Das Siegel des Klosters St. Aegidii in Münster von 1423

An einer Urkunde des Archivbestand Nordkirchen findet sich ein doppelt bemerkenswertes Siegel aus der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts.1 Das Siegelwachs ist grün gefärbt, was auf einen geistlichen Siegelführer hinweist. Es handelt sich um das Siegel des St. Aegidii-Klosters in Münster. Wenden wir uns zunächst der Beschreibung des runden Siegels zu:

Zu sehen sind zwei Halbfiguren im Perlenkranz. Sie durchbrechen mit ihren Köpfen die Umrandung. Die Halbfiguren sind auf zwei Rundbögen gesetzt. Zu sehen ist im Heiligenschein (heraldisch) rechts die Jungfrau Maria mit dem Jesuskind auf dem linken Arm, in der rechten Hand einen Lilienstengel. Auf der linken Seite-ebenfalls durch einen Heiligenschein deutlich hervorgehoben- ist der heilige Abt Aegidius. In der rechten Hand hält er ein Buch in der linken eine Krummstab. Beide zentrale Figuren sind beschriftet. Unter Maria findet sich auf dem Rundbogen die Aufschrift Virgo Mar[ia], unter der Figur des Abtes die Aufschrift S[anctus] Egidius.

Unter dem rechten Bogen ist deutlich der für Mariendarstellungen typische brennende Dornbusch zu sehen.2

Unter dem linken Bogen schreitet eine Hirschkuh, Sinnbild für Christus3

Die hier bereits nicht mehr so deutliche Umschrift jenseits des das Bild umgebenen Perlenkranzes lautet:Sig[illum] ecclesie beati Marie [San]c[t]iq[ue] Egidii in Monast[erio].

Foto: A. Diener

Das zweite große Siegel des Klosters Sankt Aegidii in Münster 1423

Das Siegel hängt an einer Urkunde von 1423. Es ist das zweite große Siegel des Zisterzienzerklosters St. Aegidii. Das erste Siegel ist von der Mitte des 13. Jahrhunderts bis zum Ende des 14. Jahrhunderts nachzuweisen.4

Inhaltlich hält die Urkunde vom 7. Februar 1423 fest, dass die Äbtissin Mechthild Cleynhorn die Jüngere5 stellvertretend für das ganze Konvent Johann von Büren, Sohn des Junkers Wilhelm  gestattet eine Rente von 3 Mark mit 50 Mark abzulösen, jeweils an Lichtmess.6

Als Zeugen sind angegeben Arnd der Schreiber und Johann Lobbe, Amtmann zu Sankt Ylien. St. Ylien, wieso St. Ylien? Auch in der Einleitung ist eindeutig von Convent St. Ylien in Münster die Rede. Wieso wurde St. Aegidii so genannt? Der Heilige St. Aegidius ist der französische Heilige St. Gilles, der bereits im 12. Jahrhundert in Münster als Retter in der Not höchste Verehrung genossen hat.7

Foto: A. Diener

Eindeutig wird das Kloster Sunte Ylin genannt.

 

Mit der Übernahme des in Westfalen üblichen Niederdeutschen auch in die Sprache der Urkunden wurde aus St. Gilles, bzw. St. Gillis schließlich sunte Ilien oder Tilien ( aus St. Ilien zusammengezogen)  und schließlich St. Ylijn oder- wie in dieser Urkunde St. Ylien.8

Foto: A. Diener

Die Urkunde Nordkirchen, Nr. 233, 1423 Februar 7

 

Literatur:

Wilhelm Kohl,  Das Zisterzienserinnenkloster, später Benediktinerkloster St. Aegidii zu Münster (= Germania Sacra, Dritte Folge 1), Berlin, New York 2009

Theodor Ilgen, Die westfälischen Siegel des Mittelalters / mit Unterstützung der Landstände der Provinz hrsg. vom Verein für Geschichte und Alterthumskunde Westfalens. Bd. III.Die Siegel der geistlichen Corporationen und der Stifts-, Kloster- und Pfarr-Geistlichkeit, Münster 1889

Die zentrale Literaturangabe für die symbolischen Darstellungen auf Siegeln ist: Lexikon der Christlichen Ikonographie.  8 Bände  Hier: Rom, Freiburg, Basel, Wien 1994/2004

  1. Nordkirchen, Urkunden, Nr. 233, 1423 Februar 7
  2. Anders als Ilgen es formuliert ist hier kein Symbol für die Jungfräulichkeit gemeint, vgl. Ilgen, Westfälische Siegel Bd. 3, S. 54. Zum Symbol des Dornenbusches als Mariensymbolik vgl. auch M.Q. Smith, Dornenbusch, in: Lexikon für christliche Ikonographie, Bd. 1, sp. 510-511.
  3. P. Gerlach, Hirsch, in: Lexikon für christliche Ikonographie, Bd. 2, sp. 286-289. Hier v.a. sp. 286-287.
  4. Ilgen, Westfälische Siegel, Bd. 3, S. 54.
  5. Mechthildis Cleivorn die Jüngere (1417-1430) war 1423 Äbtissin. Sie entstammte einem münsterschen Erbmännergeschlecht. Vgl. Kohl,  S.282.
  6. Nordkirchen, Urkunden, Nr. 233, 1423 Februar 7. Domenica prima post Purificationis B. Mariae virginis
  7. Kohl, S. 36-37, hier S. 37.
  8. Kohl, S. 31.

Quelle: http://siegelblog.hypotheses.org/79

Weiterlesen

Aktenstücke gut zitieren

Historiker, die im Archiv forschen, sind sich oft unsicher, wie sie Aktenschriftstücke zitiert werden sollen. Jedenfalls wurde ich mehrfach darauf angesprochen, seit ich dieses Blog betreibe. Hier also Faustregeln eines Historiker-Archivars zum guten Zitieren:

  1. Nenne den Typ des Schriftstücks!
  2. Gib Entstehungsstufe und Überlieferungsform an, wenn sie von der Norm abweichen.
  3. Übergehe kanzleitechnisches Beiwerk.

Was ist darunter zu verstehen?

Das Problem

Ich schreibe bewusst "gut" statt "richtig zitieren", denn den einzig wahren Weg gibt es meiner Auffassung nach nicht. Was anzugeben ist und was nicht, sollte sich nach den Eigenheiten des zitierten Schriftstücks und dem Argumentationszusammenhang in der zitierenden Arbeit richten. Eine Zitation würde ich als gut bezeichnen, wenn ihr Informationsgehalt in diesen beiden Bezügen angemessen ist.

Normalerweise wird zu Zitaten aus Archivalien nur die Fundstelle angegeben, also eine mehr oder weniger komplizierte Sigle, die es erlaubt, den zitierten Text im Archiv exakt wiederzufinden. Dazu braucht es neben der meist dreiteiligen Archivaliensignatur (Archiv, Bestand, Bestellnummer) die Blattzahl (fol. oder Bl.). Manche Zeitschriften untersagen in ihren Manuskriptrichtlinien sogar weitergehende Beschreibungen als zur Wiederauffindung unnötig. Kostet im Druck eben Platz.

Das ist etwa so, als würde man eine Online-Veröffentlichung nur mit ihrem URN zitieren.

Und man kommt schon in Schwierigkeiten, wenn die Archivalien-Einheit, aus der zitiert wird, nicht foliiert ist. Das Schriftstück dann durch das Datum näher zu bezeichnen, wie ich das in meinem Erstling auch getan habe (Berwinkel 1999 - um mit schlechtem Beispiel voranzugehen), hilft nur bei weniger dichten Serien, bei denen dies ein eindeutiges Merkmal ist, und setzt für die nicht triviale Datierung unübersichtlicher Entwürfe selbst aktenkundliche Expertise voraus. Weit kommt man damit also nicht.

Der Schriftstücktyp

Es liegt nahe und ist verbreitet, Verfasser und Adressat plus Datum zu nennen: X an Y, 1. 1. 1900 (oder 1900 Januar 1 oder wie auch immer). Aber was tun, wenn es sich nicht um Korrespondenz mit Y handelt, sondern um Aufzeichnungen für die eigenen Akten des X? In diesem Fall führt schon rein sprachlich kein Weg daran vorbei, das Schriftstück näher zu charakterisieren.

Aus dieser praktischen Not sollte man eine methodische Tugend machen. Durch die Suche nach der treffenden Bezeichnung für ein Schriftstück vergewissert man sich des richtigen Verständnisses von dessen Form und Funktion, die als Kontext der Textinformation für die Quellenkritik entscheidend sind, und gibt seinen Lesern ein Hilfsmittel zur Falsifizierung der eigenen Schlüsse an die Hand. Gutes Zitieren zwingt zur Stellungnahme.

Bei der Benennung des Typs geht es um die Identifizierung des Zwecks einer verschriftlichten Information (Mitteilungen an Entfernte, Stütze des eigenen Gedächtnisses usw. - siehe Papritz 1959) und, bei Korrespondenzen, der aktenkundlich so genannten Schreibrichtung. Die Schreibrichtung ist ein elementares quellenkritisches Merkmal. Aktenstücke in öffentlichen Archiven stammen zumeist aus hierarchischen Institutionen, die das Verhältnis der korrespondierenden Personen bestimmten. Es wird von unten nach oben berichtet, von oben nach unten verfügt oder auf gleicher Ebene mitgeteilt.

X schreibt an Y mit einem bestimmten Inhalt - gut. Aber berichtet er seinem Vorgesetzten Y oder weist er seinen Untergebenen Y an? Die Bedeutung dieses Kontexts für die Interpretation des Texts liegt auf der Hand. Also zitiert man besser:

X an Y, Bericht, 1. 1. 1900, oder:
Behördenreskript der Kriegs- und Domänenkammer X an den Bergbaubeflissenen Y, 31. 12. 1770.

Entsprechend bei immobilem Memorienschreibwerk, wie man es aktenkundlich nennt:

X, Aktenvermerk, 30. 9. 1965, oder:
Abrechnung des Amtmanns X, 12. 12. 1701.

Ich bevorzuge die Stichwortform ohne Genitive. Man muss die Umständlichkeit der Quellensprache nicht emulieren.

Zweck und Form haben im Laufe der Jahrhunderte sehr unterschiedliche Typen von Schriftstücken hervorgebracht. Die Aktenkunde hat die zeitgenössischen Bezeichnungen vereinheitlicht und systematisiert. Im Ergebnis liegt ein sehr fein differenziertes Instrumentarium vor, das für die "klassische" Zeit bis 1918 bei Kloosterhuis (1999) mustergültig und handhabbar zusammengestellt ist. Dieser Begriffsapparat kann beim Erstkontakt abschreckend wirken. Am Gebrauch der aktenkundlichen Verabredungsbegriffe führt aber kein Weg vorbei, weil nur über diese eine wissenschaftliche Verständigung möglich ist. Man sollte sich nicht, wie es oft geschieht, eine private Terminologie aus zeitgenössischen Selbstbezeichnungen der Stücke und heutiger Umgangssprache stricken.

Die Bestimmung des Schriftstücktyps (Klassifizierung im Sinne der Systematischen Aktenkunde) betrachte ich als unverzichtbar, um ein Schriftstück als physischen Informationsträger angemessen zu zitieren.

Entstehungsstufe und Überlieferungsform

Bei Entstehungsstufe und Überlieferungsform halte ich es aber für ausreichend, Abweichungen von der Norm anzugeben. Dazu muss man diese beiden Kriterien aber zunächst vom Schriftstücktyp unterscheiden. Zur Illustration des Problems hier einige Beispiele aus der inhaltlich vorzüglichen Arbeit von Simone Derix (2009), die ich zufällig in den Händen hatte:

"Abschrift BM Lehr an StS BKAmt" (40 Anm. 63) - eine Abschrift wovon? Doch wohl von einem Mitteilungsschreiben unter praktisch gleich Gestellten (Bundesminister - Amtschef des Bundeskanzlers).
"Paper prepared in the Department oft State, Washington" (259 Anm. 240) - das ist ein Zitat aus dem Inhalt (Überschrift?), aber keine Charakterisierung.
"Funkübermittlung, BKA" (293 Anm. 49) - Was wird übermittelt, ein Bericht? Und in welcher Form liegt das Stück in den Akten vor? Schließlich musste die drahtlose Übermittlung verschriftlicht werden.

Korrespondenz liegt in Behördenakten in der Regel in zwei Entstehungsstufen vor:

  1. Eigene ausgehende Schreiben im Entwurf, der von allen zuständigen Instanzen genehmigt wurde und infolge dessen eine Reihe von Vermerken zum Urtext trägt.
  2. Fremde eingehende Schreiben als Ausfertigung, wie sie in der Kanzlei des Absenders als Reinschrift von dessen Entwurf hergestellt wurde.

Wenn nun in den Akten einer Behörde ein Bericht an das Ministerium als Entwurf vorliegt und dessen darauf folgender Erlass als Ausfertigung, dann ist das normal und muss beim Zitieren nicht beachtet werden.

Hoch relevant sind dagegen die Abweichungen von der Norm: Warum ist die Ausfertigung des eigenen Berichts bei den Akten? Ist er niemals abgegangen, wurde er im letzten Moment kassiert? Warum zeigt der Entwurf keine Spuren des Genehmigungsverfahrens? Im Zitat kann dies so ausgedrückt werden:

X an Y, Bericht, nicht genehmigter Entwurf, 15. 5. 1925.
Kabinettsordre Herzog Xs an den Amtmann zu Y in nicht vollzogener Ausfertigung, 1781 März 18.

Die Überlieferungsform ist etwas anderes. Ihre Kategorien sind Original - Abschrift/Kopie - Durchschlag usw. Hier findet man sich am ehesten instinktiv zurecht, dennoch drohen schwere Fehler: Ausfertigung und Original sind nicht identisch; auch von einem Entwurf gibt es ein Original (und beliebig viele Doppelstücke als Durchschläge oder Kopien). Auch "Abschrift" sagt nichts über den Typ des Schriftstücks aus.

Gleichwohl ist die Angabe der Überlieferungsform essentiell, sofern es sich nicht um das Original handelt. Es ist leicht einzusehen, dass es einen Unterschied macht, ob z. B. ein Schreiben des späten Mittelalters vom Original (der Ausfertigung oder des Entwurfs) oder von der Abschrift in einem Briefbuch zitiert wird.

Es geht um den Nachweis, die Quelle in ihrer maßgeblichen Form benutzt zu haben. Daran erweist sich auch das handwerkliche Können bei der Archivrecherche: Es war z. B. normal, einen Bericht der vorgesetzten Behörde mit einer bestimmten Zahl von Durchschlägen (der Ausfertigung) einzureichen, die an die zuständigen Stellen im Hause verteilt wurden. Das Original blieb dabei das Arbeitsexemplar, auf dem die Entscheidungsfindung (wie soll auf den Bericht reagiert werden?) durch Vermerke dokumentiert ist. Auf diese Bearbeitungsspuren richtet sich das historische Interesse manchmal mehr als auf den Urtext. Wer zufällig auf einen Durchschlag stößt und es dabei bewenden lässt, zitiert nicht die maßgebliche Überlieferung und begeht damit einen schweren methodischen Fehler.

Wenn nun das Arbeitsexemplar verloren oder nach Ausschöpfung aller Mittel nicht aufzufinden ist, muss ausgewiesen werden, dass ausnahmsweise nach einer sekundären Überlieferungsform zitiert wird:

X an Y, Bericht, Durchschlag, 23. 5. 1949.
Kopie der Ausfertigung des Erlasses des Ministerialrats X an das Finanzamt Y-Innenstadt, 3. 6. 1980.

Konzentration auf das Wesentliche

In der Archivarbeit führt Unsicherheit zum Drang nach Vollständigkeit: Ein normales Behördenschriftstück enthält eine große Menge von Bearbeitungsspuren, vom Eingangsstempel bis zum Grünstift des Chefs. Aus Furcht, etwas wichtiges zu unterschlagen, bringen viele Wissenschaftler eine methodisch unreflektierte Auswahl aus den formalen Merkmalen des Schriftstücks, die das Wesentliche eher verschleiert.

Hier ein Beispiel aus einem ausgezeichneten Aufsatz, dem wegen seiner tagespolitischen Aktualität breite Rezeption zu wünschen ist (Spohr 2010: 30 Anm. 89):

"Drahterlass, Telko Nr. 1374 an BM Delegation, D2, Dr Kastrup; Betr: Gespräch mit AM Schewardnadze (10.2.1990 im Kreml)—Fortsetzung zu Plurez 1373, 11 February 1990"

Hier sind überflüssig:

  1. der Betreff,
  2. der Bezug zum Vorgänger-Erlass,
  3. die fernmeldetechnische Kontrollnummer.

Nicht optimal ist die unverarbeitete Angabe des Adressaten in Form eines Zitat (und das auf Deutsch, mit nicht aufgelösten Abkürzungen, in einem englischen Text).

Als Zitation reicht: Auswärtiges Amt an Kastrup, Drahterlass, 11. 2. 1990.

Rein kanzlei- und registraturtechnische Vermerke, bei modernen Schriftstücken auch Angaben zum Beglaubigungsmittel und dergleichen haben nur in Ausnahmefällen eine Bedeutung. Diese Fälle sind wichtig, aber aktenkundliche Forensik lässt sich in einer Zitation aber nicht mehr unterbringen, sondern verlangt Erläuterungen im Text.

Dass sie in der Zitation übergangen werden können, bedeutet keineswegs, dass diese technischen Spuren als Bestimmungsfaktoren ignoriert werden können! Schließlich ergeben sich der Schriftstücktyp, die Entstehungsstufe und die Überlieferungsform aus ihren Kombinationen. Aber wenn das Haus gebaut ist, soll das Gerüst verschwinden.

Über Kommentare zu zitiertechnischen Spezialproblemen würde ich mich freuen.

Literatur

Berwinkel, Holger 1999. Münzpolizei in geteilter Landesherrschaft. Beobachtungen aus der Ganerbschaft Treffurt 1601-1622. In: Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte 49. S. 67-86.

Derix, Simone 2009. Bebilderte Politik. Staatsbesuche in der Bundesrepublik Deutschland 1949-1990. Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 184. Göttingen.

Kloosterhuis, Jürgen 1999. Amtliche Aktenkunde der Neuzeit. Ein hilfswissenschaftliches Kompendium. Archiv für Diplomatik 45. S.465–563. (Preprint online)

Papritz, Johannes 1959. Die Motive der Entstehung archivischen Schriftgutes. In: Mélanges offerts par ses confrères étrangers à Charles Braibant. Brüssel. S. 337–448.

Spohr, Kristina 2012. Precluded or Precedent-Setting?: The "NATO Enlargement Question" in the Triangular Bonn-Washington-Moscow Diplomacy of 1990-1991. In: Journal of Cold War Studies 14. S. 4-54.

Quelle: http://aktenkunde.hypotheses.org/289

Weiterlesen

Rückblick, Ausschau

Auch aus Bloggerperspektive ist die Jahresendzeit eine gute Gelegenheit für Rückschauen auf das, was man so produziert hat. Einerseits kann man sich dadurch selbst gut zureden, dass man trotz aller Zweifel an der eigenen Blogfähigkeit doch tatsächlich etwas veröffentlicht bekam. Andererseits hofft man, dass der ein oder andere imaginäre Leser (oder gar tatsächliche Leserin?) einen Post übersehen hat, der im Nachhinein doch noch von Interesse ist. Oder es gelingt sogar, durch einen solchen Rückblick Ideen für mögliche weitere Blogposts zu entwickeln.

Tatsächlich habe ich einen solchen Jahresrückblick im letzten Jahr verpasst, da das Jahresende in eine längere Blogpause fiel, aus der ich nur herausgekommen bin, indem ich ein dickes Meta bemühte. Den letzten Rückblick verfasste ich auch nicht als Schau auf das vergangene Jahr, sondern anlässlich der Lieblingsblogwahl meiner Plattform de.hypotheses im Jahr 2013. Aus dem Publikumspreis für den 4. Platz dort wurde im Jahr darauf ein geteilter 5. Platz bei der Jurywahl 2014, was mich selbstredend erfreute, wenngleich auch ein wenig überraschte.

Gleich drei Posts in diesem Jahr beschäftigten sich mit meiner Arbeit als Postdoc an meinem Lehrstuhl: Allgemeines zum Lehrdeputat, Spezielles zur Planung einer Lehrveranstaltung und etwas weiter Ausgeholtes zur Organisation multipler Tasks. Großes Thema in diesem Jahr war auch wieder das Voynich-Manuskript, was auch über diesen Blog hinaus Schatten warf. Ich wurde von Holger Klein für seinen Kanal Wrint interviewt und durfte meinen Post zur Theorie von Torsten Timm für die Online-Zeitung Ruhrbarone ausbauen und und in der Folge verteidigen. Die eingefleischte Garde der Voynich-Forscher wehrt sich zwar noch immer ein wenig gegen Torstens Ansatz - aber ich hoffe, dass wir im nächsten Jahr (vielleicht in einer Gemeinschaftsarbeit) dazu kommen, die Bedenkenträger durch neue informationstheoretische Belege ein wenig mehr aus der Reserve zu locken.

Komplettiert wurde der Blog in diesem Jahr von Posts, die sich in zwei Schubladen stecken lassen, die ich immer mal wieder bediene: Zum Einen habe ich einen Fetisch für statistisch-kombinatorische Probleme, die ich trotz unzureichendem mathematischen Handwerkszeug zu lösen versuche, wie hier die Wichtelproblematik (auf Twitter hatte ich das etwas großspurig als Problemlösen im 21. Jahrhundert: Googlen, Denken, Programmieren angekündigt).

Ein wenig ernsthafter unternehme ich Versuche, mich bei bestimmten Themen, bei denen ich als Computerlinguist/Sprachwissenschaftler/Informationsverarbeiter/Programmierer über ein mehr oder weniger fundiertes Wissen verfüge, in laufende Diskussionen einzumischen, wie ich das hier zu Algorithmen oder hier zu Programmiersprachen als Teil der Schulbildung getan habe.

Eine Handvoll Ideen sind mir nun tatsächlich während des Schreibens an diesem Blogpost gekommen - insofern hat er sich für mich schon gelohnt. Und so bleibt mir noch, allen (imaginären?) Leserinnen und Leser einen guten Start ins Jahr 2015 zu wünschen!

Quelle: http://texperimentales.hypotheses.org/1251

Weiterlesen

God-Porn oder: Vom Jesuskind im Trikot und übermenschlichem Muskelspiel

Die Diffusion religiöser Elemente in die Populärkultur ist in den letzten Jahren bereits thematisiert worden (vgl. Knoblauch 2009). Religiöse Events werden medial überformt, religiöse Narrative in populärkultureller Gestalt an anderer Stelle aufgegriffen – in Diskussionen über Leben und Tod, aber auch materiell manifestiert. Wir kennen Buddha-Statuen in Einrichtungshäusern, Yin-und-Yang-Symbole in Wellness-Anstalten und Engelsflügel als Kettenanhänger.

"MY GOD IS A DJ" von monsieur haze. CC BY-NC-ND.

"MY GOD IS A DJ" von monsieur haze. CC BY-NC-ND.

Ganz allgemein lassen sich diese Übernahmen vielleicht als Verweis auf das Faszinosum Religion deuten. Letztere ist noch präsent im kulturellen Gedächtnis, ihre Bilder und Begriffe rufen Assoziationen hervor – aber sie hat für viele ihre Selbstverständlichkeit und Alltäglichkeit verloren. Religiöse Symbole taugen deshalb als faszinierendes, geheimnisvolles, und damit oft attraktives und schmückendes Lifestyle-Accessoire für Einrichtung, Kleidung, Körperschmuck. (Damit ist übrigens, erstens, kein dystopischer Unterton verbunden. Zweitens ist damit nicht impliziert, dass es sich hier um einen Transfer von genuin religiöser Gedankenwelt in eine genuin nicht-religiöse Umwelt handele: Hier soll beides als stetig untrennbar verbunden begriffen werden und zudem das, was hier als „religiös“ benannt wird, nur als diskursiv im Feld der Religion verortbar verstanden.)

Trotzdem ist dieses Thema noch erstaunlich wenig systematisch unerforscht. Vielleicht auch, weil es umfangreiche Kautelen – wie in der vorangegangenen Klammerbemerkung nur kurz angerissen – mit sich bringt. Ich werde dennoch später darauf eingehen, warum es eine fruchtbare Perspektive kulturwissenschaftlicher Religionsforschung sein kann. Zunächst möchte ich dafür aber ein einschlägiges Beispiel vorstellen.

Über 5 Minuten ist der Werbespot „The Game before the Game“ lang, der für die Fußballweltmeisterschaft in diesem Sommer produziert wurde, mit einem riesigen Staraufgebot (von Neymar Jr. über Schweinsteiger zu Suarez und van Persie, aber auch VIPs anderer Provenienz wie LeBron James, Serena Williams, Lil' Wayne oder Nicky Minaj) aufwartet und, das nur am Rande, für Kopfhörer der Marke „Beats by Dr. Dre“ wirbt. Der Clip ist in vielerlei Hinsicht beeindruckend. Und: Fußball wird in ihm ganz fest mit Religion vernäht. (Das ist auch insofern spannend, als dass er die üblichen „Fußball-als-Religion“-Debatten deutlich in den Hintergrund verweist, indem er klare visuelle und narrative Referenzen auch auf „traditionelle Religionen“ bietet.) Schaut euch den Clip hier an:

Meines Erachtens spielen religiöse Elemente hier auf drei Ebenen eine eminente Rolle: In einer christlich geprägten Rahmenerzählung, in einer ritualgeprägten Visualität, und in der Stilisierung der Fußballspieler zu einem neuen griechischen Götterpantheon.

  • Zur Rahmenerzählung: Neymar Jr., einer der Helden dieses Clips (und tragischer Held der folgenden WM) telefoniert vor dem Eröffnungsspiel mit seinem Vater. Dieser ermahnt ihn, zu rennen wie niemals zuvor, glücklich zu sein, sich nicht zurückzuhalten, keine Hemmungen zu haben. Am Ende des Clips folgt den Ratschlägen die Ermutigung, während Neymar als dunkle Gestalt auf einen hellen Durchgang zusteuert: „Put God's army in front of you. Wear Gods armour from the helmet to the sandals. Go with God. God bless you.“ - Vermutlich ein Verweis auf Epheser 6.11-18: Ziehet an die ganze Waffenrüstung Gottes, damit ihr zu bestehen vermöget wider die Listen des Teufels. […] beschuht an den Füßen mit der Bereitschaft des Evangeliums des Friedens [...] Nehmet auch den Helm des Heils“. Wie auch immer, die Einbettung in christliche Tradition ist deutlich und passt zu Neymars eigenen Überzeugungen, soweit sie der Öffentlichkeit bekannt sind.
  • Zur ritualgeprägten Visualität: „The Game before the Game“ lautet der Titel des Clips, und es geht demzufolge um die Vorbereitung aller Beteiligten – Spieler, Fans, Reporter – auf das Fußballspiel. Diese Vorbereitungen bestehen geradezu ausschließlich darin, Rituale durchzuführen und Glücksbringer zu aktivieren. Neben einigen Bezügen auf die Nation – Fahnen schwenken und schminken, die Unterwäsche oder den Nagellack in Landesfarben wählen – finden sich eine Vielzahl religiöser Referenzen: ein Hausaltar mit Jesuskind in Fußballtrikot, ein Ritual mit möglicherweise amazonas-indianischen Bezügen (Hinweise werden gern genommen, gemeint ist die Sequenz bei 3:50), das Versenken im Gebet und viele kleinere beschwörende und rituelle Handlungen wie das Anbringen von Glücksbringern bei Fans ebenso wie Fußballern. Stetiger Bezugspunkt ist auch hier, dem Titel des Clips gemäß, die optimale Vorbereitung auf das Spiel: Alle Register werden gezogen, um Gott und Glück auf die jeweils eigene Seite zu schlagen.
"Aztec Gods" von Andrew Becraft. CC-BY_NC_SA.

"Aztec Gods" von Andrew Becraft. CC-BY-NC-SA.

  • Zur Stilisierung der Fußballer: Im Gegensatz zu den anderen Ebenen ist diese deutlich weniger explizit, sie drängt sich nur bei einem Blick auf abstrakterer Inszenierungsstrategien auf. Markant ist aber gleich der Beginn – ein Schelm, wer Böses (d.h. hier: Riefenstahlsches) dabei denkt: Mit Neymar Jr. fliegen wir über Meer und Land, durch die Wolken herab in die Niederungen der jubelnden Menge, die uns frenetisch begrüßt. Und im Folgenden ist körperbetonende Heldenhaftigkeit die Leitlinie der Darstellung: Die Beherrschung des Balles, lässige Gänge durch die Flure, von hinten betrachtet, vor allem aber Körperlichkeit bis hin zu deutlicher Erotisierung durchziehen das Video. Viel Nacktheit, Muskelspiel, Tattoos, Schweiß und die rituell-feiernde Pflege des männlichen Körpers, all dies macht den Fußballer zu einem sexualisiertem Helden. Die einsame Inszenierung – nie geht es um eine Mannschaft, nie sind mehrere Fußballer gleichzeitig zu sehen – das Kämpfen, das Beherrschen besonderer Fähigkeiten, das frenetische Gefeiertwerden, die Verehrung durch die (auch weiblichen) Fans, die Bilder ihrer Helden austauschen, sich am Körperbefestigen, für sie ihren Körper verändern (bis hin zur Tätowierung), es macht sie zu angebeteten, übermenschlichen, halbgotthaften Gestalten und Heilsträgern.

Zum Clip könnte noch viel mehr gesagt werden. Etwa zur Musik, die immer wieder die Zeile „Ain't no God in these streets/in the heart of the jungle“ wiederholt. Zum Bezug zum Titel, „The Game before the Game“, oder zu den fast vergessenen Kopfhörern. Hier aber stattdessen zurück zu religiösen Elementen in populärer Kultur: Die sind im geschilderten Beispiel auf verschiedenen Ebenen zu finden, und greifen dort jeweils auf unterschiedlichste Traditionsbestände zurück. Diese Bricolage begünstigt auch die Freiheit, gleichermaßen visuelle Marker wie Rollen- und weitere Referenzen zu verbinden und macht die Vielfalt möglicher Verweise nachdrücklich deutlich.

Warum nun diese Betrachtung? Sicher lässt sich nichts über die Wirkung sagen – ob durchschnittliche Betrachter*innen angesichts des Clips religiös musikalisch werden, ist zweifelhaft. Ebenso lässt sich über produzentenseitige Intentionen nur spekulieren. Einzig möglich ist daher so etwas wie eine Diskursanalyse religiöser Narrative. Was nutzt dies, über den unterhaltsamen Einzelfall hinaus? Der Aufgriff und die Adaption religiöser Narrative jenseits dessen, was gemeinhin als das eigentliche religiöse Feld verstanden wird, lässt Rückschlüsse zu auf das, was an Religion mit Blick auf breite gesellschaftliche Schichten als attraktiv verstanden wird. Oder besser: auf die Schnittmenge von Religion und gegenwärtig Interessantem, Reizvollem, Erstrebenswertem. Das individuell ermutigende traditioneller religiöser Botschaften und die magischen Werkzeuge, mit denen sich ein Geschick steuern lässt, so lässt sich dem Clip entnehmen, sind populärkulturell anschlussfähige Faszinosi. Religion als Werkzeug und als Entlastung, das könnten demnach zwei größere Themen sein, die sich weiterverfolgen ließen, wenn es um den Aufgriff religiöser Narrative in Narrationen der Populärkultur geht. Ein weitere Thema ist die Attraktivität übermenschlicher Lichtgestalten, die das leisten, was wir nicht können – attraktiv in doppeltem Wortsinne, denn angesichts der Figuren wird deutlich, wie sehr die Halbgötter menschlichen Schönheits- und Sexualitätsvorstellungen unterworfen sind. All dies gibt zunächst Aufschluss über Gesellschaft, nicht über religiöse Traditionen im klassischen Sinne. Eine Sprachfähigkeit hierzu steht aber auch Religionswissenschaftler*innen nicht schlecht zu Gesicht. Und davon ausgehend, dass wechselseitige Beeinflussungen an der Tagesordnung sind, oder aber sich Gesellschaft und Religion überhaupt nicht voneinander scheiden lassen, ist die Untersuchung solcher Adaptionsprozesse umso wichtiger für gegenwärtige Religionsforschung.

an

Quelle: http://marginalie.hypotheses.org/53

Weiterlesen

Das widersprüchliche Erbe Karl Polanyis – von Florian Finkbeiner

Karl Polanyi gilt als Mitbegründer der Wirtschaftssoziologie. Mit The Great Transformation liefert er einen Hauptbeitrag zur Soziologie der Märkte. Darin beschäftigt er sich mit der Geschichte des Kampfes zwischen Gesellschaft und Markt vor allem ab dem 19. Jahrhundert. Seine Kernforderung … Continue reading

Quelle: http://soziologieblog.hypotheses.org/7640

Weiterlesen

Weihnachtspost: Selfmade Lösungsweg

Die Wochen vor Weihnachten sind die Zeit der Weihnachtsfeiern und Weihnachtsfeiern sind die Gelegenheit zum Wichteln. Für mich ein willkommener Anlass, darüber nachzudenken, wie wahrscheinlich es ist, dass das Wichteln in einer Wichtelcommunity schief läuft, d.h. - je nach Wichtelspielvariante - dass man sich selbst beschenken muss bzw. dass man das eigene Geschenk zieht. Inwiefern ist diese Wahrscheinlichkeit abhängig von der Teilnehmerzahl? Aus welchem Grund auch immer ich vernarrt bin in solche Denksportaufgaben, schlage ich mich gerne damit herum. Etwa wenn ich mitten in der Nacht aufwache und nicht mehr einschlafen kann.

Natürlich ist die Lösung des Problems ist relativ einfach googlebar (Wichteln ist ja ein wichtiges, allgemein bekanntes und sehr weit verbreitetes Thema), was für die meisten Probleme, mit denen ich mich sonst so rumschlage, leider nicht gilt. Mehr oder weniger zu Übungszwecken war es deshalb mein Ansporn, durch eigenständiges Nachdenken auf die Lösung zu kommen. Schnell merkte ich, dass das Problem nicht ganz elementar ist - zwischenzeitlich hatte ich drei verschiedene Lösungswege, die zu drei unterschiedlichen Ergebnissen führten. Es gelang mir dann doch, diese zu synthetisieren und als ich das kundtat, wurde ich aufgefordert, meine Denk- und Irrwege darzustellen, auf dass dies einen Einblick geben könnte, wie man sich mathematische Lösungen als Geisteswissenschaftler aus gefährlichem Halbwissen zusammenkonstruiert, hinterfragt und letztlich dabei doch irgendwie erfolgreich ist.

1. Bekanntes zusammenkramen: Kombinatorik

Wie fängt man so etwas an? Man trägt zusammen, was man denn so zum Thema weiß. Wie war das noch mit der Kombinatorik? Da gab es doch Unterschiede von wegen Berücksichtigung der Reihenfolge und dem Zurücklegen. Beim Wichteln (also Geschenke ziehen) ist die Reihenfolge relevant (wer bekommt welches Geschenk) und zurückgelegt wird nicht (jedes Geschenk wird nur einmal vergeben). Das heißt, man kann alle möglichen Wichtelnde-Wichtelgeschenk-Kombinationen über die Formel N!/(N-n)! berechnen. N ist dabei die Anzahl der Geschenke, n die Anzahl der Teilnehmer|innen (oder umgekehrt, es ist ja auch vollkommen gleich, da ja genau ein Geschenk auf eine|n Teilnehmer|in kommt. Jedenfalls wenn alle ein Geschenk mitbringen). Da N-n damit 0 und 0!=1 ist, bleiben N! mögliche Kombinationen von Geschenkreihenfolgen. Hilft einem das irgendwie bei der Frage, wie viele dieser Kombinationen gute (jede|r Teilnehmende hat ein Geschenk von jemand anderem) und wie viele schlechte Kombinationen (Mindestens ein|e Teilnehmende|r hat das eigene Geschenk gezogen) sind.

2. Bekanntes kombinieren: Mach dir ein Bild

In einem ersten Schritt habe ich nun tatsächlich die verschiedenen Kombinationen (die Permutationen genannt werden) aufgezeichnet und sie von Hand sortiert.

Mögliche Geschenkzuteilungen von 2 (links) und 3 (rechts) Mitwichtlern

Mögliche Geschenkzuteilungen von 2 (links) und 3 (rechts) Mitwichtlern

Das Ergebnis sieht man in den Tabellen links: Großbuchstaben in der ersten Zeile stehen für Wichtel-Teilnehmende, die entsprechenden Kleinbuchstaben für deren Geschenke. Rot markiert sind Kombinationen, bei denen Teilnehmende eigene Geschenke erwichtelt haben (fortan Kollisionen genannt). Grün gefärbt sind die Reihen, die keine Kollisionen aufweisen, d.h. wo alle Teilnehmenden ein fremdes Geschenk erwichtelt haben. Im Fall von 2 Teilnehmenden (linke Tabelle) ist ist das in einem von zwei (also in der Häfte aller Fälle), bei drei Teilnehmenden in 2 von 6 möglichen Permutationen (also nur noch bei einem Drittel der Fälle) gegeben. Steigt also die Wahrscheinlichkeit der Kollisionen also mit steigender Teilnehmerzahl? Das hieße nichts gutes für unser Institutsweihnachtswichteln, wo sich 16 Mitspielende angekündigt hatten. Bevor ich mir aber die Mühe machte, Tabellen mit 16! (etwa 21 Billionen Zeilen) verschiedenen Kombinationen aufzumalen, suchte ich nach einem anderen Lösungsweg.

3. Holzwege abklappern: Der Baum der falschen Erkenntnis

Bildschirmfoto 2014-12-21 um 16.57.08

Ein erweiterbarer Wahrscheinlichkeitsbaum: Bei 4 Mitspielern hat der erste eine Chance von 1/4, das eigene Geschenk zu erwichteln. Wenn danach noch jemand drankommt (in 3/4 aller Fälle), hat dieser 1/3 Chancen auf sein eigenes Geschenk, usw. Richtig?

Bei zwei Mitwichtlern gibt es genau zwei Möglichkeiten: Jeder bekommt das eigene Geschenk oder das des anderen. Also fifty-fifty. Kann man das nicht irgendwie auf drei Mitwichtelnde erweitern? Der erste hat eine Chance von 2/3, nicht das eigene Geschenk zu ziehen, in dem Fall liegt der zweite dann doch wieder 50/50.

Bei jedem weiteren Wichtler muss der Wahrscheinlichkeitsbaum nur nach vorne erweitert werden, so wie ich dies in der nebenstehenden Graphik versucht habe, abzubilden: Demnach müsste die Zahl der geglückten Runden bei 3 Mitwirkenden 2/3*1/2, also 1/3 betragen, bei 4 Mitwirkenden entsprechen 3/4*2/3*1/2, also 1/4 usw. betragen. Aber kann das stimmen? Das würde ja heißen, dass die Wahrscheinlichkeit für nicht geglückte Wichtelrunden umso unwahrscheinlicher wird, je mehr Leute mitwichteln. Bei unserer Institutsfeier wäre die Chance also gerade mal 1/16, läge also bei mageren 6,25%.

4. Halbwissen hinterfragen: Mal's noch einmal, Sam

Bildschirmfoto 2014-12-21 um 17.09.25Ich war jetzt doch soweit, den kombinatorischen Lösungsweg weiter zu verfolgen. 4!, also 24 mögliche Geschenkzuteilungskombinationen bekommt man ja noch auf ein DIN-A4- Blatt gemalt und, wie man links sieht, auch in einem Blogpost untergebracht. Jetzt nur noch die validen Kombinationen ermitteln und durchzählen - und merken, dass tatsächlich ein anderes Ergebnis als beim Wahrscheinlichkeitsbaum herauskommt: Offenbar gibt es nämlich nicht die von meiner Baumüberlegung vorhergesagten 6 von 24 Möglichkeiten (was 1/4 entsprechen würde), sondern ganze 9/24 (was 1,5/4 entspricht).

Da sich die Kombinatorik nur recht selten zu irren pflegt, musste also mein Wahrscheinlichkeitsbaum falsch sein. Aber warum? Und wie berechne ich die Wahrscheinlichkeit für mehr Teilnehmer? Weder meine Mathematik noch mein gesunder Baum-Entwurfs-Menschenverstand, noch meine DIN-A4-Blätter schienen auzureichen, um auf die richtige Lösung zu kommen. Den Gesichtsverlust durch Googlen wollte ich mir vorerst noch ersparen. Und was bleibt da? Ach, ich kann ja noch programmieren.

5. Der Rechner kann's zufällig: Millionenfaches Wichteln

Erster Programmieransatz war ein einfacher empirischer Test (auch Monte-Carlo-Methode genannt, danke an Till für den Hinweis). Ich brauche einfach eine Liste von Geschenken und lasse die Mitspielenden nacheinander ein Geschenk blind (über einen Zufallsgenerator) ziehen. Wenn jemand sein eigenes Geschenk zieht, ist die Runde gescheitert, wenn alle Geschenke gezogen wurden, ohne dass dies passierte, ist sie geglückt. Computer spielen schnell, es ist also kein Problem, 1 Millionen Runden oder mehr zu spielen (gut, wenn es tausende Mitspielende werden, muss man schon etwas warten, aber ich hatte ja nur 16). Außerdem kann man Ergebnisse für eine ganze Reihe unterschiedlicher Mitspielender ermitteln. Bei zweien glückt etwa jede zweite Runde, bei dreien etwa jede dritte - soweit gingen mein Baummodell und die Kombinatorik ja auch noch d'accord. Bei vier Mitspielenden liegt das Ergebnis um 0,375 herum, also so viel, wie meine Kombinationstabelle aussagte und 50% mehr, als der Wahrscheinlichkeitsbaum mich vermuten ließ.

Tatsächlich leuchtete mir dann ein, dass mein Baum zu simpel konstruiert war, da die Fälle für "nicht das eigene Geschenk" nicht hätten zusammengefasst werden dürfen. Wenn nämlich A das Geschenk von B zieht, und B ist danach an der Reihe, ist die Wahrscheinlichkeit für B genau Null, das eigene Geschenk zu ziehen. Der Wahrscheinlichkeitsbaum müsste also so viele Zweige haben, wie die Permutationstabelle Zeilen hat und wäre damit eben keine Vereinfachung mehr.

Die Permutationstabelle wird bei 5 und mehr Mitspielenden zu groß, mein vereinfachter Wahrscheinlichkeitsbaum ist unbrauchbar. Bleibt also vorerst nur die empirische Methode über Zufallsexperimente. Die liefert bei steigender Mitspielerzahl immer fast den gleichen Wert, der zwischen 3,6 und 3,7 liegt. Interessant, aber unbefriedigend, wenn man nicht genau versteht, weshalb das so ist.

6. Der Rechner kann's auch strukturiert: Spiel die Welt durch

Also noch einmal programmieren - statt einfach zufällig Geschenke zu ziehen, kann man auch einfach alle Permutationen von Geschenkabfolgen konstruieren, um sie hernach von den Mitspielern in immer der gleichen Reihenfolge ziehen zu lassen (oder umgekehrt, das ist völlig gleichgültig). Schließlich malt der Rechner nicht auf DIN-A4-Blätter und müsste auch mit mehr Tabellenzeilen zurecht kommen. Wobei N! natürlich trotzdem relativ schnell an Speicherplatz- und Prozessorgrenzen stößt.

Eine Liste in alle möglichen Permutationen zu überführen, ist eine sehr schöne Rekursionsaufgabe, die ich irgendwann einmal implementiert und wieder vergessen habe. Da ich dazu neige, viel Gehirnschmalz und Zeit bei solchen Aufgaben zu verlieren, habe ich mir dann doch eine Lösung von hier geklaut und auf meine Bedürfnisse angepasst. Jetzt konnte ich da drumrum ein Programm schreiben, welches alle Permutationen erzeugt und gegen die Mitwichtlerreihenfolge abprüft. Ergebnis: Je größer n, desto mehr nähert sich der Anteil der geglückten Wichtelrunden der Zahl 0,3678 an. Für n=10 dauert die Berechnung schon eine ganze Weile und ab n=11 gibt es einen OutOfMemory-Error, wenn man den Speicherplatz für die virtuelle Maschine nicht hochsetzt (ja, ich weiß, es ist nicht nötig, alle Permutationen zu speichern, an der Laufzeitproblematik ändert sich dadurch ja auch nichts).

Bildschirmfoto 2014-12-21 um 21.32.31

Ausgabe meines maschinellen Wichtelprogramms. Links Anzahl der Teilnehmer, Mitte Ergebnis von 1 Mio Zufallsexperimenten, Rechts Ergebnis aller möglichen Permutationen.

Die sehr viel schnellere Zufallsgenerierungsmethode nähert sich bei größeren n auch immer mehr dieser Zahl an, so dass ich ihr vertraute, dass auch bei n=16 eine knapp 5/8 Wahrscheinlichkeit besteht, dass jemand von den 16 Mitwichtlern unserer Weihnachtsfeier das eigene Geschenk ziehen würde. Klar könnte man einfach die Runde wiederholen, aber da das Ganze anonym stattfinden sollte, wäre es schwierig gewesen mit dem Outing, das eigene Geschenk zu haben. Ich habe mir dann lieber eine 2-Gruppen-Lösung ausgedacht, wo man das Geschenk in die eine Wichtelgruppe gibt und eins aus der anderen Gruppe zieht. Klappt allerdings nur bei einer Mitspielerzahl, die nicht prim ist.

Über die richtige Lösung berichtete am Tag nach unserer Weihnachtsfeier auch DIE ZEIT Online und Post hoc ließ ich mich auch noch auf Google ein und fand diese diese nett gemachte Erläuterung. Mathematisch korrekt und ohne Umwege. Aber dass es eine solche gibt, hatte ich ja gar nicht in Abrede gestellt. Ich habe eigene Lösungswege gesucht, um meinen Denkapparat ein wenig zu ölen, damit er auch bei nicht-googlebaren Lösungen seinen Dienst tut. Ich habe dies hier aufgeschrieben, weil mein Kneipenlog-Kollege Dierk meinte, es würde vielleicht einen Einblick in (geistes)wissenschaftliche Prozesse geben.

[Code des Wichtelprogramms poste ich bei Interesse noch auf GitHub]

Quelle: http://texperimentales.hypotheses.org/1225

Weiterlesen

Siegelbefestigung: Vom Verschlussmittel zur angehängten Präsentation

Siegel dienten in Ihrem Ursprung dem Verschluss von Briefen, Fässern, Truhen und sollten deren Unversehrtheit bekräftigen. 1

Bereits hier war der Aspekt der Rechtsverbindlichkeit wichtig. Das mit dem Siegel verschlossende Material wurde auf diese Weise als authentisch und inhaltlich unversehrt gekennzeichnet.

Wie so ein Verschluss ausgesehen hat, bzw. ausgesehen haben könnte, zeigt ein sogenanntes Briefsigné aus dem frühen 19. Jahrhundert, was auch dazu diente, den im gefalteten Umschlag befindlichen Brief unter Verschluss zu halten:

LWL-Archivamt

Abb. 1: Siegel als Verschlussmittel (Nordkirchen, NME, Nr. 61)

Abb. 2, Foto: A. Diener

Abb. 2

Ansonsten werden Wachssiegel seit der Karolingerzeit unter die geschriebne Urkunde gesetzt und das ist meist wörtlich zu nehmen: Im Text als Beglaubigungsmittel angekündigt, werden sie in einer Vertiefung im Papier mit einer Verstärkung angebracht. Es wurde ein kreuzförmiger Schnitt im Beschreibstoff angebracht, die Schnittstellen wurden umgebogen und durch das so entstehende Loch die Siegelmasse ( meist Wachs)  von beiden Seiten der Urkunde durchgedrückt. Der Stempel oder Petschaft wurde mit dem Siegelbild dann auf die Vorderseite gedrückt. Deswegen spricht man auch von einem aufgedrückten oder durchgedrückten Siegel. (Vgl. Abb. 3). Der Platz ( meist unten rechts) auf dem ein Siegel angebracht wurde, wird locus sigili oder Siegelstelle genannt.(( Vgl. Kümper, Materialwissenschaft Mediävistik, S. 123.))

 

Aufgedrücktes Siegelhinten, Foto: A. Diener

Abb. 3

Das aufgedrückte Siegel war nicht so robust wie als Beglaubigungsmittel gefordert, deswegen setzte sich zum Ende des 12. Jahrhunderts immer mehr das anhängende Siegel oder Hängesiegel durch.2

Das anhängnde Siegel wurde mit einer Siegelschnur oder einer "Pressel", d.h. mit einem Pergamentstreifen am unteren Rand der Urkunde befestigt, indem man die Schnur etc. durch einen Einschnitt im Beschreibstoff zog. Dazu musste der untere Rand der Urkunde umgebogen werden, um die Anhängung zu verstärken. Diese Umbiegung wird Plica genannt.3

Bei unserem Beispiel, das auch das Headerbild unseres Blogs bildet können wir diesen Wechsel vom aufgedrückten zum angehängtem Siegel live miterleben. Bischof Herrman siegelt noch in den 1170er Jahren mit aufgedrücktem Siegel4.

Foto: A.Diener

Abb. 4

Bei seinen Urkunden aus den 1190er Jahren sind dann die Siegel mit leicht verändertem Bild angehängt. (Vgl. Abb. 5). So ist an diesem anschaulichen Beispiel der Siegel Bischof Herrmans von Münster aus dem 12. Jahrhundert gut der Wechsel vom aufgedrückten Siegel zum angehängten Siegel zu beobachten.

SiegelHerrmann1188, Foto A. Diener

Abb. 5

 

Literatur:

  • Toni Diederich: Siegelkunde: Beiträge zu ihrer Vertiefung und Weiterführung. Köln 2012.
  • Wilhelm Ewald: Siegelkunde (= Handbuch der mittelalterlichen und neueren Geschichte. 4). München-Berlin 1914 (Nachdruck München 1978).
  • Herman Maué, Siegel zum Verschließen von Briefen, in. Signori (Hrsg.), Das Siegek, S. 181-188.
  • Hiram Kümper, Materialwissenschaft Mediävistik, Paderborn 2014
  1. Vgl. Maué, Siegel zum Verschließen, S. 181.
  2. Kümper spricht bereits von der Mitte des 12. Jahrhundert. Allerdings belegt das folgende Beispiel, dass dies kein allgemeingültiiges Faktum ist., vgl. Kümper, Materialwissenschaft Mediävistik, S. 124.
  3. Vgl. Kümper, Materialwissenschaft Mediävistik, S. 124.
  4. Vgl. Abb. 4

Quelle: http://siegelblog.hypotheses.org/45

Weiterlesen

Das institutionelle Blog als kaleidoskopischer Zugang zur lebendigen Universität – Betrachtungen aus archivarischer Sicht


0. Einleitung

Da steht sie unerwartet und plötzlich in uns: die Frage, ob ein ansprechend formulierter journalistischer Beitrag über eine Karaoke-Party in ein Universitätsblog gehört. „Tja nun“, sagen wir hinhaltend, drücken Kerben in den sich unruhig in unseren Händen windenden Bleistift und schnappen nach einer Atempause verstohlen nach Luft. „Ja nun, das war doch eine Party von Studenten“, entfährt es uns ganz altakademisch latinophil und genderindifferent! Wir erinnern uns an das Hochschulgesetz, das vorsieht, dass eine Universität von jungen Leuten bevölkert ist, die dort studieren. „Ja, studieren! Nicht Party feiern!“, raunt uns unser innerer Advocatus Diaboli zu. „Schluss jetzt!“, raunen wir zurück! Ist ein Universitätsblog allein auf Output aus der universitären Forschung und auf Beiträge aus der Lehre beschränkt? Gehört zur Universität nicht mehr und zu einem lebendigen Abbild erst recht? Wir wollen daher unseren Standpunkt zu dem, was wir uns unter einem Universitätsblog zu verstehen erlauben, ein wenig erläutern. Dabei handelt es sich einzig und allein um die persönliche subjektive Ansicht des Verfassers, der – biographiebedingt – einige Betrachtungen aus einer archivarischen Perspektive einflechten wird.

Gliederung:

  1. Erwartungshaltung gegenüber institutionellen Blogs
  2. Mandatsgemäßer Output oder Gleichberechtigung der Funktionen?
  3. Funktionen einer Universität
  4. Zusammenfassung: der Blog - ein repräsentatives Kaleidoskop

1. Erwartungen an institutionelle Blogs

Längst sind Blogs nicht mehr die Domäne von Einzelpersonen für ihre eigenen Beiträge, wenngleich solche Ein-Autoren-Blogs in der Gesamtzahl der Blogs, die das Internet bietet, weitaus die größte Zahl ausmachen dürften und auch künftig ausmachen werden.[1] Institutionelle Blogs sind neben den themenbezogenen Mehrautorenblogs zu einer dritten Komponente in der Welt der „seriösen Blogosphäre“ geworden. Wer sich beispielsweise die Liste der Blogs ansieht, die vom im Blog-Aggregator „Planet History“ abgegriffen werden, also von einem Aggregator für Blogs, die sich mit Geschichte befassen, bemerkt, dass diese Blogs eher themenbezogen als institutionsbezogen betitelt sind. Dort, wo sie nach Institutionen benannt sind, sind es Einrichtungen der Geschichtsvermittlung (z.B. Archive), die ihre Schätze und Ergebnisse präsentieren.

Spezielle Blogs von Universitäten findet man in großer Zahl. Sie sind nicht die klassischen institutionellen Blogs, etwa wie die von Archiven oder Museen. Sie sind inhaltlich nicht wie jene auf ein institutionelles Mandat ausgerichtet, das von eng abgrenzbaren Inhalten erfüllt ist. Das universitäre Mandat ist zwar durch die Hochschulgesetze klar definiert. Die sich daraus ergebenden Inhalte sind aber so weit gefächert, dass die Schere zwischen der Beziehung eines Blogs zur Institution und zu den aus ihr heraus entstehenden Sachthemen scheinbar zur schier unübersehbaren Kluft wird. Diese vermeintliche Kluft kann leicht zu Unklarheiten darüber führen, worüber denn in einem Universitätsblog geschrieben werden soll, darf, kann. Diese Frage wurde in der Praxis ebenso vielmals wie vielfach beantwortet. Die Technische Universität München (TUM) betreibt ein Blog namens „Forschung und Lehre an der Technischen Universität München“. Konzept und Umsetzung oblagen unter anderem dem Hochschulreferat Studium und Lehre, dem Medienzentrum und dem Konvent der wissenschaftlichen Mitarbeiter. Dieses Blog soll als zentrale Informations- und Kommunikationsplattform zu Themen rund um Studium und Lehre dienen und damit eine erkannte Lücke füllen. Veröffentlichen dürfen Lehrende und Studierende. Thematisch „sind keine engen Grenzen gesetzt: alle Fragen rund um Studium und Lehre können hier diskutiert werden – von der Vorstellung innovativer Lehrkonzepte und Praxisprojekte über Vorschläge zur Verbesserung der Studien- und Lehrqualität bis hin zu aktuellen hochschulpolitischen Themen.“[2]Bye Bye Uni-Blog“ lautet die Überschrift des letzten Beitrags des Blogs der Universität Potsdam, das zu stark eventbezogen ausgerichtet war, um gegenüber einem erfolgten Relaunch der um neue redaktionelle Möglichkeiten erweiterten Universitätswebsite einen akzeptablen Mehrwert zu behalten.[3] Der „Campus Passau Blog“ dient zwar keineswegs nur, aber ausdrücklich als Sprachrohr für Studierende zur Universität: „Die Universität möchte vor allem den Studierenden mit dem Blog ein Forum geben, direkt mit der Uni in Kontakt zu treten und den offenen, konstruktiven Dialog miteinander aufzunehmen.“[4]

Eine eigene Gattung sind universitäre Blogportale, die die unterschiedlichen Blogs, die in einer Universität betrieben werden, sortieren und überschaubar zugänglich machen. Dies können echte Portale sein oder als Portale getarnte Blogs, die mit einem ausgeprägten Rubrikensystem arbeiten. Ein interessantes Beispiel ist das CEDIS-Portal für die Blogs an der Freien Universität Berlin. Hier wird jedem Mitarbeiter und Studierenden der FU die Möglichkeit zum Betrieb eines eigenen Blogs gegeben. Die Nutzerkompetenz und die daraus resultierenden Blogergebnisse erscheinen aber – trotz des guten Supportangebots von CEDIS – mehr als dürftig. Als gelungen darf wohl das Portal der Blogs von Mitarbeitern der University Oxford (http://www.ox.ac.uk/blogs.html) gelten, das auf Blogs von Einzelpersonen und auf kollaborative Blogs wie z.B. das der Voltaire Foundation führt. Beachtenswert ist die Gliederung des Oxforder Portals. Sie richtet sich nach den tatsächlich verlinkten Blogs und gibt kein starres Korsett vor. Das heißt, dass die einzelnen Blogbetreiber selbst bestimmen, was Inhalt eines universitären Blogs ist und somit sein darf. Über möglicherweise existierende Aufnahmevoraussetzungen für das Portal ist keine Information auf der Portalseite hinterlegt.

All diesen Beispielen ist gemein, dass der Bezug zu den Kernaufgaben Forschung und Lehre und die Beziehungen der Studierenden zur Institution Universität die roten Fäden sind, die den Beiträgern zur inhaltlichen Orientierung mehr oder weniger verbindlich vorgegeben werden. Weiterhin fällt auf, dass Veranstaltungen und insbesondere Veranstaltungsankündigungen große Akzeptanz eingeräumt wird; letzteren, obwohl sie eigentlich eher nicht in die Idee des Weblogs als nach Antwort suchendem „Logbuch“ für Reflexion und Betrachtung, als facettenreichem und keineswegs chronologisch gemeintem „Tagebuch“ passen.

Es drängt sich der Eindruck auf, als gebe es eine nebulöse Grauzone universitären Lebens, um deren Existenz man zwar weiß, bei der aber große Unsicherheit besteht, inwieweit sie in einen „seriösen“ Universitätsblog gehöre. Plakativ sei dafür nochmals die anfangs zitierte Karaoke-Party genannt.

2. Mandatsgebundener Output oder Gleichberechtigung der Funktionen?

Quelle: http://unibloggt.hypotheses.org/228

Weiterlesen

Science Fiction und Allgemeinplätze der Erinnerungskultur. Genre-atypische Anspielungen auf den Holocaust in Christopher Nolans Interstellar

Heftige Staubstürme fegen über die Erde. Die Vereinigten Staaten von Amerika sind zu einem trostlosen Agrarstaat geworden, heimgesucht von einer Plage, die nur noch den spärlichen Anbau von Mais zulässt. Um die von Nahrungsengpässen gequälte Bevölkerung zu ernähren, hat der Staat auf Planwirtschaft umgestellt, und in der Schule wird nur noch das Nötigste unterrichtet. Pionier-Errungenschaften, auf die das alte Amerika so stolz war, werden als Propaganda verleugnet. So zum Beispiel die Mondlandung des Apolloprogramms.

Der verwitwete Farmer Cooper (Matthew McConaughey), einst einer der besten Piloten des Landes, wird durch anormale Erscheinungen im Zimmer seiner Tochter auf die Existenz eines geheimen NASA-Stützpunkts aufmerksam. Im Verborgenen werden hier Missionen zu unbekannten Planeten koordiniert, die den Menschen Zuflucht bieten sollen, wenn in absehbarer Zeit die Erde endgültig unbewohnbar sein wird.

Cooper bekommt die Aufgabe, drei Planeten zu untersuchen. Nach einigen irrwitzigen Drehungen und Wendungen – Vorsicht, Spoiler! – gelangt Cooper in eine fünfdimensionale Sphäre, in der Zeit eine physikalische Eigenschaft ist. Vergangenheit und Zukunft sind variabel, so kann er seiner Tochter Zeichen geben, um mit dem im All erlangten Wissen Raumschiffkolonien zu bauen, die es den Menschen erlauben, die Erde zu verlassen und eine amerikanische Kleinstadtidylle in der Umlaufbahn des Saturn zu reproduzieren.

Christopher Nolans jüngster Film über Zeit und Raum, Liebe und Vergänglichkeit ist ein eindrückliches Kinoerlebnis. Der verdrehte Plot wird durch eine überwältigende Visualisierung unterstützt und ist gespickt mit Film- und Literaturzitaten, beispielsweise zu Kubricks 2001: Odyssee im Weltall oder John Steinbecks Früchte des Zorns.

Sind diese Referenzen in einem dystopischen Science-Fiction-Film erwartbar, so bedient sich Interstellar jedoch einiger Tropen, die sich regelmäßig nur in Repräsentationen des Holocaust wiederfinden. Diese genre-atypischen Anspielungen sind vermutlich nicht bewusst mit dem Holocaust im Hinterkopf in den Film aufgenommen worden, sie zeigen jedoch die wirkungsvoller Referenz, die der Holocaust für die Ästhetik und Narration amerikanischer populärer Filme darstellt.

Zwei Anspielungen fallen hier ins Auge: Zu Beginn des Films werden Ausschnitte von videographierten Zeitzeugeninterviews eingespielt. Diese Oral-History-Interviews ähneln den ikonischen Interviews mit Holocaust-Überlebenden, die systematisch seit den späten 1970er Jahren aufgezeichnet werden und vor allem durch Steven Spielbergs Shoah Foundation einem breiten Publikum bekannt gemacht wurden. Diese Interviews, in denen Zeitzeugen als in Würde gealterte Menschen gezeigt werden, die aus der sicheren Retrospektive ihre schreckliche Vergangenheit bezeugen, sind aus unzähligen Dokumentarfilmen bekannt. Sie werden in Museen und im Schulunterricht eingesetzt und zunehmend über das Internet verbreitet.

Erst zum Ende von Interstellar wird den Zuschauern klar, dass es sich auch in diesem Film tatsächlich um Zeitzeugen-Interviews von Überlebenden handelt, die in einem musealen Kontext gezeigt werden. Auf der Raumschiff-Kolonie wurde Coopers alte Farm als Museum nachgebaut, auf der das Leben vor dem Exodus dargestellt wird. Verschiede Installationen von Zeitzeugen-Interviews markieren diesen Ort erst als historisierendes Konzeptmuseum, wie es beispielsweise das U.S. Holocaust Memorial Museum oder unzählige andere Gedenkstätten und Holocaust-Museen sind. Ähnlich wie in den Holocaust-Interviews reflektieren die Überlebenden der Erde aus einer neuen und besseren Welt den Untergang der alten. Anne Rothe bezeichnete das (videographierte) Zeugnis als „Währung der Überlebenden“.[1] Indem Interstellar die Ikonographie der Holocaust-Zeugnisse kopiert, wird das Leiden der Erdlinge in die Währung des Holocaust umgetauscht.

Es gibt noch eine zweite Anspielung. Zum Ende des Films landet Cooper auf der Exilkolonie. Er hat sich allerdings zu lange in der Nähe des Schwarzen Lochs Gargantua aufgehalten, was zu einer gravitationsbedingten Zeitdilatation (Wikipedia) führte – mit der Auswirkung, dass die Menschen auf der Erde schneller alterten als Cooper und seine Kollegen im All.[2] So kommt es zu der kuriosen Situation, dass er als nur unwesentlich gealterter Mann an das Sterbebett seiner 90-jährigen Tochter gerufen wird. Im Krankenzimmer haben sich seine zahlreiche Nachfahren versammelt, unter denen er einer der Jüngeren ist. Abgesehen von dieser beliebten Konstellation eines Science-Fiction-Films steckt in der Zusammenkunft der Überlebenden mit ihren Nachfahren ein Motiv, das regelmäßig in Holocaust-Repräsentationen aufgegriffen wird. So beispielsweise in Schindlers Liste, wo auf die zahlreichen Nachkommen der von Oskar Schindler geretteten Juden verwiesen wird, oder in Interviews der Shoah Foundation, in denen die Zeitzeugen mit ihren (nachgeborenen) Angehörigen zu einem finalen symbolträchtigen Gruppenbild vereint sind. Insbesondere die Kinder und Enkelkinder der Zeitzeugen können so das positive Vermächtnis des Überlebens visualisieren und der Erzählung ein versöhnliches Ende geben. Das Überleben bekommt über das Zeugnisablegen für die Opfer und den Schrecken hinaus einen Sinn, denn es hinterlässt neues Leben, gründet gewissermaßen eine neue Lineage, die den dauerhaften Sieg des Überlebens über den Völkermord symbolisiert. Das Gruppenbild wurde zu einem Markenzeichen der Shoah Foundation, das in annähernd der Hälfte aller Interviews zu finden ist. Eine ganz ähnliche Funktion erfüllt die Familienzusammenführung in Interstellar. Obwohl die Familie auseinandergerissen wurde, hinterlässt sie eine Abstammungslinie und triumphiert so über den Untergang der alten Heimat.

Motive, die sich zur Darstellung des Holocaust etabliert haben, markieren in diesem fantastischen Untergangsfilm das Überleben. Dies verdeutlicht einmal mehr, wie der Holocaust und seine Überlebenden zu einer Chiffre der Popkultur geworden sind, die ihre Schwere und Wirkung aus dem Wissen um das reale historische Ereignis zieht. Die Überlebenden des Holocaust wie auch der Erde in Interstellar verstärken durch ihre Existenz, vor allem jedoch durch ihre Zeugnisse, den Triumph des Guten über das Böse und negieren so die reale wie auch die fiktive Dystopie.

[1] Anne Rothe, Popular Trauma Culture. Selling the Pain of Others in Mass Media, New Brunswick u.a.: Rutgers 2011, S. 29.

[2] Für eine Diskussion weiterer (logischer) Löcher des Films siehe 21 Things In Interstellar That Don't Make Sense oder ein Interview mit dem Regisseur.

Quelle: http://fyg.hypotheses.org/234

Weiterlesen

Arbeitest du noch oder fühlst du schon? Zur Vereinbarkeit von Arbeit und Leben bei „neuen Vätern“ und Karrierefrauen in der Ratgeberliteratur (Teil 1) – von Katrin Kreismayr und Katrin Anna Walch

Der Wunsch nach einer gelungenen Vereinbarkeit von Arbeit und Leben zeichnet den Großteil der arbeitenden Bevölkerung aus. Daher existiert eine Fülle an allgemeinen Work-Life-Balance-Ratgebern, zu welchen in den letzten Jahren auch Bücher hinzu traten, die sich speziell an „neue Väter“ … Continue reading

Quelle: http://soziologieblog.hypotheses.org/7643

Weiterlesen