderte digitale Bereitstellung der Bestände des Stadtarchivs Duderstadt,[49] aber auch die Digitalisierung von Zivilstandsregistern im Personenstandsarchiv Brühl, heute Teil der Abteilung Rheinland des Landesarchivs Nordrhein-Westfalen.[50]

Vor allem aber führte seit Mitte der 1990er Jahre die damalige Landesarchivdirektion Baden-Württemberg mehrere DFG-geförderte Projekte durch, die unter anderem auf die „Digitalisierung von Archiv- und Bibliotheksgut“ und die Entwicklung von Workflows und Werkzeugen zur digitalen Bereitstellung größerer Mengen von Archivgut und von archivischen Online-Informationssystemen zielten. Hier wurden wichtige Grundlagenarbeit geleistet und wegweisende Ergebnisse erzielt, unter anderem auch das BAM-Portal entwickelt.[51]

Erinnert sei in diesem Zusammenhang an das viel zitierte Diktum von Hartmut Weber, der 1999 mit Bezug auf die neue digitale Welt im Archiv prognostiziert hatte, die deutschen Archive würden langfristig zwar 100% der Beständeübersichten, aber nur ca. 10% ihrer Findbücher und lediglich 1% ihrer Archivalien online anbieten.[52] Dass diese Prognose weit übertroffen wurde, liegt auf der Hand. Wohl jedes Archiv bietet heute auf seiner Homepage oder in seinem Webauftritt eine Beständeübersicht, auch sind die Archive eifrig dabei, ihre Findbücher sukzessive online zu stellen. Man wird vermuten dürfen, dass die staatlichen Archive mit der Retrokonversion ihrer Findbücher die Marke von 10% längst übertroffen haben, und auch die kommunalen Archive dürften wenigstens absehbar dorthin gelangen.[53]

Noch im 2007 publizierten Strategiepapier „Das Landesarchiv Baden-Württemberg in der digitalen Welt“ wirkt die intensiv geführte Diskussion pro und contra Mikrofilm bzw. Digitalisat im Spannungsfeld von Sicherung und Nutzung nach.[54] Darin heißt es: „Die wesentliche Maßnahme zum Schutz und zur Erhaltung des analogen Archivguts ist – neben einer sachgerechten Lagerung und konservatorischen, restauratorischen Maßnahmen – die Mikrografie und nicht die Digitalisierung. Sie hat im Archivwesen im Gegensatz zum Bibliothekswesen eine lange Tradition und einen hohen Stellenwert für die Bestandserhaltung (Sicherungsverfilmung, Schutzverfilmung)“.[55] Die Digitalisierung hat gleichwohl im Strategiepapier ihren Platz erobert, denn das Landesarchiv verbindet – wo möglich – „die klassische Mikrografie und die Digitalisierung synergetisch miteinander“.[56] In der Regel wird erst mikroverfilmt, von den Mikrofilmen werden aber nicht mehr, wie zuvor praktiziert, Nutzungsfilme bzw. -fiches hergestellt, sondern Digitalisate erzeugt und im Lesesaal oder gleich online bereit gestellt. Die ergonomischen Vorteile der Nutzung von Digitalisaten über Viewer liegen gegenüber der Arbeit am Mikrofilmscanner auf der Hand.

Die baden-württembergische Strategie, den Mikrofilm als Sicherungsmedium mit dem davon abgeleiteten Digitalisat als Nutzungsmedium zu verbinden, entspricht auch der langjährigen Praxis des Bundesarchivs; auch hier gibt es eine langjährige Tradition der Sicherungs- und Schutzverfilmung und auch hier setzt man konsequent weiterhin auf den Mikrofilm als primäre Quelle für digitale Nutzungsformen.[57]

Andere Archivverwaltungen wie etwa das Landesarchiv NRW, wo über die bundesfinanzierte Sicherungsverfilmung hinaus keine eigene Schutzverfilmung etabliert war, digitalisieren zwar ebenfalls vorhandene Mikrofilme, haben daneben aber in größerem Umfang zusätzlich Kapazitäten für die direkte Digitalisierung von Archivgut aufgebaut.

Digitalisiert wird inzwischen von den Landesarchiven, den Kommunalarchiven[58] und natürlich auch von den Archiven der anderen Sparten. Das Landesarchiv Nordrhein-Westfalen digitalisiert in seinem 2005 in Betrieb genommenen Digitalisierungszentrum planmäßig ganze Archivbestände.[59] Einerseits werden hierfür die reichen Bestände an Sicherungsfilmen aus der Bundessicherungsverfilmung genutzt, ein ebenso großes Gewicht liegt aber auch auf der direkten Digitalisierung. Immerhin liegen inzwischen im Landesarchiv NRW bereits 10 Mio. Digitalisate vor, das sind rd. 0,8 % der Bestände insgesamt. Primäres Ziel dabei war allerdings zunächst die Ablösung des Mikrofilms als Schutzmedium durch das Digitalisat, d.h. die digitalisierten Archivbestände wurden zunächst nur in den Lesesälen zur Nutzung bereitgestellt. Begonnen wurde inzwischen aber auch damit, digitalisierte Bestände im Internet zugänglich zu machen, soweit keine archivrechtlichen Gründe dagegen sprechen.

Tempo aufgenommen hat die Digitalisierung von Archivgut durch das vom Landesarchiv Nordrhein-Westfalen und dem LWL-Archivamt 2011 initiierte DFG- Pilotprojekt zur Digitalisierung archivalischer Quellen,[60] an dem sich neben den genannten das Landesarchiv Baden-Württemberg, die Generaldirektion der Bayerischen Staatlichen Archive, das Stadtarchiv Mannheim und das Sächsische Staatsarchiv mit Pilotprojekten beteiligen. In den Pilotprojekten werden seit Anfang 2013 Standards und Workflows zur Digitalisierung und Onlinestellung verschiedener Archivalientypen von mittelalterlichen Urkunden bis zu modernen Massenakten entwickelt und erprobt. Mit den erarbeiteten methodischen, technischen und organisatorischen Rahmenbedingungen soll dann eine Road Map für eine breite Digitalisierungskampagne in deutschen Archiven erstellt werden.

Priorisierung

Das wichtigste und zugleich schwierigste konzeptionelle Thema stellt letztlich die Priorisierung von Archivgut dar. Denn im Unterschied zu den Bibliotheken, die sich für die ältere Zeit vergleichsweise einfach Zeitschnitte setzen konnten, indem man sich die vollständige Digitalisierung der deutschen Drucke der Frühen Neuzeit zum Ziel setzte (VD 16 / VD 17 / VD 18), ist die Entwicklung ausgefeilter Kriterien der Priorisierung von Archivgut deutlich schwieriger.

Allein in den deutschen kommunalen Archiven liegen nach einer in den letzten Jahren durchgeführten BKK-Erhebung rd. 1.620 Kilometer Archivgut, in den staatlichen sind es 1.275 Kilometer.[61] An eine Totaldigitalisierung dieser Massen ist nicht zu denken. Im Landesarchiv Baden-Württemberg hat man 2011 Archivgut zur Digitalisierung priorisiert und 7,34 Prozent der Bestände des Landesarchiv als vorrangig zu digitalisieren identifiziert. Doch allein diese 7,34% zu digitalisieren, würde – so Robert Kretzschmar jüngst im Archivar – rd. 88 Millionen Euro kosten.

Mario Glauert hat in einem lesenswerten Beitrag ähnlich einschüchternde Hochrechnungen vorgelegt und insbesondere nachgewiesen, dass die jährlichen Zugänge in den staatlichen Archiven größer sind als das, was jährlich von den Archiven verfilmt und digitalisiert werden kann, egal ob vom Original oder vom Mikrofilm.[62] Eine Totaldigitalisierung erscheint daher schlechterdings unmöglich, da die Schere trotz aller praktischen Digitalisierungsanstrengungen immer weiter auseinandergeht.

Gleichwohl erscheint mir die daraus entwickelte Schlussfolgerung riskant, dass die Archive von vornherein auf jede planmäßige Digitalisierung ganzer Bestände verzichten und stattdessen allein auf die Digitalisierung „on demand“ setzen sollten. Die Archive stehen, ob sie es wollen oder nicht, in Konkurrenz mit anderen Informationseinrichtungen. Ein Verzicht der Archive auf planmäßige Digitalisierungen würde nichts anderes bedeuten als der Verzicht auf jegliche Drittmittelförderung. Denn die DFG und andere Fördereinrichtungen fördern nur Projekte, die ein konkretes messbares Ziel haben. Ich bin daher der festen Überzeugung, dass die Archive im Strom mitschwimmen müssen, um ihr Angebot und ihre Dienstleistungen gegenüber den Angeboten und Dienstleistungen anderer Informationseinrichtungen sichtbar zu halten. Die Unikalität der Bestände schützt diese nicht vor dem Vergessenwerden: Je schwerer sie aufzufinden sind, umso unwahrscheinlicher ist es, dass sie genutzt werden. Ihr möglicherweise unübertreffliche Wert für historische und andere Fragenstellungen muss wahrnehmbar, auffindbar, recherchierbar und nutzbar sein und bleiben.

Überzeugende Priorisierungskriterien zu entwickeln, ist eine der dringlichsten Aufgaben im Rahmen des DFG-Pilotprojekts zur Digitalisierung archivalischer Quellen. Ansätze dazu sind da: Verwiesen sei auf das bereits erwähnte Strategiepapier des Landesarchivs Baden-Württemberg, in dem eine solche Priorisierung als wichtige und permanente Aufgabe angesprochen wird. Maßgebliche Kriterien könnten bei der Auswahl von Archivgut zur Digitalisierung dessen visuelle Attraktivität oder die Nutzungsfrequenz sein. Ferner könne Archivgut prioritär digitalisiert werden, das aufgrund seines Inhalts nicht oder nur unzureichend archivisch erschlossen werden kann. [63] Anregung kann auch hier der Blick in die internationale Diskussion bieten. Seamus Ross hat bereits Ende der 1990er Jahre dargelegt, dass Kulturgut verwahrende Institutionen eine eigene Strategie entwickeln müssen, zu der als wesentlicher Baustein die Priorisierung gehört. Ihm zufolge ist eine Priorisierung zumindest für größere Institutionen absolut zwingend.[64] Digitalisierungswürdige ‚Kronjuwelbestände‘ fallen sofort ins Auge, für alle anderen Bestände seien folgende Aspekte zu bedenken: ihr jeweiliger Wert im Vergleich zu den anderen Beständen, die potentielle Erleichterung des Zugangs, die tatsächliche und potentielle Nutzungshäufigkeit, die komplementäre Bedeutung im Kontext anderer bereits digitalisierter Bestände, der konservatorische Nutzen und das Potential für möglichst viele Fragestellungen.

Sicherlich aber besteht die Kunst darin, diese oder anderswo ähnlich definierte Kriterien nicht nur anzulegen, sondern auch zu operationalisieren. Inwieweit sich dies durch die Entwicklung von Entscheidungshilfen in Gestalt von Matrizen und Bepunktungsschemata objektivieren lässt oder weiterhin die Expertise und das Fingerspitzengefühl der Archivarinnen und Archivare für die Auswahl von Beständen zur Digitalisierung entscheidend bleiben wird, bleibt abzuwarten. In jedem Fall aber muss der Grundsatz lauten, diese Fragen an die eigenen Bestände zu stellen und, auf die Antworten gestützt, zu priorisieren, bevor man digitalisiert.

Dr. Marcus Stumpf

LWL-Archivamt für Westfalen

marcus.stumpf@lwl.org

[1] Smithsonian Strategic Plan, http://www.si.edu/Content/Pdf/About/SI_Strategic_Plan_2010-2015.pdf, S. 4 (dieser und alle folgenden Links zuletzt abgerufen am 8.2.2014).

[2] Vgl. G. Wayne Clough, Best of Both Worlds. Museums, Libraries, and Archives in a Digital Age. Washington 2013, S. 2-4 (= http://www.si.edu/content/gwc/BestofBothWorldsSmithsonian.pdf).

[3] Ebd., S. 72.

[4] Die folgende Abbildung leitet das Kapitel „Conclusion: Unlimited Possibilities“ ein, ebd., S. 70.

[5] Vgl. Building a Movement. Annual Report and Accounts 2012, 2013 April, S.8, und die Statistik S. 9, http://pro.europeana.eu:9580/documents/858566/858665/Annual+Report+and+Accounts+2012).

[6] So die Pressemeldung vom 25.11.2013: http://pro.europeana.eu/web/guest/news/press-releases.

[7] So die Selbstdefinition auf der Seite „About us“ von Europeana Professional, http://pro.europeana.eu/web/guest/about.

[8] Vgl. Europeana Web Traffic Report, 2012, S.6 (= http://pro.europeana.eu/documents/858566/1415274/Europeana+Web+Traffic+Report+Summary+2012).

[9] Ebd., S. 6.

[10] Vgl. Gemeinsame Eckpunkte von Bund, Ländern und Kommunen zur Errichtung einer Deutschen Digitalen Bibliothek als Beitrag zur „Europäischen Digitalen Bibliothek (EDB): https://www.deutsche-digitale-bibliothek.de/static/de/sc_documents/div/gemeinsame_eckpunkte_finale_fassung_02122009.pdf, S. 9: „Technologisch fortgeschrittene, ‚kultur- und wissenschaftsaffine’ Recherche- und Präsentationstechniken, die eine komfortable und übergreifende Suche in den Beständen und Diensten der Bibliotheken, Archive, Museen, Denkmalpflege usw. ermöglichen und mittels multidirektionaler Verlinkung einzelne Objekte und Dokumente in ihrem semantischen Kontext wahrnehmbar und zugreifbar machen, lassen die DDB zu einem hochattraktiven Angebot für Bildung,

Wissenschaft, Wirtschaft und die allgemein kulturell interessierte Öffentlichkeit werden“; vgl. auch https://www.deutsche-digitale-bibliothek.de/content/competence-network; zur archivarischen Sicht auf die DDB vgl. vor allem die einschlägigen Webseiten des Landesarchivs Baden-Württemberg, das die archivischen Belange auch in den Gremien der DDB mit vertritt: http://www.landesarchiv-bw.de/web/52723; vgl. dazu auch unten Anm. 37.

[11] Man kann dort über eine verfeinerte Suche, z. B. durch Vorauswahl von „Sparte“ oder „Projekttyp“ filtern, darunter findet such auch der Projekttyp „Von analog zu digital“: vgl. http://www.kulturerbe-digital.de/de/9.php. Eine hilfreiche, wenn auch sicher nicht vollständige Linksammlung findet sich in http://de.wikisource.org/wiki/Digitale_Sammlungen_von_Archiven.

[12] Vgl. http://www.bam-portal.de, wo über die Bestände von Archiven, Bibliotheken und Museen übergreifend recherchiert werden kann.

[13] Eine gute Übersicht der regionalen Archivportale findet sich im Serviceangebot der Archivschule Marburg: http://archivschule.de/DE/service/archive-im-internet/archive-in-deutschland/archivportale/regionale-archivportale-im-internet.html; ausführlich dazu unten bei Anm. 38-40.

[14] Vgl. http://www.zvdd.de/startseite/.

[15] Vgl. http://kalliope.staatsbibliothek-berlin.de/.

[16] Vgl. http://www.manuscripta-mediaevalia.de.

[17] Einige internationale Beispiele seien genannt: Australien: http://www.nla.gov.au/policy-and-planning/collection-digitisation-policy; Frankreich: Claire Sibille-de Grimoüard: The digitization of archives in France. Projects and perspectives, in: Katrin Wenzel (Hrsg.), Retrokonversion, Austauschformate und Archivgutdigitalisierung. Beiträge zum Kolloquium aus Anlass des 60-jährigen Bestehens der Archivschule Marburg, zugleich 14. Archivwissenschaftliches Kolloquium der Archivschule Marburg am 1. und 2. Dezember 2009, Marburg 2010, S. 275-289; Großbritannien: http://www.bl.uk/blpac/pdf/digitisation.pdf; Kanada: http://www.cdncouncilarchives.ca/digitization_en.pdf; Neuseeland: http://archives.govt.nz/sites/default/files/Digital_Preservation_Strategy.pdf; Schweden: Christina Wolf, Digitalisierung von Kulturgut in Schweden. Strategische Ansätze und Aktivitäten, in: Archivar 65 (2012), S. 387-393; USA: http://www.archives.gov/digitization/.

[18] Vgl. http://www.bibliotheksverband.de/fileadmin/user_upload/DBV/positionen/ThesenpapierDigitalisierung_dbv_Papier.pdf.

[19] So wörtlich im verabschiedeten Antrag von CDU, CSU und FDP, http://dipbt.bundestag.de/dip21/btd/17/063/1706315.pdf, dazu die Pressemeldung http://heise.de/-1424063.

[20] Vgl. den Antrag der Fraktion Die Linke, Drucksache 17/6096, http://dip.bundestag.de/btd/17/060/1706096.pdf; dazu http://heise.de/-1271516, S. 2.

[21] Vgl. den Antrag der SPD-Fraktion Drucksache 17/6296, http://dip.bundestag.de/btd/17/062/1706296.pdf, S. 4.

[22] Empfehlungen zur Weiterentwicklung der wissenschaftlichen Informationsinfrastrukturen in Deutschland bis 2020 (Drs. 2359-12), http://www.wissenschaftsrat.de/download/archiv/2359-12.pdf, S. 45ff., Zitat S. 47; vgl. dazu jüngst ausführlich Robert Kretzschmar, Archive als digitale Informationsinfrastrukturen. Stand und Perspektiven, in: Archivar 66 (2013), S. 146-153, hier S. 146f., der zu Recht betont, dass Archive bei ihren Digitalisierungsbemühungen und bei der Prioritätensetzung alle Benutzergruppen gleichermaßen und nicht allein die wissenschaftliche Klientel im Blick haben dürften.

[23] Strategiepapier zur Digitalisierung von Kulturgut im Land Brandenburg, http://www.mwfk.brandenburg.de/media/lbm1.a.1491.de/strategiepapier.pdf; vgl. dazu Mario Glauert, Kulturgut im Verbund: gemeinsame Digitalisierungsstrategie von Bibliotheken, Archiven, Museen, Denkmalpflege und Archäologie im Land Brandenburg, in: Brandenburgische Archive 27 (2010),S. 63-64. Neben Brandenburg verfügt wohl auch das Land Berlin über eine – m. W. noch unveröffentlichte – Digitalisierungsstrategie, die sich nach Auskunft von Kollegen allerdings eng an der Brandenburgischen orientiert.

[24] Vgl. Strategiepapier zur Digitalisierung von Kulturgut, wie Anm. 23, S. 41f., zum Aufgabenkanon der Koordinierungsstelle. Bereit gestellt werden jährlich 100.000€.

[25] vgl. das im Februar 2012 publizierte „Konzept zur Beteiligung von Kultureinrichtungen des Landes Brandenburg an der Deutschen Digitalen Bibliothek (DDB)“, http://opus4.kobv.de/opus4-fhpotsdam/files/233/Konzept_zur_Beteiligung_von_Kultureinrichtungen_des_Landes_Brandenburg_an_der_DDB.pdf, das auf Grundlage des Strategiepapiers entstanden ist; zur Koordinierungsstelle Brandenburg-digital vgl. http://informationswissenschaften.fh-potsdam.de/kst-lb-digital.html.

[26] Kulturpolitische Strategie 2012 (September 2012), S. 8 (= http://www.mwfk.brandenburg.de/sixcms/media.php/4055/Kulturpolitische%20Strategie.pdf.

[27] Ebd., S. 19.

[28] In Berlin existiert inzwischen beim Konrad-Zuse-Zentrum für Informationstechnik Berlin (ZIB) eine vergleichbare Beratungs- und Koordinierungsstelle, die digiS, die Archive, Bibliotheken, Museen und Gedenkstättenberät und in diesem Jahr für beachtliche 400.000€ Digitalisierungsprojekte fördert; vgl. http://www.servicestelle-digitalisierung.de.

[29] Vgl. Digitalisierungsstrategie der Stiftung Preußischer Kulturbesitz – inhaltliche Prioritäten der Einrichtungen der SPK 2011-2015; Download über die Seite http://www.preussischer-kulturbesitz.de/schwerpunkte/digitalisierung/digitalisierungsstrategie.html.

[30] Ebd., S. 4.

[31] Vgl. Empfehlungen zur Weiterentwicklung (wie Anm. 22), S. 49.

[32] Vgl. Empfehlungen zur Weiterentwicklung (wie Anm. 22), bes. S. 50-52, hier S. 50: „Die DFG sollte in die Lage versetzt werden, die dafür bereit gestellten Mittel für weitere zehn Jahre aufzustocken.“

[33] DFG-Praxisregeln „Digitalisierung“, http://www.dfg.de/formulare/12_151/12_151_de.pdf: englisch: http://www.dfg.de/formulare/12_151/12_151_en.pdf.

[34] Vgl. z. B. DFG-Positionspapier: Wissenschaftliche Literaturversorgungs- und Informationssysteme: Schwerpunkte der Förderung bis 2015 (2006), http://www.dfg.de/download/pdf/foerderung/programme/lis/positionspapier.pdf; Die digitale Transformation weiter gestalten – Der Beitrag der Deutschen Forschungsgemeinschaft zu einer innovativen Informationsinfrastruktur für die Forschung (2012), http://www.dfg.de/download/pdf/foerderung/programme/lis/positionspapier_digitale_transformation.pdf.

[35] Clough, Best of Both Worlds, wie Anm. 2, S. 5: „Libraries and archives were among the early adopters of digital technology. With their “open access” ethic, they embraced both digitization and social networking early on and began to ask, “What would the model look like if visitors could explore the collections on their own terms?”“

[36] Vgl die Projektbeschreibung auf der Homepage des BAM-Portals. http://www.bam-portal.de/projektziel.html: „Das BAM-Portal ist ein wichtiger nationaler Beitrag zu Digitalisierungsstrategien in Deutschland, aber auch auf europäischer Ebene. Das BSZ ist für die Museen in der Bund-Länder-Fachgruppe für die Deutsche Digitale Bibliothek vertreten. Das BSZ ist mit dem BAM-Portal zudem Datenaggregator für die Europeana“.

[37] Seit dem 12. November 2012 ist eine Beta-Version der DDB online, vgl. https://www.deutsche-digitale-bibliothek.de. Vgl. dazu den aktuellen Sachstand: Ein Archivportal für Deutschland. Der Aufbau des Archivportals-D innerhalb der Deutschen Digitalen Bibliothek als Chance für Archive in der Informationsgesellschaft”. Vortrag Gerald Maier, Christina Wolf auf dem Deutschen Archivtag, Sektionssitzung 4, 26. September 2013 in Saarbrücken, http://www.landesarchiv-bw.de/sixcms/media.php/120/55666/Archivportal-D_saarbruecken-2013_Vortrag.pdf.

[38] In den Flächenbundesländern fehlen regionale Archivportale in Brandenburg, Sachsen und Sachsen-Anhalt. In den Stadtstaaten Bremen und Hamburg ist die Archivlandschaft überschaubar.

[39] Vgl . http://www.wirtschaftsarchivportal.de; nur Kontaktdaten und Links zu den Homepages, keine Beständeübersichten oder Online-Findbücher.

[40] Vgl. z. B. http://www.katholische-archive.de, mit Kontaktdaten und groben Bestandsübersichten, keine Onlinefindbücher.

[41] Eine Standardisierung täte hier not; vgl. dazu die vom IT-Ausschuss der ARK erarbeiteten Empfehlungen zur Weiterentwicklung der Präsentationen von Erschließungsinformationen im Internet, http://www.bundesarchiv.de/imperia/md/content/bundesarchiv_de/fachinformation/ark/vorlage_ark_erschlie_ung_online.pdf. Als weitere Plattform ist außerdem noch das Findbuchportal des Archivsoftwareanbieters AUGIAS-Data zu nennen, über das Findbücher von Archiven verschiedener Sparten aus Deutschland, Österreich, der Schweiz, Luxemburg, Italien und den USA recherchierbar sind: vgl. http://www.findbuch.net/homepage/index.php.

[42] Vgl. http://www.landesarchiv-bw.de/web/54267.

[43] Vgl. Gerald Maier, Der Aufbau einer „Deutschen Digitalen Bibliothek“ und der „European Digital Library – Europeana, in: Archivar 61 (2008), S. 399-401, hier S. 400: „Die Architektur ist so geplant, dass neben spartenübergreifenden Nutzer-Sichten (views) auch spartenspezifische Sichten möglich sind, was auch im Hinblick auf die Realisierung eines „Archivportals D“ zu berücksichtigen ist“; vgl. auch die Informationen auf der Projekthomepage des Landesarchivs Baden-Württemberg, http://www.landesarchiv-bw.de/web/54267; zum europäischen Archivportal vgl. http://www.archivesportaleurope.net/de; jüngst zusammenfassend Kerstin Arnold, Susanne Waidmann, Vernetzte Präsentation – Erfahrungen mit Portalen; In: Archivar 4 (2013), S. 431-438, bes. S. 433f.

[44] Vgl. http://www.landesarchiv-bw.de/web/55783; die Karte findet sich unter https://www.deutsche-digitale-bibliothek.de/about-us/institutions#map (nur Archive).

[45] vgl. dazu ausführlich und mit zahlreichen weiteren Hinweisen zuletzt Angelika Menne-Haritz, Archivgut in digitalen Bibliotheken, in: Archivar 65 (2012), S. 248-257.

[46] Das Landesarchiv Baden-Württemberg in der digitalen Welt“. Strategie für die Integration von analogem und digitalem Archivgut, die Digitalisierung von Archivgut und die Erhaltung digitalen Archivguts, http://www.landesarchiv-bw.de/sixcms/media.php/120/43034/Digistrategie_labw2007web.pdf, S. 6; vgl. auch Positionspapier der ARK „Digitalisierung von Archivgut im Kontext der Bestandserhaltung“, in: Archivar 61 (2008), S. 395-398, hier S. 396 (online: http://www.landesarchiv-bw.de/sixcms/media.php/120/42353/digibest.pdf

[47] Digitalisierung im Bundesarchiv. Strategie für den Einsatz neuer Techniken der Digitalisierung zur Verbesserung der Zugänglichkeit des Archivguts und zu seinem Schutz 2011 – 2016 (Stand Februar 2011), S.6.

[48] Vgl. http://archivschule.de/DE/home/zum-abschluss-ein-rekorddie-koordinierungsstelle-retrokonversion-archivischer-findmittel-hat-ihre-arbeit-beendet.html.

[49] Vgl. den Projektbericht von Hans-Reinhard Fricke, http://webdoc.sub.gwdg.de/edoc/p/fundus/2/fricke.pdf. Die Original-URL des Digitalen Archivs Duderstadt funktioniert seit Jahren nicht mehr. Zugänglich sind die Digitalisate m.W. nur noch über das Portal digitalisierter Kulturgüter Niedersachsens OPAL, was als ausgesprochen schlechte, weil kontextlose Lösung gelten muss, vgl. http://opal.sub.uni-goettingen.de/no_cache/browse/erweitert/?tx_jkOpal_pi1%5BcatEntry%5D=Urkunden+des+Stadtarchivs+Duderstadt&. Besonders traurig mutet an, dass von der Infoseite des Stadtarchivs das Digitale Archiv zwar gerühmt wird („Diese Sammlung ist im Bereich der kommunalen und staatlichen Archive noch immer führend in Europa“), aber nicht verlinkt ist!

[50] Vgl. zuletzt Christian Reinicke, Arbeiten im digitalen Lesesaal. Landesarchiv NRW Personenstandsarchiv Brühl, in: Archivar 61 (2008) S. 76-80 mit weiteren Hinweisen.

[51] Vgl. zu den Projekten die Projektwebsites mit weiteren Hinweisen; zum Projekt Digitalisierung von Archiv- und Bibliotheksgut http://www.landesarchiv-bw.de/web/47361, zu den Workflows und Werkzeugen zur digitalen Bereitstellung größerer Mengen von Archivgut http://www.landesarchiv-bw.de/web/47354 und zum BAM-Portal http://www.landesarchiv-bw.de/web/44573.

[52] Vgl. Hartmut Weber, Digitale Repertorien, virtueller Lesesaal und Praktikum im WWW – neue Dienstleistungsangebote der Archive an die Forschung, in: Fundus – Forum für Geschichte und ihre Quellen 4 (1999), S. 197-213, hier S. 212 (= http://webdoc.gwdg.de/edoc/p/fundus/html/heft_4.html).

[53] 10% von 60 Mio. geschätzten Verzeichnungseinheiten war die Zielmarke der DFG-Aktionslinie Retrokonversion: Mit DFG-Förderung wären demnach 8% (4,8 von 60 Mio.) der Verzeichnungseinheiten insgesamt retrokonvertiert worden.

[54] Vgl. z. B. Frieder Kuhn, Nicht zu vergessen: Mikrofilm! Ein Zwischenruf, in: Gerald Maier / Thomas Fricke (Hrsg.), Kulturgut aus Archiven, Bibliotheken und Museen im Internet (Werkhefte der Staatlichen Archivverwaltung Baden-Württemberg, Serie A, Heft 17), Stuttgart 2004, S. 203-205 (online: http://www.landesarchiv-bw.de/sixcms/media.php/120/43102/WerkheftA17_Schnitt.pdf).

[55] Das Landesarchiv Baden-Württemberg in der digitalen Welt. Strategie für die Integration von analogem und digitalem Archivgut, die Digitalisierung von Archivgut und die Erhaltung digitalen Archivguts, http://www.landesarchiv-bw.de/sixcms/media.php/120/43034/Digistrategie_labw2007web.pdf, S. 6.

[56] Ebd., S. 2 Anm. 4 und bes. S. 7.

[57] Digitalisierung im Bundesarchiv, wie Anm. 47, S. 10: „Der teilweise von Nutzern als reduziert empfundene Komfort der Mikrofilme kann durch den Einsatz der Digitalisate für die Nutzung erheblich verbessert werden, so dass sich Mikrofilm als Sicherungsmedium und Digitalisate als Nutzungsmedium gut ergänzen. Die Erstellung von Digitalisten wird deshalb in der Regel vom Mikrofilm aus vorgenommen.“

[58] Vgl. die nützliche und praxisnahe, inzwischen freilich etwas in die Jahre gekommene Empfehlung Digitalisierung von archivischem Sammlungsgut http://www.bundeskonferenz-kommunalarchive.de/empfehlungen/Empfehlung_Digitalisierung.pdf, sowie Marcus Stumpf, Grundlagen, Planung und Durchführung von Digitalisierungsprojekten, in: ders. / Katharina Tiemann (Hrsg.), Kommunalarchive und Internet. Beiträge des 17. Fortbildungsseminars der Bundeskonferenz der Kommunalarchive (BKK) in Halle vom 10.–12. November 2008 (Texte und Untersuchungen zur Archivpflege 22) Münster 2009, S. 111–132.

[59] Vgl. dazu http://www.archive.nrw.de/lav/archivfachliches/bestandserhaltung/digitalisierung/index.php und Grundsätze der Bestandserhaltung – Technisches Zentrum, hrsg. vom Landesarchiv Nordrhein-Westfalen. Überarb. Neuauflage, Düsseldorf 2011, S. 44f.

[60] Frank Bischoff / Marcus Stumpf, Digitalisierung von archivalischen Quellen – DFG-Rundgespräch diskutiert fachliche Eckpunkte und Ziele einer bundesweiten Digitalisierungskampagne, in: Archivar 64 (2011), S. 343-346, Frank Bischoff, Digitale Transformation. Ein DFG-gefördertes Pilotprojekt deutscher Archive, in: Archivar 65 (2012), S. 441-446; Projekthomepage: http://www.archivschule.de/DE/forschung/digitalisierung/.

[61] Vgl. Entwicklungen der Personalstrukturen im Archivwesen der Länder in der Bundesrepublik Deutschland. Strategiepapier der ARK 2011, in: Archivar 64 (2011), S. 397-413, hier S. 398.

[62] Vgl. Mario Glauert, Dimensionen der Digitalisierung. Kosten, Kapazitäten und Konsequenzen, in: Claudia Kauertz (Red.), Digital und analog. Die beiden Archivwelten. 46. Rheinischer Archivtag. 21.-22. Juni 2012 in Ratingen. Beiträge (Archivhefte 43), Bonn 2013, S. 42-53, hier S. 46f.

[63] Vgl. Das Landesarchiv Baden-Württemberg in der digitalen Welt, wie Anm. 46, S. 5f. Dies ist im übrigen auch ein wichtiger Aspekt im DFG-Pilotprojekt, indem erprobt werden soll, inwieweit durch die Vergabe von Strukturdaten bei der Digitalisierung, die das Archivale in der Viewer-Ansicht besser gliedern (etwa bei Amtsbüchern), eine (zu) flache Verzeichnung kompensiert werden kann.

[64] Vgl. Seamus Ross, Strategies for selecting resources for digitization: source-orientated,

user-driven, asset-aware model (SOUDAAM). In: T. Coppock (Hrsg.), Making information available in digital format: perspectives from practitioners. Edinburgh 1999, S. 5-27, hier S. 16 f.

 

 

Quelle: http://archivamt.hypotheses.org/668

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Digitale Perspektiven mediävistischer Quellenrecherche

 

Zusammenfassung: Forschern in den Geisteswissenschaften stehen immer mehr digitalisierte Volltexte zur Verfügung. Daraus ergeben sich Chancen, neue Fragestellungen werden möglich, deren Beantwortung wiederum neue Perspektiven eröffnet, aber auch Herausforderungen schafft. In diesem Aufsatz wird versucht, diese Probleme einzugrenzen und neue Möglichkeiten für die Arbeit mit Volltexten in den Geisteswissenschaften mit einem Fokus auf die Mediävistik zu skizzieren.

Nutzerverhalten — Nutzerperspektiven

Der Zugang, den ein Forscher im Hinblick auf eine Fragestellung in der Mediävistik wählt, formt sich zumeist erst in der intensiven und direkten Auseinandersetzung mit den Quellen. Das Spektrum der Auseinandersetzung reicht dabei vom Studium und der Transskription des Originals hin zur Benutzung von Editionen oder Regestenwerken. Letztendlich aber stellt der Forscher meist engen Kontakt zu den Quellen her, indem er sie deutet, einordnet und mit den aus ihnen geschöpften Aussagen arbeitet. Zusammenfassende und erschließende Hilfsmittel bei Regesten- und Editionswerken sind, soweit vorhanden, Personen-, Orts- und Sachregister. Seit den 1990er Jahren gab es erste Anstrengungen maßgebliche Quellenbestände, Editionen und Regestenwerke im Volltext im Internet für die Recherche zur Verfügung zu stellen. Die zunehmende Verfügbarkeit der Volltexte änderte auch langsam die Herangehensweise an die Quellen: Die Volltextsuche ergänzte zunächst das gesamthafte Selbststudium aller für eine wissenschaftliche Fragestellung relevanten Quellen. Im Laufe der Zeit verschoben sich die Arbeitsschwerpunkte vom Studium der Einzelquellen hin zu Suchanfragen über die Volltextsuche. Damit einher geht der zunehmende Verlust des direkten Kontakts zur Quelle oder ihrer bearbeiteten Fassung in einer Edition. Das bedeutet bei den heutigen Studenten (und damit auch den zukünftigen Geschichtswissenschaftlern), dass sie eine Quelle in ihrer ursprünglichen Form sowie ihren Repräsentationen in einer Editionen immer weniger wahrnehmen da sie das Original oder die Editionsbände kaum noch zur Hand nehmen. Sie beschäftigen sich vielmehr mit Suchergebnissen, die ihren ursprünglichen Kontext der Quelle kaum noch deutlich werden lassen.

Andererseits können die neuen Möglichkeiten sie aber auch in die Lage versetzen, wesentlich größere Datenbestände gemeinsam zu durchsuchen und damit Fragestellungen aufzuwerfen, deren Behandlung einem Wissenschaftler unter den traditionellen „analogen“ Rahmenbedingungen allein auf Grund seiner beschränkten Lebenszeit und seines begrenzten Auffassungsvermögens gar nicht möglich war. Dies wird ohne Zweifel mittelfristig zu einem Perspektivenwechsel innerhalb der Geschichtswissenschaften führen, da neue Fragestellungen zu viel größer bemessene Quellenbestände möglich werden. So interessant die neuen Möglichkeiten für die Geschichtswissenschaften auch sein mögen, sind vor ihrer allgemeinen Akzeptanz doch noch methodische und qualitative Fragen zu klären.

Suchinterfaces — Ergebnisdarstellung: Nutzerperspektiven

Vergleich von CIN (concrete information need) und POIN (problem-oriented information need) Suchansätzen. Vergleich von CIN (concrete information need) und POIN (problem-oriented information need) Suchansätzen.

Geht man zunächst vom Nutzer einer Suchmaschine aus, wird in den Fachwissenschaften zwischen CIN (concrete information need) und POIN (problem-oriented information need) unterschieden.1 In der Tabelle werden die beiden Ansätze auf einen fiktiven Nutzer der Regesta Imperii projiziert.2 Als kurze Erläuterung für die Tabelle hier noch zwei Beispiele: Eine Suchanfrage im Sinne von CIN ist z. B. die Suche nach einem Regest, wobei dem Nutzer Band und Regestennummer bekannt sind. Eine POIN-Suche würde z.B. die Verteilung von Nennungen der Kurfürsten in den Regesten Kaiser Friedrichs III. umfassen. Diese Kategorisierungen beschreiben nicht vollständig alle Suchstrategien der Nutzer der Regesta Imperii Online, bilden aber zwei größere Nutzergruppen ab, deren Perspektiven in den folgenden Betrachtungen berücksichtigt werden sollen.

Beispiele zu Suchinterfaces von mediävistischen Quellenportalen

Den Zugang zu digitalen Quellen im Bereich Mediävistik gewähren unter anderem die Suchinterfaces von Editions- und Regestenprojekten. In einem ersten Schritt werden daher exemplarisch die Suchmasken von vier verschiedenen Projekten untersucht und verglichen.3 . In einem zweiten Schritt werden die Funktionen für die Anzeige der Ergebnisse näher betrachtet.

Expertensuche der Regesta Imperii Online (www.regesta-imperii.de). Expertensuche der Regesta Imperii Online (www.regesta-imperii.de).

Regesta Imperii

Die Online-Regestensuche der Regesta Imperii Online zeigt zunächst nur einen einfachen Suchschlitz an, um dem allgemeinen Nutzer einen möglichst flachen Einstieg zu ermöglichen. Die Expertensuche bietet dagegen wesentlich mehr Möglichkeiten, die Suche weiter einzuschränken und ermöglicht es, die Treffermenge auf ein zu bewältigendes Maß zu reduzieren. Inbesondere können flexibel mehrere Stichworte mit und/oder/nicht als Phrase oder auch als Ausstellungsort gesucht werden. Als Einstieg steht an prominenter Stelle eine umfangreiche Hilfeseite zur Verfügung. 

Papstregesten

Ähnlich strukturiert zeigt sich die Expertensuche des Göttinger Akademienprojekts zu den mittelalterlichen Papsturkunden. Es vereint eine einfache Suche und die Expertensuche auf einer Seite. Bis zu vier und/oder/und nicht-Verknüpfungen von Stichworten verschiedener Kategorien sind möglich.

Das Suchinterface des Göttinger Papsturkundenprojekts (www.papsturkunden.de).Das Suchinterface des Göttinger Papsturkundenprojekts (www.papsturkunden.de).

Die Freitextsuche muss erst explizit in der Suchkategorisierung angewählt werden, voreingestellt sind Person, Ort etc. Zudem kann man die Suche trunkieren oder nach bestimmten Datumsangaben suchen, wobei aber zwingend ein Suchwort anzugeben ist. Eine kurze Erläuterung am Fuß der Seite gibt Hinweise zu den Suchformaten für Trunkierung oder Datumseinschränkungen, wobei sich letztere allerdings nicht sehr leicht erschließen. Zweifelos von Vorteil sind die zahlreichen durchsuchbaren Kategorien, die auf eine gut strukturierte Datengrundlage schließen lassen4 Interessant wäre hier in jedem Fall die Darstellung der kategorisierenden Begriffe, um dem Nutzer einen Überblick zu den vorkommenden Orten, Personenkreisen etc. zu bieten.

dMGH

Das Suchinterface der MGH (www.dmgh.de).Das Suchinterface der MGH (www.dmgh.de).

Das Suchinterface der dMGH bietet nur ein Suchfeld für Stichwörter aber dieses bringt interessante Funktionalitäten mit sich: Es liefert eine Vorschau auf mögliche Stichwörter und bietet dem Nutzer Einblicke in die vorhandenen Stichwortlisten. Diese Funktion zeigt dem Nutzer vorkommende Schreibformen an und sensibilisiert ihn für die Stärken und Schwächen einer Volltextsuche. Auf den Hilfeseiten werden die nicht direkt aus dem Suchformular heraus erkennbaren Suchfunktionen erklärt.

Das Suchinterface der Deutschen Inschriften (www.inschriften.net).Das Suchinterface der Deutschen Inschriften (www.inschriften.net).

Deutsche Inschriften Online

Unter www.inschriften.net findet man den Internetauftritt des Akademienprojekts “Die Deutsche Inschriften”. Das Projekt bietet einen Google-Suchschlitz und auch eine Expertensuche, die nach Bänden, Zeiträumen etc. einschränken kann. Besonders gelungen sind auf dieser Seite die Tipps zur Suche, die informativ und kurz über die Suchmöglichkeiten informieren. So kann man z. B. mit Hilfe der Strg-Taste mehrere Bände auswählen und damit verbunden einen Zeitraum nach Treffern absuchen.

Zusammenfassung der Ergebnisse. Zusammenfassung der Ergebnisse.

 

In der nebenstehenden Tabelle sind nochmal die verschiedenen Suchmöglichkeiten der Seiten zusammengestellt. Einige Suchmöglichkeiten sind bei allen Projekten gleich, andere sind jeweils auf die Eigenschaften des präsentierten Materials zugeschnitten und spiegeln die Struktur der zugrundeliegenden Daten wider. Alle Suchinterfaces bringen einen Nutzer, der sich mit dem Material auskennt, sehr schnell dem gewünschten Ziel näher. Zusammengefasst kommen hier Experten mit CIN-Anfragen sehr schnell zum Ziel.

 

Ergebnisdarstellung

Ergebnisanzeige der Regesta ImperiiErgebnisanzeige der Regesta Imperii

Anders sieht dies für Benutzer mit POIN-Anfragen aus. Im Gegensatz zu CIN-Nutzern können oder wollen sie das durchsuchte Material nicht zu stark eingrenzen, da sie einen Überblick zu den Treffern ihrer Suchanfrage erhalten möchten. Für POIN-Anfragen spielt also die Anzeige der Trefferliste eine wichtige Rolle.

Regesta Imperii:  Die Regesta Imperii Online bieten bei der Ergebnisanzeige die Möglichkeit nach Datum, Herrschername und Regestennummer aufsteigend und absteigend zu sortieren. Die Zahl der pro Seite angezeigten Treffer kann auf 10, 20, 50 und 100 Treffer eingeschränkt werden. Zusätzlich wird die Ergebnisliste per Voreinstellung auf die 10.000 relevantesten Treffer beschränkt.5  Große Treffermengen lassen sich über die o.a. Möglichkeiten hinaus nicht weiter strukturieren.

Die Trefferanzeige der Papsturkunden.Die Trefferanzeige der Papsturkunden.

Papsturkunden: Die Ergebnisse im Göttinger Papsturkunden-Projekt werden in einer zweispaltigen Liste angezeigt, deren Sortierung sich nicht sofort erschließt. Nach meinem bisherige Kenntnisstand lässt sich die Reihung nicht beeinflussen. Große Treffermengen lassen sich hier nur schwer verarbeiten.

dMGH: Die dMGH bieten bei der Trefferliste die Möglichkeit nach Relevanz, Jahr, Titel und Band/Sortierschlüssel auf- und absteigend zu listen und zeigt schlussendlich das jeweilige Druckbild der Trefferseite an.6 Darüber hinaus kann die Ergebnisliste per Facettierung eingeschränkt werden. Außerdem bieten die Angaben zu den einzelnen Facetten erste Hinweise auf die zeitliche, räumliche und inhaltliche Verteilung.

Ergebnisanzeige der dMGH mit Facettierungen rechts.Ergebnisanzeige der dMGH mit Facettierungen rechts.

Im einzelnen werden als Facetten angeboten:

  • Abteilung (Treffervorkommen in den Abteilungen der MGH)
  • Reihe (Treffervorkommen in den Reihen der MGH)
  • Autor/Herausgeber
  • Jahr (Treffer pro Jahr) Erscheinungsjahr des Bandes
  • Automatische Personenerkennung (Liste der vorkommenden Personen nach Häufigkeit)
  • Automatisch Ortserkennung (Deutsch) (Liste der Orte nach Häufigkeit)

Die Durchsicht der automatisch erkannten Personen- und Ortsnamen brachte zwar einige Fehler, ist an sich aber ein interessantes Hilfsmittel.

Trefferdarstellung  der Deutschen Inschriften (www.inschriften.net).Trefferdarstellung der Deutschen Inschriften (www.inschriften.net).

Deutsche Inschriften: Bei den Deutschen Inschriften gibt es in der Expertensuche die Möglichkeit die Anzeige der Treffer nach Datum, Landkreis/Stadt und Standort, auch in verschiedenen Kombinationen, zu sortieren. Die Treffenanzeige selbst lässt sich nicht weiter beeinflussen und bietet bei großen Treffermengen keine Möglichkeiten der Ergebnisstrukturierung.

Ergebnis:  Werden die Suchkriterien so gewählt, dass im Anschluss die Trefferliste nicht zu groß wird, sind alle Seiten gut nutzbar. Nutzer mit CIN-Anfragen bekommen in kürzester Zeit Ergebnisse, mit denen sie weiter arbeiten können. Nutzer mit POIN-Anfragen haben es dagegen deutlich schwerer aus größeren Treffermengen Strukturen und Ansätze für die Fokussierung auf ihre Fragestellung herauszulesen. Lediglich bei den dMGH werden interessante Facettierungsansätze und auch die automatische Identifizierung von Personen und Orten gezeigt, deren Ausbau im Hinblick auf geographische und grafische Darstellung wünschenwert wäre.

Mehrfach-Facettierendes Suchinterface – der Spaziergang durch den Informationsdschungel

Beispiel für eine facettierte Trefferanzeige (http://www.e-codices.unifr.ch/de)Beispiel für eine facettierte Trefferanzeige (http://www.e-codices.unifr.ch/de)

Datenbankbasierte Facettierungen:  Facettierte Suchinterfaces finden heute in den Onlineshops Anwendung und bieten dem Nutzer die Möglichkeit, große Treffermengen nach vorgegebenen Kriterien einzugrenzen. Dabei werden Facettierungen angeboten, die in der Regel in der zu Grunde liegenden Datenbank bereits vorhanden sind, wie z.B. der Preis des Produkts, Hersteller etc. Als Beispiel für die Implementierung einer facettierten Ergebnisanzeige ist in der Abbildung links die Seite http://www.e-codices.unifr.ch/de dargestellt, auf der am rechten Rand die Suchergebnisse einzelnen Facetten zeitlicher und inhaltlicher Art zugeordnet werden. Dieser Ansatz für die Trefferanzeige wäre für Nutzer mit POIN-Anfragen interessant, da hier eine große Treffermenge nicht abschreckt sondern auch überblicksartig den Blick aus anderen Perspektiven eröffnet. Für die Regesta Imperii wären als Facettierungsmöglichkeiten z. B. die Datumsangaben der Regesten, die Ausstellung inkl. Geo-Koordinaten und die Verteilung auf die verschiedenen Bände und Abteilungen denkbar. Eine Suchanfrage mit dem einzigen Suchbegriff Heinrich und den damit verbundenen über 17.000 Treffern könnte damit nicht nur in zeitlicher und räumlicher Perspektive sondern auch im Hinblick auf die den Regesta Imperii zugrunde liegende Projektstruktur visualisiert werden, indem zeitliche und räumliche Häufungen sichtbar werden.

Nutzer-beeinflusste Facettierungen: Die eben betrachteten Facettierungen beruhen auf den bereits in der Regestendatenbank der Regesta Imperii vorhandenen Datenstrukturen und könnten durch weitere, vom Nutzer selbst formulierte Facettierungskriterien ergänzt werden. Zu denken ist hier z.B. an Kriterien aus der Computerlinguistik, Begriffshäufungen oder Distanz von Suchbegriffen, ggf. auch in Verbindung mit regulären Ausdrücken und Trunkierungen.

Fazit

Zusammenfassend bleibt festzustellen, dass die Digitalisierung von mittelalterlichen Quellen für den Forscher große Vorteile mit sich bringt. So ist der Zugriff auf die Quelle sehr viel schneller als zu “analogen” Zeiten möglich. Mit Hilfe ausgereifter Expertensuchmasken bieten die hier betrachteten Portale schnellen und umfassenden Zugriff auf das Material.
Für einen sinnvollen Umfang der Treffermengen ist bei allen Portalen in der Regel die Nutzung der Expertensuche mit hinreichend einschränkenden Suchkriterien notwendig (CIN-Suche). Für explorative Suchanfragen, die von sich aus größere Treffermengen ergeben sind die Ergebnisanzeigen dagegen weniger geeignet. Auch wenn solche explorativen Suchen sich auf verschiedene der hier untersuchten Datenbanken erstrecken gibt es keine Möglichkeit, die Treffermengen als Ganzes zu untersuchen.
Festzustellen ist, dass projektübergreifende Suchanfragen unter vertretbarem Aufwand nicht über Suchinterfaces der einzelnen Projekte zu realisieren sind. Vielmehr wäre ein zweigleisiges Vorgehen sinnvoll. Zum einen arbeiten die Projekte weiter an der Bereitstellung mediävistischer Quellen im Internet und stellen interssierten Nutzern Schnittstellen für ihre Datenbanken zur Verfügung. Zum anderen arbeiten national oder EU-weit gelagerte Projekte (wie z.B. DARIAH) an Tools, mit denen umfangreiche Abfrageergebnisse sinnvoll und transparent visualisiert werden können.
Wie sehr für viele die Nutzung von Google, sei es die Suchmaschine, Google-Maps oder andere Dienste im Alltag schon unentbehrlich geworden ist, können die meisten in einer kritischen Selbstreflexion ergründen. Google liefert oft bei geringem Aufwand einen sehr guten Überblick zu den Suchergebnissen, wobei der Weg zu den Ergebnissen nicht sehr transparent ist. Meine Vorstellung von “digitalen Perspektiven” wäre daher die Formulierung neuer Fragestellungen an die digitalisierten Quellen mit Hilfe moderner, transparenter Suchtechniken, ergänzt um  leicht und intuitiv verständliche Visualisierungsmethoden.

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Empfohlene Zitierweise:
Andreas Kuczera: Digitale Perspektiven mediävistischer Quellenrecherche, in: Mittelalter. Interdisziplinäre Forschung und Rezeptionsgeschichte, 18. April 2014, http://mittelalter.hypotheses.org/3492 (ISSN 2197-6120).

 

  1. Die CIN/POIN-Systematik wurde entwickelt von Frants, Valery I.; Shapiro, Jacob; Voiskunskii, Vladimir G.: Automated information retrieval: Theory and methods. Library and information science. San Diego: Academic Press 1997.
  2. Vgl. hierzu Wolfgang Stock, Information Retrieval: Informationen suchen und finden. München 2007, dessen Tabelle auf S. 52 als Vorlage diente.
  3. Eine intensive qualitative Analyse mit vergleichenden Suchanfragen an die verschiedenen Seiten würde den Rahmen dieser Untersuchung sprengen. Vielmehr standen beim Vergleich die dem Nutzer direkt dargeboteten Funktionen im Vordergrund.
  4. Im Einzelnen kann man nach z. B. Jaffé-Nr., Pontificia-Nr., Regesta-Imperii-Nr., Pontifiakt, Papstunterschrift, Notarsunterschriften, Zeugen, Siegel, Überlieferung, Diplomatischer Kommentar und Überlieferung filtern.
  5. Relevanz meint in diesem Fall die Relevanzkriterien der implementierten Suchmaschine SPHINX.
  6. Zu den Relevanzkriterien heißt es in der Hilfe: Die Relevanz berechnet sich durch die mathematische Ähnlichkeit von Suchanfrage und Dokument (hier Buch). Die Bedeutung einzelner Wörter hängt von ihrer Häufigkeit und der Größe des Dokumentes ab.

 

Quelle: http://mittelalter.hypotheses.org/3492

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ISSN für Wissenschaftsblogs – mehr als nur Symbolik?

Eine achtstellige Nummer ziert seit September letzten Jahres manches Wissenschaftsblog und sorgt für Freude bei den Bloggenden. Die DNB hatte sich (endlich) entschlossen, ISSN auch an “wissenschaftliche Blogs und Blogs von allgemeinem Interesse” zu vergeben, die bisher von der Zuteilung ausgenommen waren((1)). Generell freut man sich immer, wenn gewährt wird, was einem zunächst verwehrt war. Und ISSN klingt wichtig und offiziell. Aber was bringt die achtstellige Zahl eigentlich konkret? “Ruhm? Ehre?”, wie @MschFr in einem Tweet fragt? Vermutlich nicht. Aber ist alles nur Symbolik? Dazu hier ein paar Gedanken.

1.) Eindeutige Identifizierung des Blogtitels

Um zu bestimmen, was die ISSN bringt, zunächst ein kurzer Blick darauf, was die ISSN eigentlich ist. Auf der Website der DNB liest man dazu:

“Die ISSN (International Standard Serial Number) ist eine international verbindliche Standardnummer und dient einzig – unabhängig von Sprache, Schrift, Zitierform, Erscheinungsweise, Verlag, Erscheinungsland u. a. – der kurzen unverwechselbaren Identifikation von fortlaufend erscheinenden Publikationen.”

Mit anderen Worten: Die ISSN dient der eindeutigen Identifizierung des Titels einer fortlaufenden Publikation, um beispielsweise Verwechslung zweier gleichlautender Titel auszuschließen. Die ISSN ist daher mit dem Titel einer Publikation verknüpft, nicht etwa mit der URL. Ändert sich der Titel bei gleichbleibender URL, muss eine neue ISSN beantragt werden.

Schön und gut, mag man einwerfen, aber die eindeutige Identifizierung des Titels meines Blogs, brauche ich die wirklich? Das kommt vermutlich (auch) auf den Titel des Blogs an, “Redaktionsblogs” mag es viele geben. Um eindeutig festzulegen, zu welchem Redaktionsblog ein bestimmter Artikel gehört, ist die Möglichkeit der eindeutigen Identifikation des Blogs wichtig. Zumal wenn das Blog irgendwann “umzieht” und sich die URL ändert.

2.) Zitierbarkeit von Blogbeiträgen

Wir befinden uns hier jedoch nicht nur in bibliothekarischen Gefilden, denn für das wissenschaftliche Zitat ist die Eindeutigkeit des Titels ebenfalls unerlässlich. Blogbeiträge lassen sich eindeutig einem Blogtitel zuordnen und werden auch so katalogisiert (siehe unten). Allerdings sagt die ISSN nichts über die Langzeitverfügbarkeit eines Beitrags aus, denn die Blogs mit ISSN werden von der DNB derzeit wohl nicht automatisch in die Langzeitarchivierung aufgenommen. Zumindest geht das aus der Website der DNB nicht hervor((2)).

3.) Formale Gleichstellung mit anderen fortlaufenden Publikationen

Mit der Entscheidung, ISSN auch an Wissenschaftsblogs zu vergeben, werden diese formal wie andere fortlaufende Publikationswerke behandelt. Das bedeutet die zumindest formale bibliothekarische Anerkennung von Weblogs als gleichwertiges Format für wissenschaftliche Publikationen. Die Betonung liegt hier auf “bibliothekarische” Anerkennung, aber immerhin!

4.) Erhöhte Sichtbarkeit durch Aufnahme in Kataloge und Verzeichnisse

Der Katalogeintrag des Blogs "Mittelalter" in der ZDB

Der Katalogeintrag des Blogs “Mittelalter” in der ZDB

Die formale Gleichstellung ist eine wichtiges Symbol. Sie hat außerdem praktische Auswirkungen auf die Sichtbarkeit der Blogs: Die Weblogs mit ISSN werden in der Zeitschriftendatenbank (ZDB) verzeichnet und erhalten dort eine eigene Katalogaufnahme. Sie werden auch – irgendwann – in den Katalog der DNB eingespielt. Damit können Bibliotheken die Blogs über diese “offizielle” Aufnahme in ihrem Bestand nachweisen. Katalogisate von Blogbeiträgen können mit der Aufnahme des Blogtitels verknüpft werden und sind damit in Verbünden von allen teilnehmenden Bibliotheken nachnutzbar. Bibliothekarisch wird kein Unterschied gemacht, ob ein Beitrag in der HZ oder im Blog “Ordensgeschichte” erscheint.

Weblogs mit ISSN werden außerdem in andere Verzeichnisse aufgenommen wie beispielsweise ROAD – Directory of Open Access scholarly Resources((3)). Dieses Verzeichnis wird vom Internationalen ISSN Center erstellt und dient u.a. als zentraler Einstieg für Open Access Publikationen verschiedener Art im wissenschaftlichen Bereich. Hier geht’s beispielsweise zum Eintrag von Archivalia in ROAD.

 

5.) Ein bisschen inhaltliche Anerkennung

Die Vergabe der ISSN läuft nach rein formalen Kriterien((4)). Doch wird die Anerkennung von Wissenschaftsblogs dadurch befördert, dass die Vergabe der ISSN nur an Wissenschaftblogs und an “Blogs von allgemeinem Interesse” erfolgt((5)). Eine genaue Definition dazu gibt es (natürlich) nicht. Explizit werden private Websites und gewerbliche Angebote von der ISSN-Vergabe ausgeklammert((6)). “Privat” meint hier wohl nicht privat geführt, sondern “private Themen”, also Themen des Alltags. Die Unterscheidung ist natürlich schwierig und kann willkürlich ausfallen. Damit wird jedoch einem verbreiteten Vorurteil gegenüber Blogs begegnet: Oftmals heisst es, dass sich in Blogs ausschließlich Privatpersonen über ihren Alltag austauschen. Nein, sagt jetzt auch die DNB, es gibt auch Wissenschaftsblogs, und diese erhalten eben eine ISSN.

Mit anderen Worten…

Die formale bibliothekarische Anerkennung ist aus meiner Sicht ein wichtiger Schritt zur allgemeinen Anerkennung und zur größeren Sichtbarkeit von Blogs als wissenschaftliche Publikationsorte. Über ihre inhaltliche Qualität ist mithin zwar nichts gesagt. Das trifft aber bei anderen fortlaufenden Publikationen genauso zu, denn generell wird bei der Vergabe der ISSN “keine Aussage über die inhaltliche Qualität einer Publikation getroffen”, wie es auf der Website der DNB heisst((7)). Das bedeutet, wie bei anderen Publikationen ist es an den Herausgeber/innen bzw. bei den Blogs an der Community, für die Qualität der Beiträge zu sorgen (z.B. über ein Open Peer Review oder über Kommentare). Es werden die üblichen Voraussetzungen geschaffen, um Aufsätze in Blogs genau wie Aufsätze in Zeitschriften zu katalogisieren. Bleibt zu hoffen, dass sich die universitären und wissenschaftlichen Einrichtungen dieser bibliothekarischen Anerkennung irgendwann anschließen. Die ISSN als Symbol könnte dabei behilflich sein.

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Siehe auch:

Mareike König, ISSN für Blogs bei de.hypotheses – praktische Hinweise, in: Bloghaus, 04.2014, Link.

Mareike König, Erste ISSN für Blogs von de.hypotheses vergeben, in: Redaktionsblog, 11.9.2013, http://redaktionsblog.hypotheses.org/1614.

  1. Sollte ein Blog schon früher eine ISSN bekommen haben, so weil die DNB es vermutlich nicht als Blog, sondern als Website oder andere Netzpublikation eingestuft hat
  2. Zum Thema Langzeitarchivierung von Blogs liest man auf der Website der DNB, dass es eine Kooperation mit der Firma Populis gebe, http://www.dnb.de/DE/Netzpublikationen/netzpublikationen_node.html#doc35134bodyText5. Information dazu bei blog.de
  3. Ich danke Klaus Graf für diesen Hinweis, http://archiv.twoday.net/stories/590625737/.
  4. Vgl. dazu Mareike König, ISSN für Blogs bei de.hypotheses – praktische Hinweise, in: Bloghaus, 08.04.2014, http://bloghaus.hypotheses.org/982
  5. Vgl. die Ankündigung der Vergabe von ISSN an Blogs im Newsletter “Standardisierung und Erschließung” der DNB vom Dezember 2013, S. 8.
  6. Vgl. Webiste DNB, FAQ ISSN, Werden ISSN auch für Netzpublikationen vergeben?, http://www.dnb.de/DE/Wir/Kooperation/ISSN/issnFAQ.html#doc32066bodyText4.
  7. Vgl. Nationales ISSN-Zentrum für Deutschland – häufig gestellte Fragen (FAQ), http://www.dnb.de/DE/Wir/Kooperation/ISSN/issnFAQ.html#doc32066bodyText19.

Quelle: http://redaktionsblog.hypotheses.org/2220

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Die “Kanzlerakte”: eine offensichtliche Aktenfälschung

 

Quelle: http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/1/15/Kanzlerakte.jpgQuelle: http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/1/15/Kanzlerakte.jpg

Im letzten Eintrag habe ich die Dokumentenbände des BND vorgestellt. Das gibt mir den Anlass, eine groteske Aktenfälschung unter die Lupe zu nehmen, die vorgibt, ein BND-Schriftstück zu sein.

Im Internet ist eine regelrechte Mythologie um eine “Kanzlerakte” entstanden: ein hypothetisches Schriftstück, dass angeblich jeder deutsche Bundeskanzler vor seinem Amtsantritt unterzeichnen musste. Es gibt einen guten Wikipedia-Artikel zu diesem Unfug.

Der “Beweis” soll ein Schreiben des BND sein, in dem der Verlust eines Exemplars jenes “geheimen Staatsvertrags” berichtet wird. Der verlinkte Wikipedia-Artikel enthält bereits einige gute Argumente, die zum Teil aktenkundlicher Art sind, zum Teil allgemein auf die Plausibilität abstellen, an der es eklatant mangelt. Ich beschränke mich im Folgenden auf das Instrumentarium der Aktenkunde mit ihren Hilfswissenschaften Paläographie und Verwaltungsgeschichte. Außerdem halte ich mich an die Fehler und vermeide Hinweise, wie man es besser machen könnte :-)

1. Analyse der inneren Merkmale

Briefkopf: Wie die Wikipedia richtig ausführt, passt die maschinenschriftliche Behördenfirma nicht zu einem externen Schreiben einer Oberen Bundesbehörde (nicht: “Ministerium”!). Außerdem sind wir nicht in Frankreich, wo in der Behördenfirma von oben nach unten alle Instanzen aufgeführt werden, vom Ministerium bis zum bearbeitenden Büro. Eine “Kontroll-Abteilung” ist dem Namen und der Sache nach der deutschen Verwaltungstradition fremd.

Innenadresse: fehlt, wäre bei einem externen Schreiben aber nötig.

Geheimhaltungsvermerk: “VS-Verschlußsache Nur für den Dienstgebrauch” entspricht nicht den Formvorschriften, die zum angeblichen Datum des Dokuments bereits galten (wenn ich den Vermerk unten rechts richtig lese: 1992). Den zusätzliche Vermerk “Strengste Vertraulichkeit” gibt es nicht. Die Beschränkung eines gedachten Routineverteilers auf den “Minister” ist dagegen noch passabel.

Betreff: wird nicht mit “Vorgang” eingeleitet.

Unterschrift: Die Amtsbezeichnung “Staatsminister” ist hier fehl am Platz.

Blattaufteilung: Auch der unterwürfigste Bericht wird heute nicht mehr halbbrüchig (= breiter linker Rand) geschrieben.

2. Systematische Einordnung

Der Fälscher hatte einen externen Bericht des Bundesnachrichtendienstes an eine übergeordnete Instanz im Sinn. Dafür spricht die Nachahmung des Kopfbogens, wobei die fehlende Innenadresse ein Fehler ist. Die Höflichkeitsformeln zu Anfang und Ende würden daraus einen Bericht in der Form eines Privatdienstschreibens machen.
Aber nicht nur, dass es nie einen Staatsminister Rickermann gab, wie die Wikipedia richtig anmerkt: Dem Fälscher war nicht klar, dass es beim BND überhaupt keine Staatsminister gibt. “Staatsminister” ist die Amtsbezeichnung der Parlamentarischen Staatssekretäre bei der Bundeskanzlerin und beim Bundesminister des Auswärtigen (zu den Gründen Wischnewski 1989: 177 f.). Ein StM oder PStS ist kein Beamter mit Verwaltungsaufgaben, sondern steht in einem besonderen öffentlich-rechtlichen Amtsverhältnis und ist für die Unterstützung bei politischen Aufgaben einem Mitglied der Bundesregierung beigegeben. Der Präsident des Bundesnachrichtendienstes ist aber natürlich ein Berufsbeamter.
Oder meint der Fälscher, der Geheimdienst selbst würde von einem Minister geleitet werden, wie einst die Stasi? Das könnte ein Hinweis auf Herkunft, Sozialisation und Vorstellungswelt sein. (Ein interner Bericht gehört aber nicht auf Kopfbogen.)

3. Genetische Einordnung

Merkmale:
- Imitat eines Kopfbogens
- Nachgemachte Unterschrift
- Aufgesetzte Vermerke und Verfügungen des vermeintlichen Empfängers
also: Fälschung einer behändigten Ausfertigung.

Nach der klassischen aktenkundlichen Lehre sind die Vermerke und Verfügungen des Empfängers ja nicht Gegenstand der Analytik, sondern der genetischen Betrachtung, weil sie nicht zum Formenapparat des ausgefertigten Schreibens gehören. Mir hat diese methodologische Differenzierung unter praktischen Gesichtspunkten nie recht eingeleuchtet. Hier haben wir aber einmal einen Fall, in dem sie Erkenntnis bringt: Der Geschäftsgangsvermerk unten rechts wurde vom Fälscher offenbar als Vordruck verstanden, den der Absender vorbereitet hat; der Empfänger hätte nur noch die Daten eingetragen. Dann wäre dieser Vermerk als inneres Merkmal des Schreibens zu verstehen.

Das widerspricht der Verwaltungspraxis: Eingangsvermerk oder zdA- und Wiedervorlage-Verfügungen (hier auch noch falsch abgekürzt) werden vom Empfänger aufgesetzt und machen wesentlich die Behändigung des eingegangenen Schreibens aus. Vorgedruckt wird so etwas nur auf Formularen, insbesondere Fragebögen für Antragsteller in der nachgeordneten Leistungsverwaltung. So ein Stück könnte dem Fälscher als Vorlage gedient haben.

Die beiden Verfügungen am Rand sollen den numinosen Charakter der Fälschung unterstreichen: Es wurde Vernichtung des allergeheimsten Skandalons angeordnet, aber irgendjemand gab es doch ins Archiv (= Registratur des Bundeskanzleramtes), und das alles in dieser lustigen alten Schrift aus Omas Poesiealbum.

Da lacht der Paläograph. Während Archiv-Neulinge deutsche Kurrent-Aktenschriften meistens falsch als Sütterlin bezeichnen, sehen wir hier das schlechte Imitat echten Sütterlins, also der von Ludwig Sütterlin entworfenen und 1915 an den preußischen Schulen eingeführten Normalschrift, deren Hauptkennzeichen der Verzicht auf die Neigung der Buchstaben in Schreibrichtung war (Beck/Beck 2007: 87 f.). Die hier gemalten Buchstaben sind zwar ungelenk und latinisiert, aber eindeutig eine Steilschrift. Selbst wenn 1992 im Bundeskanzleramt noch zwei Urgesteine deutsche Schreibschrift angewandt hätten, dann bestimmt nicht so, wie in der Grundschule im Hausaufgabenheft, sondern als Aktenschrift mit deutlicher Kursivierung.

Alle anderen Vermerke und Verfügungen einschließlich das Datums sind bewusst unleserlich gehalten, wenn nicht sogar Trugschrift.

4. Einschätzung

Das Stück ist eine grobe Fälschung. Die Liste der in der Wikipedia aufgeführten formalen Mängel lässt sich um einige Punkte verlängern, deren kumulierter Beweis erdrückend ist. Von der historischen Plausibilität ganz zu schweigen. Der Fälscher ist mit beträchtlichem Fleiß, aber geringem Wissen ans Werk gegangen, wobei manche Elemente auf eine ziemlich piefige Vorstellungswelt hinweisen.

Literatur:

Beck, Friedrich und Lorenz Friedrich Beck 2007. Die lateinische Schrift: Schriftzeugnisse aus dem deutschen Sprachgebiet vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Köln.

Wischnewski, Hans-Jürgen 1989. Mit Leidenschaft und Augenmaß. In Mogadischu und anderswo. München.

 

 

Quelle: http://aktenkunde.hypotheses.org/163

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Die erste illustrierte deutsche Zeitung? Thomas von Wierings „Türckis. Estats- und Krieges-Bericht“

 

Forschungsstand

Italienische Arbeiter an der Brennerbahn. Nach der Natur gezeichnet von M. Schmid. In: Die Gartenlaube. Illustriertes Familienblatt No. 1 (1866), S. 13.
Italienische Arbeiter an der Brennerbahn. Nach der Natur gezeichnet von M. Schmid. In: Die Gartenlaube. Illustriertes Familienblatt No. 1 (1866), S. 13.

Arbeitet man sich in den Forschungsstand zur Presseillustration ein wird rasch deutlich, dass sich ein Großteil der Arbeiten mit der Pressefotografie und ihrem dokumentarischen Charakter beschäftigen. Es sind vor allem berufsethische und kunsthistorische Aspekte die thematisiert werden. Der Gebrauch der Bilder in den frühen Zeitungen und deren Vorläufern ist der Forschung jedoch nicht entgangen. So konstatiert beispielsweise Helmut Lang mit Blick auf die nicht-periodische Neue Zeitung „Der Aufmacher, die Überschrift, die Illustration, das Impressum, der Straßenverkauf – alles Merkmale der Neuen Zeitung – wurden von der periodischen Presse jahrhundertelang nicht angewandt und mußten im 19. Jahrhundert erfunden werden“ (Lang 1987. S. 57). En Detail studiert wurden die frühen Illustrierten allerdings nicht.

 

Umfangreich untersucht wurde beispielsweise Die Gartenlaube. Sie gilt als eine der wichtigsten Fortsetzungen der moralischen Wochenschriften und herausragendes Beispiel der Presse im 19. Jahrhundert. Während die frühen Ausgaben des Familienblatts noch unverfängliche Szenen etwa pausierender Arbeiter an

der Brennerbahn beinhalteten, nehmen politische Untertöne in Text und Bild im Laufe der Jahre zu. Buschmann und Brockmeier untersuchen die patriotisch-nationalistischen und rassistischen Inhalte der Gartenlaube am Beispiel der Berichterstattung zum Deutschen Bruderkrieg von 1866 und zur Pariser Weltausstellung 1900. Beide weisen im Hinblick auf den Charakter der Gartenlaube anti-versöhnliche, dominante und nationalistische Töne zunächst im Text und ab 1900 auch in der Illustration nach. Eine systematische Studie zur Entwicklung der Presseillustration vor dem 19. Jahrhundert fehlt allerdings noch.

Hier sollen die früheren Formen der Zeitungsillustration im Türckischen Estats- und Krieges-Bericht in einer Fallstudie untersucht werden. Zu Fragen ist, welche Voraussetzung für die Ausstattung einer Zeitung mit Bildern im 17. Jahrhundert gegeben sein mussten. Ebenfalls soll geklärt werden, wie sich dieser einmalige und bisher wenig studierte Fall einer illustrierten Zeitung in den Medienkontext einfügt. Ziel ist es, editorische Prinzipien durch die Auswertung der erhaltenen Ausgaben deutlich

werden zu lassen, denen der Drucker Thomas von Wiering in dieser Unternehmung folgte. Für dieses Vorhaben wurden zunächst die noch erhaltenen 50 von insgesamt 137 Nummern der Zeitung im Stockholmer Riksarkivet ausgewertet. Zusätzlich dazu ist der Krieges-Bericht mit der Vorlage der Abbildungen, Melchior Lorcks Wolgerissenen vnd geschnittenen Figuren und einem späteren Produkt des Druckers, dem Thesaurus Exoticorum verglichen worden.

Der Türkenkrieg in den Bildmedien

Vorstoß Ungarn 1682/83
Vorstoß Ungarn 1682/83

Werfen wir aber zunächst einen Blick auf den historischen und mediengeschichtlichen Hintergrund. Auf eine fast zwanzigjährige friedliche Periode folgte die zweite Belagerung Wiens durch osmanische Truppen unter der Führung des Großwesir Kara Mustafa im Juli 1683. Der nach dem Überfall der Osmanen 1664 geschlossene Waffenstilstand lief aus und die Türken drängten auf eine rasche und gewaltsame Ausdehnung ihres Reichs und die Einnahme Wiens. Kaiser Leopold I. suchte erfolglos den Frieden nach einer Reihe von Auseinandersetzungen auf dem Balkan zu erhalten. Das von der Pestepidemie und den Religionskriegen zerrüttete Habsburgerreich erschien zu diesem Zeitpunkt für die Osmanen eine vermeintlich leichte und strategisch wichtige Beute.

Schlachotordnung
Aigentliche Beschreibung der Türckischen grossen Haupt-Armee gestelten Schlacht-Ordnung wider die Christen gehalten/ und vorher gangen/ den 11. und 12. September Anno 1683. München: Michael Wening, 1683.

Dieses aus München stammende Flugblatt nach einem Kupferstich von Michael Wening zeigt eine zeittypische Schlachtordnung der osmanischen Truppen, in der sämtliche militärischen Ränge aufgeführt sind. In der Nachrichtenwelt der Frühen Neuzeit übernimmt das illustrierte Flugblatt eine darstellende, erklärende und schildernde Funktion, wie es Harms und Schilling für das 17. Jahrhundert nachgewiesen haben. Die Blätter sind in Bezug auf die Dramatisierung der von den Türken ausgehenden Gefahr meist sehr zurückhaltend, ein Charakteristikum für die Berichterstattung im 17. Jahrhundert. Zentraleuropa ist vertraut mit der Weise der Osmanen und dieses Flugblatt steht prototypisch für viele weitere.

Editorische Prinzipien des Krieges-Bericht

Türckis. Estats- und Krieges-Bericht Nr. 26. Hamburg: Thomas von Wiering, 1683, S. [1]r-v.
Türckis. Estats- und Krieges-Bericht Nr. 26. Hamburg: Thomas von Wiering, 1683, S. [1]r-v.

In dieses politische Klima hinein publiziert Thomas von Wiering eine Serie von 137 Ausgaben der Zeitung, die sich exklusiv der Belagerung Wiens widmet. Von Wiering ist unter den Zeitungsdruckern Hamburgs kein Neuling. Er verfügt über einen großen Erfahrungsschatz, hat er sich doch mit dem zeitweise auf zwei Pressen parallel gedruckten Relations-Courier auf ein deutlich ökonomisch interessiertes Publikum ausgerichtet. Dieser Titel ist außerordentlich erfolgreich und wird nach von Wierings Tod 1703 von seinen Erben noch bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts fortgeführt. Der Nachrichtenmarkt im Norden Deutschlands ist kompetitiv. Alleine in der Hansestadt erscheinen fünf verschiedene Zeitungstitel in der Mitte der 1680er Jahre, eine Ausnahme im gesamten Reich. Die norddeutsche Nachrichtensphäre ist geprägt von den Bedürfnissen der Kaufmannschaft nach Informationen mit wirtschaftlicher Relevanz, und von Wiering muss mit dem Relations-Courier das Bedürfnis seines Publikums erfolgreich bedient haben. Sein Krieges-Bericht sticht aus der Masse der lokalen und nationalen Presse heraus: er ist die erste durchgängig illustrierte Zeitung. Flemming Schock schreibt dem niederländischen Immigranten von Wiering eine maßgebliche Rolle bei der Differenzierung des Mediensystems zu. Für einen Zeitungsverleger des 17. Jahrhunderts ist von Wierings Tätigkeit ungewöhnlich breit. Das wachsende Informationsbedürfnis lässt sich nicht alleine durch das Publizieren einer weiteren Zeitung decken. Und so beginnt er damit, seine Titel zu diversifizieren, indem er sie auf bestimmte Publika zuschneidet.

Der Türckische Estats- und Krieges-Bericht erscheint als doppelseitig bedrucktes Folioblatt und enthält auf der Vorderseite eine Illustration, meist mit den Abmessungen 21 x 16 cm, und einen erklärenden Text. Die Nachrichten aus dem Habsburgerreich sind auf der Versoseite gedruckt. Verlegt wurde die Zeitung aus dem Gülden A.B.C, einem von Wiering in Brodschrangen, zwischen dem Hamburger Rathaus und dem Nikolaifleet, erworbenen Haus. Ab der 76. Ausgabe vom 26. Mai 1684 ist die Zeitung datiert und erscheint spätestens ab diesem Zeitpunkt zweimal wöchentlich. Die erste Ausgabe ist im Stockholmer Archiv nicht vorhanden, weswegen sich nur schließen lässt, dass die zweite Ausgabe relativ unmittelbar nach dem 2. September 1683 erschienen sein muss. Die letzte in Stockholm erhaltene 79. Ausgabe erschien am 5. Juni 1684 und ist acht Monate nach der endgültigen Niederlage der Osmanen am im September 1683 gedruckt.

Detail aus: Türckis. Estats- und Krieges-Bericht Nr. 1. Hamburg: Thomas von Wiering, 1683, S. [1]v.
Detail aus: Türckis. Estats- und Krieges-Bericht Nr. 1. Hamburg: Thomas von Wiering, 1683, S. [1]v.

Der Krieges-Bericht selbst untergliedert sich in einen Bildteil und zwei Textebenen. Der Illustration folgend ist ein erläuternder Textblock eingefügt, der die wichtigsten Informationen zu dem dargestellten Motiv verdeutlicht und so das Bild kontextualisiert. Der hier dargestellte Nachrichtentext spiegelt das typische Zeitungsgliederungsschema der Frühen Neuzeit wieder. Unter der Überschrift des jeweiligen Korrespondenzorts, aus dem die Nachricht abgeschickt wurde, folgt eine Serie von meist drei bis fünf Berichten. Der erste Bericht aus der zweiten Ausgabe stammt aus Linz vom 2. September 1683 und macht bereits eines der großen Probleme dieser anlassbezogenen Serienzeitung deutlich. Die Belagerung Wiens endete am 12. September mit dem Abzug der osmanischen Truppen in Richtung Kahlenberg. Der zeitliche Abstand zwischen Ereignis und Zeitungsmeldung kann, konservativ gerechnet, maximal drei Wochen betragen haben. Ausgehen müssen wir bei dieser Rechnung von dem Transport der Nachrichten per Post und der zunächst wöchentliche Erscheinungsweise, die erste Nummer der Zeitung wird also in der Monatsmitte zwischen dem 14. und 21. August 1683 erschienen sein. Mit anderen Worten: der Konflikt war schneller vorüber als es sich von Wiering vorgestellt haben kann.

Verhältnis von Text und Kontext

links: Melchior Lorck: Wolgerissene und Geschnittene Figuren. Hamburg: Hering, 1626, S. [46]. rechts: Türckis. Estats- und Krieges-Bericht Nr. 7. Hamburg: Thomas von Wiering, 1683, S. [1]v.
links: Melchior Lorck: Wolgerissene und Geschnittene Figuren. Hamburg: Hering, 1626, S. [46].
rechts: Türckis. Estats- und Krieges-Bericht Nr. 7. Hamburg: Thomas von Wiering, 1683, S. [1]v.

Eine Zeitung in der Frühen Neuzeit mit Abbildungen auszustatten ist nicht möglich ohne das Wiederverwenden bereits vorhandenen Materials. Der Krieges-Bericht liefert ein gutes Beispiel dafür ab, in welchem Kreislauf die relativ aufwendig und kostenintensiv zu produzierenden Illustrationen eingebunden waren. Die Grundlage dafür sind Holzschnitte, die Thomas von Wiering aus den 1626 in Hamburg bei Michael Hering gedruckten Wolgerissene vnd Geschnittene Figuren entnommen hat. Sie stammen von dem Flensburger Künstler und Kenner des osmanischen Reichs Melchior Lorck. Aus dem ausschließlich bebilderten Werk mit 143 Holzschnitten übernimmt er jeweils eine Illustration und fügt ihn seiner Zeitungsausgabe hinzu. Wie genau von Wiering in Besitz der Holzschnitte gekommen ist, ist unbekannt. Geschäftsbeziehungen zwischen beiden Druckern erscheinen jedoch wahrscheinlich. Allerdings ist es mehr als eine reine Übernahme, die von Wiering vornimmt. Er verändert die Bildabfolge und die Illustrationen selbst.

Detail aus: Melchior Lorck: Wolgerissene und Geschnittene Figuren. Hamburg: Hering, 1626, S. [57]. Detail aus: Türckis. Estats- und Krieges-Bericht Nr. 26. Hamburg: Thomas von Wiering, 1683, S. [1]v.
links: Detail aus: Melchior Lorck: Wolgerissene und Geschnittene Figuren. Hamburg: Hering, 1626, S. [57].
rechts: Detail aus: Türckis. Estats- und Krieges-Bericht Nr. 26. Hamburg: Thomas von Wiering, 1683, S. [1]v.

Neben bewusstem Weglassen bestimmter Bildmotive bearbeitet von Wiering die Holzschnitte. Sorgsam sind in den Druckvorlagen alle Monogramme Melchior Lorcks und die Datumsangaben der Jahre zwischen 1560 und 1583, der Periode in der die Vorlagen entstanden sind, entfernt. Er nimmt eine Aktualisierung und De-kontextualisierung der Holzschnitte aus dem ursprünglichen Druck vor. Der einstmalige Verwendungszusammenhang in einem Werk über das osmanische Reich, sollte sich dieser dem Leser überhaupt erschlossen haben, wird zusätzlich verschleiert.

Werner Eberhard Happel: Thesaurus Exoticorum. Hamburg: Thomas von Wiering, 1688. Titelblatt.
Werner Eberhard Happel: Thesaurus Exoticorum. Hamburg: Thomas von Wiering, 1688. Titelblatt.

Blicken wir von der Zeitung und ihrer Vorlage ausgehend auf die weitere Druckproduktion von Wierings, wird die Bedeutung des re-integrierens der Illustrationen in anderen Drucke deutlich. Nicht nur die Holzschnitte sind wiederverwendet worden, auch der bildbegleitende Text taucht an anderer Stelle erneut auf. Er ist ursprünglich für eine andere Publikation gedacht und wird für den Krieges-Bericht angepasst.

1688 erscheint ebenfalls bei von Wiering der Druck, dass uns Aufschlüsselung zur Herkunft des bildbegleitenden Texts gibt. Der Thesaurus Exoticorum ist eines der späten Werke des Universalgelehrten und Übersetzers Eberhard Werner Happel. Sein Thesaurus ist ein historisch-geografisches Übersichtswerk in dem er das Wissen über die asiatischen, arabischen, afrikanischen und ur-amerikanischen Völker kompiliert. Die Eigentliche Beschreibung von den Türcken, so der Titel des Abschnitts, behandelt auf rund 290 Seiten das osmanische Staatswesen, die Alltagskultur sowie Aspekte des religiösen Lebens. Auch der Thesaurus basiert wie schon der Türckische Estats- und Krieges-Bericht auf den Holzschnitten Melchior Lorcks, die wahrscheinlich nur ein Fragment der ursprünglichen Produktion Lorcks darstellen, wie aus einem Register einer späteren Auflage deutlich wird.

Werner Eberhard Happel: Thesaurus Exoticorum. Hamburg: Thomas von Wiering, 1688. S. 28. Türckis. Estats- und Krieges-Bericht Nr. 2. Hamburg: Thomas von Wiering, 1683, S. [1]r.
links: Werner Eberhard Happel: Thesaurus Exoticorum. Hamburg: Thomas von Wiering, 1688. S. 28.
rechts: Türckis. Estats- und Krieges-Bericht Nr. 2. Hamburg: Thomas von Wiering, 1683, S. [1]r.

Da ein hoher Grad an Textidentität zwischen dem Krieges-Bericht und dem Thesaurus besteht, muss Happel die Redaktion also bereits 1683 abgeschlossen haben. Der Textumfang pro Abbildung im Thesaurus Exoticum von bis zu 7.000 Wörtern fällt deutlich länger aus als von Wiering Raum in der Zeitung zur Verfügung hat. Er greift deswegen editorisch in den Textstand ein. Er reduziert ihn, indem er weniger relevante Informationen weglässt und ihn so gemeinsam mit den meist vier bis sechs Nachrichtenmeldungen in der Zeitung unterbringen kann. Von Wierings Leistung ist es, die drei verschiedenen Elemente: Illustration, einen bildbeschreibenden Text und die eigentliche Nachrichtenteil zu integrieren. Dies stellt im Kontext der frühmodernen Zeitungsproduktion mit dem meist variierenden Seitenumfang und den wenig bis gar nicht edierten Nachrichten einen sehr hohen Bearbeitungsstand dar.

Abfolge der Bebilderung

Türckis. Estats- und Krieges-Bericht Nr. 10. Hamburg: Thomas von Wiering, 1683, S. [1]r.
Türckis. Estats- und Krieges-Bericht Nr. 10. Hamburg: Thomas von Wiering, 1683, S. [1]r.

Nicht nur die Auswahl der Bildmotive aus der Vorlage der Wolgerissenen vnd geschnittenen Figuren und damit aus einem ganz unterschiedlichen Kontext hat einen Einfluss darauf, welche Botschaft in der Zeitung durch die Illustrationen transportiert wird. Untersucht man die Abfolge der Bilderreihen, wird deutlich, wie geplant sich von Wiering an den Vorlagen abgearbeitet hat. Hier soll nun der Blick von der einzelnen Zeitungsnummer abgewandt und der Abfolge der Bilder im Zeitverlauf zugewandt werden.
Analysiert man die Ausgaben wird deutlich, dass die Illustrationen in drei Gruppen unterteil werden können: von Wiering verwendet Bildmotive aus der militärischen, der höfisch-politischen und der Alltagssphäre. In den ersten Ausgaben dominieren die Abbildungen von Janitscharen, berittene Kämpfer, Fußsoldaten, sogenannte „Azapi“, Bogenschützen und „Bassa“, niederen militärischen Führern. Zunächst liegt der Fokus auf den einfachen Kämpfern, die in den Nachrichten auch an einigen Stellen thematisiert werden, im Zeitverlauf wird deutlich, dass von Wiering aber gezielt auf andere Bildmotive umsteigt. Er verwendet dann etwa ab der der 30. Ausgabe der Zeitung Abbildungen höhere militärisch-politische Funktionsträger wie Heerführer oder Diplomaten. Bereits in der 26. Nummer greift er auf eine Abbildung eines „Bostangi“, eines türkischen Gartenknechts zurück und beginnt schrittweise damit, auch nichtmilitärische Illustrationen zu verwenden und so das Themenspektrum zu erweitern. Dieser Trend setzt sich fort und die letzten Ausgaben der Zeitung sind dominiert von Abbildung christlicher Sklaven, Muezzins, Pilger, Pagen und schlussendlich von Küchengeräten.

Türckis. Estats- und Krieges-Bericht Nr. 26. Hamburg: Thomas von Wiering, 1683, S. [1]r. Türckis. Estats- und Krieges-Bericht Nr. 79. Hamburg: Thomas von Wiering, 1683, S. [1]r.
Türckis. Estats- und Krieges-Bericht Nr. 26. Hamburg: Thomas von Wiering, 1683, S. [1]r.
Türckis. Estats- und Krieges-Bericht Nr. 79. Hamburg: Thomas von Wiering, 1683, S. [1]r.

Von Wiering integriert allerdings keine Abbildungen politischer Machthaber wie dem Wesir. Vermutlich ist ihm bewusst das zumindest einige Leser das Konterfeit des zwischen 1520 und 1566 also zum Zeitpunkt der Anfertigung der Holzschnitte amtierenden Sultan Süleyman I. und Kara Mustafas, der über einhundert Jahre später sein Amt versah, unterscheiden konnten.
Zwar nehmen die Abbildungen von Kriegern in den späteren Nummern ab, von Wiering erweitert die Bildmotive allerdings gezielt. Zunächst sind ca. 30 Ausgaben mit Illustrationen aus den Bereich des höfischen Lebens mit seinen Knechten, Wächtern, Ringern, Medizinern und Eunuchen aus zu sehen. Später wendet er sich in einer kleineren Serie den Stadtansichten Konstantinopels und muslimischen Geistlichen zu. Und schließlich geraten in den letzten Ausgaben die sozialen Randgruppen, christliche Sklaven, Frauen, Straßenverkäufer und Bettler in den Fokus. Die interne Abfolge der Bilder folgt demzufolge einem klaren editorischen Prinzip, bei der die Zeitung zunächst der Kriegswelt, später der höfischen Sphäre und schließlich der Alltagswelt darstellt. Anteilig sind alle Bereiche mit jeweils ca. 30 Illustrationen gleich stark vertreten.

Text-Bild-Bezug

Mit den Ansprüchen an das Pressebild im Jahr 2014 und den Grundsätzen von Wahrheit, Abwesenheit von Manipulation und Authentizität lässt sich die Bebilderung der Zeitung im 17. Jahrhundert nicht vergleichen. Wir müssen bedenken, dass die Holzschnitte des Krieges-Bericht prinzipiell auf zwei Texte, einerseits den erläuternden Bildtext und andererseits den Nachrichtentext Bezug nehmen können. Der erste Bezugsrahmen ist analysiert worden, nun stellt sich die Frage, wie Illustration und Zeitungsbericht miteinander interagieren.

Türckis. Estats- und Krieges-Bericht Nr. 5. Hamburg: Thomas von Wiering, 1683, S. [1].
Türckis. Estats- und Krieges-Bericht Nr. 5. Hamburg: Thomas von Wiering, 1683, S. [1].

Fischer in seiner wichtigen Forschungsarbeit zu den Holzschnitten Melchior Lorcks versteht den Krieges-Bericht als eine enge Kooperation zwischen dem Hamburger Drucker und dem Gelehrten Happel. Dieser hat die bildbegleitenden Texte geliefert hat, die 1688 im Thesaurus Exoticorum erscheinen. Happel nennt im Vorwort Melchior Lorcks Werk als eine seiner Quellen und seine Ausführungen sind auf Lorcks Holzschnitte hin konzipiert. Exemplarisch dafür sind Text und Illustration der zweiten Ausgabe der Zeitung. In Bezug auf den abgebildeten Tartarenkrieger heißt es

„Weil aber von diesen bösen Schelmen [Tartaren, J.H.] noch gar viel zu berichten stehet/ greife ich sie wieder an […] weil ich nicht weiß/ ob der damahlen beschriebene Tartarische Reuter dem Leser zu Gesicht kommen […]. Dan die Tartaren sind die ersten/ so den Feind angreifen. Aus beygehender Figur kan der Leser einen gemeinen Tartaren erkennen/ welches ein überaus liederliches Volck ist“.

Das übergreifende Prinzip von Beschränkung auf militärische Abbildung und dessen langsame Aufweichung nach Ende der Belagerung ist bereits besprochen worden. Ein näherer Vergleich mit den Nachrichtentexten, der die internen editorischen Prinzipien verdeutlichen kann, steht allerdings noch aus. Erstaunlich ist, dass in den Korrespondenzen aus dem Habsburgerreich häufig militärische Truppen genannt werden, von Wiering allerdings nicht die dazu korrespondierende Abbildung in der jeweiligen Ausgabe der Zeitung verwendet. Zwar werden alle relevanten Truppenteile im Laufe der ersten Ausgaben thematisiert, ein direkter Bezug zum Nachrichtentext ergibt sich meist allerdings nicht.

Während eine thematische Verbindung zwischen Illustration und Nachricht zumindest noch über die Gemeinsamkeit „Krieg“ gegeben ist, besteht keinerlei Zusammenhang zwischen den später auftauchenden Bildern und den Nachrichten vom Rückzug der Türken und dem Tod Kara Mustafas. Der Leser muss sich über die Zeitung gewundert haben, die im Frühjahr 1684 viel Raum der Berichterstattung der französischen Belagerung Luxemburgs widmet und gleichzeitig osmanisches Gartengerät, Sklavinnen und Muftis abbildet.

An einer einzigen Stelle weicht von Wiering von seinen Vorlagen ab und integriert Informationen vermutlich aus einem aktuellen Flugblatt in seiner Zeitung. In der nach dem Ende der Belagerung erschienenen fünften Ausgabe wird ein historischer Kontext hergestellt und das Publikum so über den Ausgang der Belagerung Wiens 1529 informiert. Von Wiering greift hier einerseits auf einen Holzschnitt eines ungenannten Paschas, im Original Bassa genannt, aus dem Thesaurus zurück. Der bildbegleitende Text stammt aus einer fremden Quelle, vermutlich aus einem zeitgenössischen Flugblatt von 1683. Darauf deutet der Wortlaut hin: „Bey Gelegenheit der neulichst geschehenen schweren Belagerung, nunmehro aber durch GOttes Gnade darauf erfolgeten Entsetzung der Stadt Wien […] nimmet ein jeder Anlaß, von voriger Belagerung der derselben Stadt/ unter Sultan Soliman, zu discutieren, und eine Vergleichung derselben schweren Belagerung mit dieser letzten zu machen.“ Es folgt ein Abriss der mehr als 150 Jahre zurückliegenden ersten Auseinandersetzung vor Wien und darauf wie gewohnt der Nachrichtentext mit Berichten aus der kaiserlichen Residenzstadt, Graz, Frankfurt und Köln.

Fazit

The Illustrated London News. Nr. 1, 14.05.1842, S. 1.
The Illustrated London News. Nr. 1, 14.05.1842, S. 1.

Nach dem Ende des Türckischen Estats- und Krieges-Bericht sollte es fast 160 Jahre dauern bis 1842 mit den Illustrated London News wieder eine bebilderte Zeitung erscheint. Hier sind nun zum ersten Mal Bild und Text anlassbezogen hergestellt und in räumlicher Verbindung gedruckt, wie an diesem Beispiel des Berichts zum Hamburger Stadtbrand deutlich wird. Ein Prinzip, das von Dauer sein wird und unsere heutigen Sehgewohnheiten prägen sollte.

Der Krieges-Bericht ist die erste durchgehend illustrierte Zeitung deren Bebilderung nicht nur als schmückendes Zierwerk auf dem Titelblatt dient. Der Leser wird durch die Abbildungen mit Informationen zum osmanischen Heerwesen und zur Alltagswelt Konstantinopels versorgt, die über die Textinformation hinausgehen. Und trotzdem ist die Zeitung nicht im modernen Sinne illustriert wie wir es seit dem 19. Jahrhundert und dem zuvor gezeigten Beispiel der London News kennen. Die Wiederverwendung der Holzschnitte erlaubt es von Wiering nicht, Abbildung und Nachricht derart hochgradig aufeinander abzustimmen, wie es die Illustrated London News durch eine weit höhere Auflage, Einsatz der Zylinderdruckmaschine und festangestellten Zeichnern konnte.

Dass die Belagerung Wiens nach knapp zwei Monaten bereits durch den Rückzug der Türken beendet wurde, war für den Drucker sicherlich nicht planbar. Trotzdem entschied er sich, den Titel weiterhin erscheinen zu lassen und auch andere Nachrichten aufzunehmen, mit gravierenden Konsequenzen für den Charakter der Zeitung. Im Verlauf der Monate beginnen einerseits die Nachrichten über die osmanische Belagerung Habsburgs weniger zu werden und damit einher geht der Verlust der Verbindung zwischen Illustration und Nachrichten. Schlussendlich ab ca. November 1683 ist der Krieges-Bericht eine zeittypische Nachrichtensammlung der ein Holzschnitt beigegeben ist, der schmückende Funktion für den Druck hat, jedoch keinen Bezug zum Inhalt mehr aufweist.
Durch die Übernahme der Holzschnitte, die in einem anderen Kontext rund 100 Jahre vor dem Türckischen Estats- und Krieges-Bericht erschienen sind, lässt sich nur ein grober Bezug zum Kriegsgeschehen herstellen. Anlassbezogene Darstellungen wie die eingangs gezeigten Flugblätter können durch ihre relativ teure Herstellung nicht in wöchentlichem Rhythmus für eine Zeitung angefertigt werden. Trotzdem versucht von Wiering zumindest in den ersten Ausgaben, eine Beziehung zu den Nachrichten aus dem Habsburgerreich herzustellen. Er tut dies, indem er das vorhandene Bildmaterial de-kontextualisiert und militärische Motive voranstellt, Lorcks Holzschnitte werden damit von ihrer intendierten polyhistorisch-erläuternden Funktion befreit und durch Zugabe eines erläuternden Texts in einer Zeitung eine Verbindung zu dem historischen Ereignis der Belagerung herstellt.
Der Krieges-Bericht steht im Kontext einer ganzen Reihe gescheiterter beziehungsweise schnell wieder eingestellter Zeitungsprojekte im 17. Jahrhundert, über deren ökonomisches Schicksal wir meist erstaunlich wenig wissen. Mit Sicherheit lässt sich sagen, dass das Ausgehen von Bildmaterial und das Ende der Belagerung für von Wiering deutliche Motive gewesen sein müssen, den innovativen Zeitungstitel einzustellen. Ökonomisch betrachtet ist dieses Unternehmen nur möglich indem er zudem eine Selektion der in seiner Offizin eintreffenden Nachrichten vornimmt, die er im spezialisierten Krieges-Bericht gebündelt abdruckt. Weiterhin verwendet er die Texte von Happel im umfangreichen Thesaurus Exoticorum. Schließlich lässt er darüber hinaus Teile der Zeitung 1685 gebunden als Teil des Türkischen Schau-Platz erscheinen, ein Druck, der im Grunde eine Sammlung der einzelnen Zeitungsnummern ist. Deutlich wird, wie hochgradig spezialisiert auf den Türkenkrieg Thomas von Wiering ist. Ihm gelingt es, das zur Verfügung stehende Material in drei verschiedenen Kontexten einzubringen: als Zeitung im Türckischen Estats- und Krieges-Bericht, in einer allgemein gehaltenen Übersicht zu den Türkenkriegen, dem Türkischen Schau-Platz und schließlich im polyhistorisch konzipiertem Thesaurus Exoticorum.

Literatur

Quellen

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Der Türckische Schau-Platz. Eröfnet und fürgestelt in sehr vielen nach dem Leben gezeichneten Figuren, Wobey die Türcken [...] nach dem Unterscheyd ihrer Sitten/ Kleydung/ Würde/ Standt [...] beschrieben werden. Hamburg: Thomas von Wiering, 1685. VD17 23:231261H.

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Quelle: http://newsphist.hypotheses.org/245

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Essbare Wappen II: Lebkuchen und Marzipan als Medien der Wappendarstellung

 

In dem “Hausbuch der Landauerschen Zwölfbrüderstiftung” aus dem Jahre 1520 lässt sich die Abbildung einer erstaunlichen Form von Wappendarstellungen finden (Siehe Abb. 1): Der Lebküchner Hanns Buel begutachtet hier einen frisch gebackenen Lebkuchen mit kritischem Blick. Deutlich sind auf dem Lebkuchen sowohl in seinen Händen als auch auf denen, die neben ihm auf einem Tisch liegen, Wappendarstellungen zu erkennen. Zur Herstellung dieser Lebkuchen benötige Buel zuvor wahrscheinlich einen sogenannten Model, eine Holzform mit eingekerbtem Muster, um damit Backwerk zu formen. Mit solchen Modeln konnte auch Marzipan mit verschiedensten Motiven – ob religiös oder profan – bereichert werden. Hinweise gibt es u.a. auf Abbilder von Herrschern, Allegorien, Tierfabeln und auch auf erotische Szenen.[1] Wieso Wappen auf Lebensmitteln dargestellt wurden, wer die dafür benötigten Backformen produzierte und wer sie in Auftrag gab, untersucht Ronald Salzer exemplarisch in seinem Aufsatz “Des Kaisers süße Propaganda”. Dabei stützt er sich auf einen in der niederösterreichischen Burg Grafendorf entdeckten Wappenmodel aus Keramik. Seine Untersuchung soll daher im Folgenden mit Blick auf die Verwendung heraldischer Kommunikation im Mittelalter näher vorgestellt werden. Der Wappenmodel von Grafendorf – ein Beispiel Anhand heraldischer Indizien datiert Salzer die Scheibe mit einem Durchmesser von 18 cm zwischen die Jahre 1508 und 1519. […]

 

 

Quelle: http://heraldica.hypotheses.org/1022

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