Folgende Szene sollte den meisten Studenten der Geschichtswissenschaft geläufig sein: Man hört einer gut besuchten Vorlesung seines Lieblingsprofessors der Zeitgeschichte zu. Der Vortrag neigt sich zu Ende, deshalb lädt der engagierte Dozent seine Zuhörer ein, Fragen zu stellen. Aber natürlich meldet sich niemand. Niemand? Doch, aber kein junger Student, sondern meist ein älterer Zuhörer nimmt die Chance wahr. Oftmals ist es eine Frage, manchmal wird aber auch ein Kommentar abgegeben und wenn wir viel Glück haben, erleben wir sogar einen Zeitzeugen, der den Vortrag entweder bestätigt oder kritisiert. Immerhin: “Er war dabei”. Dies ist meist das erste Erlebnis eines jungen Studenten mit einem echten Zeitzeugen (wenn wir mal die unzähligen Knoppschen Filme außen vor lassen). Aber wer von uns hatte schon einmal die Chance mit jemand länger über seine “Zeitzeugenschaft” zu sprechen? Wohl nicht allzu viele, und das obwohl die Oral History ein wichtiger Teil der Erinnerungsgeschichte des 20. Jahrhunderts geworden ist. Im Folgenden möchte ich aber eine Sonderform der Oral History besprechen: das Experteninterview.
Der Zeitzeuge als Feind des Historikers?
Aber nun zu meiner Erfahrung mit einem Zeitzeugen. Ich hatte letzten Montag ein gutes Expertengespräch mit einem ehemaligen CDU Angestellten (bzw. späteren Staatsekretär). Mein Vorgehen bestand in einem vorher erarbeiteten Leitfragebogen und einer offenen Gesprächssituation. Vor dem Gespräch und auch jetzt noch, stelle ich mir aber immer wieder folgende Fragen: Ist die Oral History in der Praxis sinnvoll? Wieso habe ich das Gespräch gesucht? Welche Vor- und Nachteile haben solche Gespräche? Dies will ich anhand meiner eigenen Arbeit kurz besprechen.
Vorweg muss ich gestehen, dass mein Projekt eine archivgestützte Arbeit ist, die von der Idee her völlig auf eine Zeitzeugenbefragung verzichten kann. Ich baue meinen Narrativ und auch meine Argumentationsstruktur nicht auf Zeitzeugenaussagen auf. Allerdings konnte ich in meiner Magisterarbeit über Stadtplanung in München schon erste Erfahrungen mit Experteninterviews sammeln. Trotzdem bleiben solche Gespräche höchstens eine Hilfestellung. Aber für was? Hier kommen wir zum eigentlich Kern der Sache. Meine Doktorarbeit kreist in wichtigen Aspekten darum, wie Politik verhandelt wird, wie sich eine Organisationskultur verändert und wie wissenschaftliche Expertisen Politiker anleiten. Diese “Wie-Fragen” deuten natürlich auf einen kulturgeschichtlichen Ansatz hin und bezeugen die Suche nach Bedeutungen und Rollenmustern. Dafür ist ein gewisses “Feeling” für informelle Beziehungen von Vorteil. Wichtig war mir nicht unbedingt, die Spitzenpolitiker zu befragen, sondern die Menschen “hinter den Kulissen”. Schließlich geht es mir nicht um den “arkanen Zirkel” der Macht. Trotzdem kann ich durch ihre Beschreibungen von Prozessen die Aussagekraft meiner schriftlichen Quellen besser einschätzen. Wie Berater und Politiker zusammenarbeiten, findet sich wenn man Glück hat in der Korrespondenz oder bestimmten Nachlässen, aber eben nicht immer. Deshalb sind persönliche Einschätzungen zu diesen symbiotischen Beziehungen hilfreich. Wichtig ist, dass man sich stark darauf beschränkt “wie” der Zeitzeuge bestimmte Sachverhalte erzählt und bewertet. Für mich war sein eigenes Selbstverständnis und die Rollenzuschreibung wichtig. Das “was” und die Selbsteinschätzung der eigenen Taten stehen dabei definitiv im Hintergrund.
Ein anderer Grund ist die Motivation. Es macht ganz einfach Spaß ein gutes Gespräch mit jemanden zuführen, der sich in dem Gebiet auskennt. Natürlich darf man die kritische Betrachtungsweise nicht verlieren (auch wenn dies im Gesprächsverlauf passieren kann), aber durch eine gute Nachbereitung und die Distanz zu seinem Objekt sollte das kein großes Problem sein. Außerdem sollte man schon vorher klar wissen, welchen Platz diese Aussagen in der Arbeit haben werden. Für mich war das Gespräch deshalb eher eine Bestätigung und eine Ergänzung, als eine Generierung von neuem Wissen. Ich habe das Gespräch auch erst nach meiner Archivrecherche getätigt und wusste relativ klar worauf ich hinaus will und was mich erwartet. Die richtige Vorbereitung ist der Schlüssel zum Erfolg. Ein weiterer Nebenaspekt ist die Ergänzung von Details oder mögliche Quellenfunde. Manchmal wird ein Buch empfohlen oder man findet Zeitungsausschnittssammlungen. Andere Gespräche führen zu Kontakten mit weiteren involvierten Personen. Diese pragmatische Dimension sollte man nicht unberücksichtigt lassen und hier durchaus seine Fühler ausstrecken.
Neben den allgemeinen Problemen der Oral History, wie dem Gedächtnis, der Befragungssituation oder der emotionalen Nähe zu seinem Zuhörer, lag meine größte Sorge jedoch darin begründet, sich einen Narrativ “aufschwatzen” zu lassen. Das gilt vor allem für Experteninterviews, weil man es in der Regel mit Kommunikationsprofis zu tun hat. Diese haben sicherlich mehr Erfahrung mit Interviewsituationen als der jeweilige Historiker. Daher ist auch hier das Wissen um die Person und die Einordnung seiner Leistung schon vor dem Interview unumgänglich.
Als Resümee bleibt zu sagen, dass die Zeitgeschichte offen bleiben sollte und ich auch Zeithistoriker ermutigen will: Fragt nach! Sie darf den Zeitzeugen nicht kategorisch ablehnen, sondern muss wissen, wie sie ihn in ihre Geschichte integriert. Dies gilt natürlich auch für die Präsentation von Zeitzeugen in den Medien. Wenn man aber zu vorsichtig ist, verschließt man sich lediglich einer weiteren Dimension, die in dieser Art nur der Zeitgeschichte zur Verfügung steht. Allerdings darf man nicht zu viel erwarten. Neues Wissen oder echte Hilfe für die Arbeit kommt dabei in der Regel nicht heraus (außer es ist ein dezitiertes Oral History Projekt). Mir helfen diese Gespräche auf meinem langen Weg zur Promotion, weil sie Spaß bereiten und mich bestätigten. Welche bessere Motivation kann es geben?
Literaturtipps:
Mittlerweile gibt es natürlich sehr viel Literatur zu dem Thema und immer mehr Material wird online gestellt. Eine kleine Einstiegsliste für englische Projekte findet ihr hier, eine wahren Fundgrube für Hausarbeiten oder Abschlußarbeiten. Ich selbst habe mich auf die Expertengespräche mit sozialwissenschaftlichen Handbücher vorbereitet. Sie sind Schulbuchhaft geschrieben, besprechen aber wichtige Aspekte wie das Leitfadeninterview sowie allgemeine Anforderungen und Situationen: Gläser, Jochen/Laudel, Grit: Experteninterviews und qualitative Inhaltsanalyse, 2. Aufl, Wiesebaden 2006; Alexander Bogner: Das Experteninterview: Theorie, Methode, Anwendung, Opladen 2002.