Oral History – Geschichte mal anders?

Folgende Szene sollte den meisten Studenten der Geschichtswissenschaft geläufig sein: Man hört einer gut besuchten Vorlesung seines Lieblingsprofessors der Zeitgeschichte zu. Der Vortrag neigt sich zu Ende, deshalb lädt der engagierte Dozent seine Zuhörer ein, Fragen zu stellen. Aber natürlich meldet sich niemand. Niemand? Doch, aber kein junger Student, sondern meist ein älterer Zuhörer nimmt die Chance wahr. Oftmals ist es eine Frage, manchmal wird aber auch ein Kommentar abgegeben und wenn wir viel Glück haben, erleben wir sogar einen Zeitzeugen, der den Vortrag entweder bestätigt oder kritisiert. Immerhin: “Er war dabei”. Dies ist meist das erste Erlebnis eines jungen Studenten mit einem echten Zeitzeugen (wenn wir mal die unzähligen Knoppschen Filme außen vor lassen).  Aber wer von uns hatte schon einmal die Chance mit jemand länger über seine “Zeitzeugenschaft” zu sprechen? Wohl nicht allzu viele, und das obwohl die Oral History ein wichtiger Teil der Erinnerungsgeschichte des 20. Jahrhunderts geworden ist. Im Folgenden möchte ich aber eine Sonderform der Oral History besprechen: das Experteninterview.

Der Zeitzeuge als Feind des Historikers?

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Aber nun zu meiner Erfahrung mit einem Zeitzeugen. Ich hatte letzten Montag ein gutes Expertengespräch mit einem ehemaligen CDU Angestellten (bzw. späteren Staatsekretär). Mein Vorgehen bestand in einem vorher erarbeiteten Leitfragebogen und einer offenen Gesprächssituation. Vor dem Gespräch und auch jetzt noch, stelle ich mir aber immer wieder folgende Fragen: Ist die Oral History in der Praxis sinnvoll? Wieso habe ich das Gespräch gesucht? Welche Vor- und Nachteile haben solche Gespräche? Dies will ich anhand meiner eigenen Arbeit kurz besprechen.

Vorweg muss ich gestehen, dass mein Projekt eine archivgestützte Arbeit ist, die von der Idee her völlig auf eine Zeitzeugenbefragung verzichten kann. Ich baue meinen Narrativ und auch meine Argumentationsstruktur nicht auf Zeitzeugenaussagen auf. Allerdings konnte ich in meiner Magisterarbeit über Stadtplanung in München schon erste Erfahrungen mit Experteninterviews sammeln. Trotzdem bleiben solche Gespräche höchstens eine Hilfestellung. Aber für was? Hier kommen wir zum eigentlich Kern der Sache. Meine Doktorarbeit kreist in wichtigen Aspekten darum, wie Politik verhandelt wird, wie sich eine Organisationskultur verändert und wie wissenschaftliche Expertisen Politiker anleiten. Diese “Wie-Fragen” deuten natürlich auf einen kulturgeschichtlichen Ansatz hin und bezeugen die Suche nach Bedeutungen und Rollenmustern. Dafür ist ein gewisses “Feeling” für informelle Beziehungen von Vorteil. Wichtig war mir nicht unbedingt, die Spitzenpolitiker zu befragen, sondern die Menschen “hinter den Kulissen”. Schließlich geht es mir nicht um den “arkanen Zirkel” der Macht. Trotzdem kann ich durch ihre Beschreibungen von Prozessen die Aussagekraft meiner schriftlichen Quellen besser einschätzen. Wie Berater und Politiker zusammenarbeiten, findet sich wenn man Glück hat in der Korrespondenz oder bestimmten Nachlässen, aber eben nicht immer. Deshalb sind persönliche Einschätzungen zu diesen symbiotischen Beziehungen hilfreich. Wichtig ist, dass man sich stark darauf beschränkt “wie” der Zeitzeuge bestimmte Sachverhalte erzählt und bewertet. Für mich war sein eigenes Selbstverständnis und die Rollenzuschreibung wichtig. Das “was” und die Selbsteinschätzung der eigenen Taten stehen dabei definitiv im Hintergrund.

Ein anderer Grund ist die Motivation. Es macht ganz einfach Spaß ein gutes Gespräch mit jemanden zuführen, der sich in dem Gebiet auskennt. Natürlich darf man die kritische Betrachtungsweise nicht verlieren (auch wenn dies im Gesprächsverlauf passieren kann), aber durch eine gute Nachbereitung und die Distanz zu seinem Objekt sollte das kein großes Problem sein. Außerdem sollte man schon vorher klar wissen, welchen Platz diese Aussagen in der Arbeit haben werden. Für mich war das Gespräch deshalb eher eine Bestätigung und eine Ergänzung, als eine Generierung von neuem Wissen. Ich habe das Gespräch auch erst nach meiner Archivrecherche getätigt und wusste relativ klar worauf ich hinaus will und was mich erwartet. Die richtige Vorbereitung ist der Schlüssel zum Erfolg. Ein weiterer Nebenaspekt ist die Ergänzung von Details oder mögliche Quellenfunde. Manchmal wird ein Buch empfohlen oder man findet Zeitungsausschnittssammlungen. Andere Gespräche führen zu Kontakten mit weiteren involvierten Personen. Diese pragmatische Dimension sollte man nicht unberücksichtigt lassen und hier durchaus seine Fühler ausstrecken.

Neben den allgemeinen Problemen der Oral History, wie dem Gedächtnis, der Befragungssituation oder der emotionalen Nähe zu seinem Zuhörer, lag meine größte Sorge jedoch darin begründet, sich einen Narrativ “aufschwatzen” zu lassen. Das gilt vor allem für Experteninterviews, weil man es in der Regel mit Kommunikationsprofis zu tun hat. Diese haben sicherlich mehr Erfahrung mit Interviewsituationen als der jeweilige Historiker. Daher ist auch hier das Wissen um die Person und die Einordnung seiner Leistung schon vor dem Interview unumgänglich.

Als Resümee bleibt zu sagen, dass die Zeitgeschichte offen bleiben sollte und ich auch Zeithistoriker ermutigen will: Fragt nach! Sie darf den Zeitzeugen nicht kategorisch ablehnen, sondern muss wissen, wie sie ihn in ihre Geschichte integriert. Dies gilt natürlich auch für die Präsentation von Zeitzeugen in den Medien. Wenn man aber zu vorsichtig ist, verschließt man sich lediglich einer weiteren Dimension, die in dieser Art nur der Zeitgeschichte zur Verfügung steht. Allerdings darf man nicht zu viel erwarten. Neues Wissen oder echte Hilfe für die Arbeit kommt dabei in der Regel nicht heraus (außer es ist ein dezitiertes Oral History Projekt). Mir helfen diese Gespräche auf meinem langen Weg zur Promotion, weil sie Spaß bereiten und mich bestätigten. Welche bessere Motivation kann es geben?

Literaturtipps:

Mittlerweile gibt es natürlich sehr viel Literatur zu dem Thema und immer mehr Material wird online gestellt. Eine kleine Einstiegsliste für englische Projekte findet ihr hier, eine wahren Fundgrube für Hausarbeiten oder Abschlußarbeiten. Ich selbst habe mich auf die Expertengespräche mit sozialwissenschaftlichen Handbücher vorbereitet. Sie sind Schulbuchhaft geschrieben, besprechen aber wichtige Aspekte wie das Leitfadeninterview sowie allgemeine Anforderungen und Situationen: Gläser, Jochen/Laudel, Grit: Experteninterviews und qualitative Inhaltsanalyse, 2. Aufl, Wiesebaden 2006; Alexander Bogner: Das Experteninterview: Theorie, Methode, Anwendung, Opladen 2002.

Quelle: http://konservativ.hypotheses.org/68

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100 Jahre Erster Weltkrieg | Linkliste Geschichtslernen

2014 naht. Der Erste Weltkrieg wird im kommenden Jahr in Öffentlichkeit, Politik und Medien große Aufmerksamkeit erfahren – allerdings ist das bislang nur verhalten spürbar. Die Welt diskutierte im Januar die Frage: Warum Deutschland den Ersten Weltkrieg vergaß und stellte fest: “Ausgerechnet in dem Land, das im Zentrum der Katastrophe stand, ist der Krieg entrückt”.

Durch Giftgas verwundete britische Soldaten 1918 | Foto: T.L. Aitken, Wikimedia.org (Public Domain)
 

Dies spiegelt sich in den deutschsprachigen Online-Angeboten zum Geschichtslernen und für den Geschichtsunterricht wider. Während wissenschaftliche Blogs und Portale sich dem Thema bereits intensiver widmen, stehen für das Geschichtslernen zwar gute (teils ältere) Materialien auf verschiedenen gängigen Informationsportalen und Medienanbietern bereit. Auffälliger ist jedoch der Mangel an konkreten und didaktisierten Online-Lernangeboten. Weil zurzeit das Inhaltsfeld Erster Weltkrieg auf der Lernplattorm segu erstellt wird – hier das Ergebnis der bisherigen Recherche. Ein Schwerpunkt liegt dabei auf Ressourcen zum Erstellen freier Bildungsmedien (OER) mittels Creative Commons-lizensierter oder gemeinfreier (Public Domain) Medien. Gute Linktipps – insbesondere zu digitalisierten, frei verfügbaren Quellen und zu didaktisierten Lernmaterialien – können gerne als Kommentar gepostet oder an kontakt[at]segu-geschichte.de gesendet und somit die Linkliste laufend ergänzt werden.

1 | Für Schüler/innen geeignete Informationsseiten
2 | Lernaufgaben und -umgebungen
3 | Unterrichtsvorbereitung für Lehrer/innen
4 | Ressourcen zum Erstellen von OER (Open Educational Resources)
5 | Medienangebote, urheberrechtlich geschützt
6 | Wissenschaftliche Blogs und Portale zum Ersten Weltkrieg (zur Vertiefung)
7 | Linklisten
 
 

1  |  Für Schüler/innen geeignete Informationsseiten

allgemein: Wikipedia, LeMo, Deutsche Geschichten, Geschichtszentrum

für jüngere Schüler/innen: Hanisauland, Was ist Was?

zu bestimmten Themenschwerpunkten: Verdun/Planet Wissen

Social Media: Facebook-Seite Leon Vivien (frz.), twitter, z.B.: @IWM_Centenary, @1914_2014

Zeitungsdossiers: Die Zeit, Zeit für die Schule, Spiegel, einestages

 

2  |  Lernaufgaben und -umgebungen

segu (im Aufbau), zwei Lernzirkel/Landesbildungsserver BW, Lernmodul “Heimatfront”/Landesbildungsserver BW

 

3  |  Unterrichtsvorbereitung für Lehrer/innen

allgemein: ZUM (Zentrale für Unterrichtsmedien)Lernen aus der Geschichte MagazinKaiserreich/BpB, Vorkrieg 1913/BpB, Landesbildungsserver BW

Quellen: Menschen im Ersten Weltkrieg/Volksbund.de, Objektdatenbank DHM, Bildpostkarten/Univ. Osnabrück

Regionalgeschichtliche Beispiele: Karlsruhe-Wiki, Freiburg

Museen: Historial Péronne, Imperial War Museums GB, National WW1 Museum Kansas City, MHM Dresden

 

Um urheberrechtlich unbedenkliche Lernmaterialien als OER (Open Educational Resources) zu erstellen und zu veröffentlichen, muss man auf Medien zurückgreifen, die unter CC (Creative Commons) Lizenz stehen oder gemeinfrei (Public Domain, durchgestrichenes Copyright-”C”) sind. Screenshot: Wikimedia.org (Public Domain)

 

4  |  Ressourcen zum Erstellen von OER (Open Educational Resources)

Bildmedien: Wikimedia; Themenschwerpunkte z.B. Kriegsanleihe bzw. War Bonds (Plakate), Verdun War (oder andere Stichworte in die Mediensuche/”Multimedia” eingeben), Suchmaschine CC Search (zu verschiedenen Suchbegriffen)

digitalisierte Quellen als CC (Creative Commons): Bildersuche/Europeana.eu (nicht alle Fotos/Quellen sind CC!)

verschiedene Medienangebote als OER: ZUM (Zentrale für Unterrichtsmedien)

OER-Video: Dolchstoßlegende [ansonsten kaum Filme als CC oder PD]

 

5  |  Medienangebote, urheberrechtlich geschützt

Fotos: Bundesarchiv, Süddeutsche Zeitung photo, Photos of the Great War

Medienportale (mit Audios und Videos): D-Radio, LexiTV/MDR, ZDF Mediathek, arte Themenportal, ARD Mediathek, BBC, Hörspiel/Lernen aus der Geschichte

 

6 | Wissenschaftliche Blogs und Portale zum Ersten Weltkrieg (zur Vertiefung)

Blog 1914_2014, 1914-1918 Online, Themenportal Clio Online, Themenportal Max-Weber-Stiftung, Zeitgeschichte Online, Europeana 1914-1918

 

7 | Linklisten

Politische Bildung Online, Lernen aus der Geschichte

 

empfohlene Zitierweise    Pallaske, Christoph (2013): 100 Jahre Erster Weltkrieg | Linkliste Geschichtslernen. In: Historisch denken | Geschichte machen | Blog von Christoph Pallaske, vom 6.6.2013. Abrufbar unter URL: http://historischdenken.hypotheses.org/1840, vom [Datum des Abrufs].

Quelle: http://historischdenken.hypotheses.org/1840

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Vier Schätze des Studierzimmers (I)

Entsprechend der großen Bedeutung von Schrift und Schriftlichkeit maßen die Gelehrten-Beamten im traditionellen China den zum Schreiben benötigten Utensilien große Bedeutung bei. Diese Bedeutung von Schriftlichkeit und Schriftkunst spiegelt sich nicht zuletzt in dem für die im Frühjahr 2004 an der Pariser Bibliothèque Nationale gezeigte Ausstellung gewählten Titel “Chine: l’Empire du trait” wider. In diesem Sinne würdigt “De rebus sinicis” die kulturgeschichtlichen Bedeutung dieser Utensilien im Rahmen einer Serie, die mit der Erläuterung des Begriffs der “Vier Schätze” und mit einem Überblick über frühe Abhandlungen darüber beginnt.

Papier (zhi 紙), (Schreib-)Pinsel (bi 筆 bzw. maobi 毛筆), Stangentusche (mo 墨) und Reibstein (yan 硯) wurden gemeinhin als die “vier Schätze des Studierzimmers” (wenfang sibao 文房四寶) bezeichnet.[1]

“Vor diesem Hintergrund wird auch verständlich, daß die Schreibutensilien des Gelehrten nicht nur zu höchster Verfeinerung entwickelt wurden, sondern sich auch eine Kennerschaft und Liebhaberei um das Schreibgerät herausbildete, wie sie sich in diesem Maße in keiner anderen der uns bekannten Kulturen finden.”[2]

Die intensive Beschäftigung mit diesen “vier Schätzen” führte schließlich auch zu deren ausführlicher Beschreibung.

Vier Schätze

“Vier Schätze” | Foto: Monika Lehner

Der aus der heutigen Provinz Sichuan stammende Autor Su Yijian 蘇易簡 verfasste im 10. Jahrhundert (das Nachwort ist auf das Jahr 986 datiert) das Wenfang sipu 文房四譜 (d. i. “Abhandlung über die Vier Schätze des Studierzimmers”; in einigen Bibliographien auch mit dem Titel Wenfang sibao pu 文房四寶 gelistet). Su präsentierte darin Informationen über jeden dieser Vier Schätze, unter anderem zur Herstellung sowie zu “historischen Begebenheiten”[3].

Später folgte das von Lin Hong 林洪 verfasste Wenfang tuzan 文房圖贊 (“Illustrierte Huldigungen zur Studierstube”, Vorwort aus dem Jahr 1237). Auch wurden einzelnen dieser Vier Schätze ähnliche Abhandlungen gewidmet, so widmete sich Gao Sisun 高似孫 im 13. Jahrhundert den Tuschereibsteinen (Yan jian 硯箋, 1223)[4].

Weitere Autoren beschrieben die Herstellung von Tusche beziehungsweise den qualitativen Aspekten. Von besonderer Bedeutung ist beispielsweise das vermutlich im späten 11. Jahrhundert 李孝美 verfasste Mopu fashi 墨譜法式, das detaillierte Angaben zur den bei der Herstellung von Tusche erforderlichen Arbeitsschritten enthält.[5]

  1. Vgl. u.a. die Bemerkungen zu “The Scholar’s Desk” in The British Museum/Online Tours: “Mountains and Water: Chinese landscape painting”. Die “vier Schätze” durften auch bei der von Juni bis Oktober 2012 an der Universitätsbibliothek Marburg gezeigten Ausstellung “Kulturgeschichte des chinesischen Buches” nicht fehlen.
  2. Helwig Schmidt-Glintzer: Geschichte der chinesischen Literatur. Von den Anfängen bis zur Gegenwart (München, 2. Aufl., 1999) 84 f.
  3. Vgl. dazu Martina Siebert: Pulu 譜錄. “Abhandlungen und Auflistungen” zu materieller Kultur und Naturkunde im traditionellen China (Opera Sinologica 17; Wiesbaden 2006) 218 sowie chinaknowledge.de: “Wenfang sipu. Notes on the Four [Tools] of the Study”
  4. Vgl. dazu Siebert: Pulu, 218 (Yan jian) und 233 (Wenfang tuzan).
  5. Vgl. dazu ebd., 183, zur Übersetzung des Titels vgl. ebd., 139 Anm. 246. Zum Mopu fashi vgl. auch Thomas O. Höllmann: Das alte China. Eine Kulturgeschichte (München 2008) 220 f.

Quelle: http://wenhua.hypotheses.org/497

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Juliette Sibon (Albi): Die Juden des europäischen Mittelmeerraums im späten Mittelalter aus wirtschaftshistorischer Perspektive. Quellen, Methoden und neue Ergebnisse

Deutschsprachige Zusammenfassung des Vortrages vom 10. Juni 2013: Les juifs d’Europe méditerranéenne au bas Moyen Age à la lumière de l’approche économique: sources, méthodes et nouveaux apports

Die Geschichtsschreibung zur Geschichte der Juden kennt zwei wesentliche Entwicklungen: die eine, die man als „weinerlich“ bezeichnen könnte, hochsensibel für die Nöte des Volkes  Israel, die Verfolgungen, die Diskriminierungen; und die andere, voller Idealismus, idyllisch, auf die auch die Idee der convivencia zurückgeht, der Mythos des friedlichen Zusammenlebens der drei Religionen auf der iberischen Halbinsel.

Tatsächlich wird das südliche Europa oft als Ausnahme gesehen, als „ein neues Judäa“ (J. Michelet), im Gegensatz zu den nördlichen Regionen Zarfat (hebr. Frankreich) und Aschkenas (hebr. Deutschland), wo die mittelalterlichen Juden unter viel dramatischeren Bedingungen gelebt hätten. Sicherlich wird diese Schwarz-Weiß-Zeichnung von den meisten Spezialisten heute nuanciert, doch bleibt sie nichtsdestoweniger bedeutsam und spaltet die Ansichten.

Ich, für meinen Teil denke, dass der Versuch, diese Debatte zu klären, aussichtslos ist. Die Grundlagen zur Erneuerung der Reflexion sind nicht da. Der Verzicht auf jeden Anachronismus und jede Teleologie – Grundvoraussetzung jeder historischen Untersuchung – sollte zum Mißtrauen gegenüber allzu negativen wie allzu harmonischen Darstellungen führen, und nicht dazu, daß man sich für eine der beiden Varianten entscheidet. Neue und fruchtbare Perspektiven hingegen eröffnet es meines Erachtens, wenn man die Ambivalenz der Lebensbedingungen der mittelalterlichen Juden analysiert und vor allem, wenn man das Schicksal der Juden weder als linear noch als außergewöhnlich begreift; wenn man eine „Geschichte der Juden“ statt einer „Jüdischen Geschichte“ betreibt.

 1)    Quellen : zwei miteinander verbundene Typologien

 

 «literarisch»

normativ

pragmatisch

lateinisch

ExegeseChroniken

kanonisches Recht

römisches Recht

notarielle Urkunden

Gerichtsakten

städt. Bekanntmachungen

hebräisch

Exegese

Chroniken

halakha

Responsen

takkanot (Gemeindesatzungen)

pers. Aufzeichnungen

 a)      Lateinische Texte zur Geschichte der Juden: das Beispiel Provence

Da das Ungleichgewicht zwischen christlichen und hebräischen Quellen für die Provence unter angevinischer Herrschaft (1245-1481) besonders ausgeprägt ist, hat sich das interne Leben der Gemeinschaften nur Schritt für Schritt aus den städtischen Archiven und den Registern der lateinischen Notare und Gerichte wie der kirchlichen Rechtsprechung und der Rechnungen der städtischen Schatzmeister (clavaires) rekonstruieren lassen.

Die immensen Sammlungen rabbinischer responsa, wie sie für das Katalonien des 13. und 14. Jahrhunderts oder für das Italien des 16. Jahrhunderts existieren, fehlen in der Provence, so dass man sich als Historiker, abgesehen von den literarischen jüdischen Quellen, auf eine vollständig lateinische Quellengrundlage stützen muss.

Es sind daher die normativen und pragmatischen Dokumente lateinischer Provenienz, auf denen seit den in der Revue des Études Juives seit dem Ende des 19. Jahrhunderts publizierten Pionierarbeiten die regionalen Studien beruhen, ebenso wie die quantitativen Studien zum ökonomischen Leben und die jüngeren Monographien v.a. sozial- und kulturhistorischer Prägung. Sie bieten ein Panorama der jüdischen Gemeinden, nicht mehr nur für die gesamte Provence, sondern auch für das Languedoc und den Roussillon, die Cerdagne, Sardinien und die Iberische Halbinsel.

 b) Die hebräischen Texte

Das scheinbare Fehlen hebräischer Quellen für den westlichen Mittelmeerraum im Mittelalter wurde lange Zeit als gegeben akzeptiert. Dies hat sich seit einigen Jahren geändert und die Arbeit des Sammelns, der Restaurierung, Klassifizierung, der Transkription und der Übertragung „nicht-literarischer“ und „nicht kalligraphischer“ Schriften beginnt erste Früchte zu tragen und die ökonomische Anthropologie der mittelalterlichen Juden im christlichen Westen zu erneuern.

Die Bandbreite der der erhaltenen Dokumente pragmatischer Schriftlichkeit im Hebräischen ist tatsächlich sehr groß: responsa, persönliche Notizbücher (pinqassim im Hebräischen), nebst hebräischer „Urkunden“, Verträge (zweisprachige Verkaufsverträge, Schuldscheine und Quittungen, Forderungsabtretungen, Eheverträge und Testamente samt Inventaren), selbst hastig geschriebene „Kritzeleien“ am Rande lateinischer Register, deren Funktion noch zu untersuchen bleibt.

 2. Die Methode

 a)      Eine „entgetthoisierte“ Geschichte, eine vergleichende Geschichte

Eine „entgetthoisierte“ Geschichte ist eine Geschichte die sich des Erbes der „Wissenschaft des Judentums“ annimmt und den Platz der Juden in der mittelalterlichen Gesellschaft neu durchdenkt.

Der ökonomische Zugang ist hier  besonders fruchtbar. Nicht nur die Rolle der Juden im Handel, sondern auch in der Produktion im Rahmen handwerklicher und vor allem landwirtschaftlicher Unternehmungen wird in den Blick genommen. Durch ein neues Verständnis ihrer Beziehungen zu den Christen einerseits, und durch den Vergleich der jüdischen Gemeinschaften unterschiedlicher geographischer Räume andererseits wird ihr Verhältnis zum Geld, ihre unternehmerischen Techniken und ihre Integration in die civitas seitdem neu betrachtet.

Und auch in dem Maße, in dem sich die Fragen der Spezialisten der jüdischen Gemeinschaften mit jenen des Handels und der Arbeitswelt im christlichen Milieu überschneiden, gewinnt diese Geschichte an Offenheit.

 b)     Ein Beispiel zur Umsetzung: Die Frage der Zugehörigkeit der Juden zur Bürgerschaft in der christlichen mittelalterlichen Stadt

 Im christlichen Mittelmeerraum im Spätmittelalter sind die Juden in den Städten habitatores und cives. Das ist im christlichen Sizilien ebenso der Fall wie in der angevinischen Provence, und ganz besonders in Marseille, das eine der drei großen jüdischen Gemeinschaften der Grafschaft beherbergt – schätzungsweise 1000 bis 2000 Personen, d.h. ungefähr 10% der Gesamtbevölkerung  der Stadt. Hier werden die Juden in den lateinischen Dokumenten ausdrücklich als cives bezeichnet, in der gleichen Weise wie auch ihre christlichen Nachbarn. Unter der Krone von Aragon hingegen werden die Juden niemals als cives bezeichnet. Heißt das, dass ihre Lebensbedingungen jenen der Juden in Marseille diametral entgegengesetzt sind, wo sie, zumindest theoretisch, eine politische Größe in der Stadt bilden? Verweist das gebrauchte Vokabular auf einen unterschiedlichen Status, de jure wie de facto?

Antwort ?

Ob sie nun ausdrücklich als cives bezeichnet werden – wie in Marseille und, in einem gewissen Maße, auch in Mallorca – oder nicht, die Juden sind sehr wohl Mitglieder der Bürgergemeinschaft und können innerhalb der mehrheitlich christlichen Gemeinschaft der Stadt von Rechts wegen eine Bürgerschaft   in Anspruch nehmen, die theoretisch zwar durch ihre nachgeordnete Stellung begrenzt ist, die aber weit davon entfernt ist, völlig gehaltlos zu sein. Der christianitas nicht zugehörig, sind die Juden nichtsdestoweniger Teil der civitas.

 3) Neue Erkenntnisse: einige Beispiele

 a) Die Juden und die Zinsleihe: Shatzmiller neu interpretiert

Joseph Shatzmiller ist der erste Historiker, der die Bedeutung des Marseiller Juden und Geldleihers Bondavin de Draguignan, Sohn Abrahams († 1316), gesehen und ans Licht gebracht hat. Dank seines Vermögens, das auf Krediten, Seehandel und Immobilienbesitz basierte, hat sich Bondavin an die Spitze der städtischen Gesellschaft aufgeschwungen. Vom Beispiel Bondavins ausgehend, zeichnet Shatzmiller ein positives Bild des jüdischen Geldleihers. Weit davon entfernt, ein Aussätziger zu sein, ist Bondavin ehrbar und genießt das Vertrauen und die Freundschaft der Eliten der Mehrheitsgesellschaft, bereit seine Glaubwürdigkeit vor dem angevinischen Gerichtshof zu bezeugen.

Bondavins Finanzgeschäfte haben zweifellos eine ökonomische Dimension. Einerseits unterstützen sie die landwirtschaftliche Produktion, das Handwerk und den Handel. Zum anderen tragen sie zum Aufschwung des großen Kapitals und zur indirekten Finanzierung der expansionistischen Politik der von Anjou bei.

Statt zur Stigmatisierung und zur Exklusion der jüdischen Geldleiher zu führen, sind die diversen Schuldverhältnisse Bestandteile eines Systems von persönlichen Beziehungen und des Zusammenhalts zwischen den Eliten der beiden Gemeinschaften, in welchem der symbolische Wert der Transaktion deren wirtschaftliche Bedeutung deutlich übersteigt.

Die symbolische Dimension der Finanzaktivitäten Bondavins ist sowohl im vorgelagerten wie im nachgelagerten Bereich sichtbar. Der Ausdruck ex causa gracie et amoris ist keineswegs sinnentleert. Sie gehört zur „moralischen Ökonomie des Schenkens“ (Barbara Rosenwein), an der die städtischen Eliten Marseilles, die christliche wie die jüdische, Anteil haben. Mitnichten überflüssig, ist sie Teil der Freundschaftsrhetorik, die sichtbarer Zeichen bedarf. Der Erfolg Bondavins stützt sich auf die Solidarität unter Reichen, auf eine nach außen getragene Zuneigung – wie im Prozess von 1317 –, einer öffentlichen Meinung, die ihn heraushebt.

 b) Der Platz der Jude auf den mittelalterlichen Märkten: Das Beispiel Mordacays Joseph

Das lateinische Archiv Marseilles birgt einige hebräische Dokumente, die, obgleich bruchstückhaft, das Verständnis der wirtschaftlichen Aktivitäten der Juden in eine neue Perspektive rücken. Allem voran der pinqas des Mardcays Joseph. Die vorrangige Aktivität, die dieses Heft verzeichnet, ist der Korallenschnitt: Mordacays stellt die Rohstoffe zur Verfügung, die „Arbeiter“ liefern ihm die bearbeiten Korallen.

Der pinqas macht das Korallengeschäft Mordacays nachvollziehbar: er bezieht die Rohstoffe aus der Fischerei im sardischen Meer (zwischen Sardinien und den Balearen) und er stellt Korallenhandwerker an, um diese dann zu bearbeiten. Insgesamt erscheinen 14 Namen in dem pinqas, von denen fünf christlich und neun jüdisch sind.

Übersetzung: Torsten Hiltmann, Georg Jostkleigrewe, Christian Scholl

Informationen zu Marie Bouhaïk-Gironès: hier

Zum Programm im Sommersemester 2013: hier

Quelle: http://jeunegen.hypotheses.org/797

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Fastenpredigten von 1697-1705 – Neuerwerbung im AES

Predigthandschrift im Schweinsledereinband

Predigthandschrift im Schweinsledereinband

Im Mai 2013 konnte für die Handschriftensammlung des Archivs der Erzdiözese Salzburg (AES) ein wichtiges Stück erworben werden: Eine Predigthandschrift aus dem ausgehenden 17. bis beginnenden 18. Jahrhundert. Auf fast 1700 Seiten sind hier die Fastenpredigten im Salzburger Dom aus den Jahren 1697, 1698 und 1705 zusammengebunden. Die Fastenpredigtreihe von 1697 wurde von Aloisius Dalasco, einem Salzburger Theatiner gehalten. Ebenso war Felix Fossa, der Prediger von 1698, Theatiner. 1705 trug dieses hohe Amt P. Norbert Wernwag, ein Franziskaner. Seine Predigtreihe von einem Priester namens Franz Sengmillner aufgezeichnet. Zusätzlich sind noch zwei Predigtreihen mitgebunden, eine zwischen den Predigten von Felix Fossa und Norbert Wernwag, gehalten von einem gewissen Caietan Maria Neuburg, einem Theatiner, wobei unklar ist, wann und wo er diese Predigten gehalten hat. Es könnte sich ebenfalls um Fastenpredigten für den Dom handeln. Am Ende befindet sich eine Predigtreihe eines Franziskaners namens P. Severus aus dem Jahr 1705 – auch hier ist unklar, wo diese Predigten vorgetragen wurden.

Eine typische Schriftseite der Predigthandschrift

Eine typische Schriftseite der Predigthandschrift

Der recht dicke Band im Quartformat ist in helles Schweinsleder mit schön erhaltenen Blindprägungen gebunden. Die Stabilität des Buches wird durch zwei noch funktionsfähige Riemenschließen gewährleistet. An allen drei Schnittseiten finden sich Rest einer blauen Färbelung. Auf dem Rücken ist noch in Resten eine Aufschrift zu erkennen, die als „Qadragesima[les] Dalasco“ entziffert werden könnte. Auf dem Titelblatt der ersten Predigtreihe ist als Besitzvermerk „Ad conv: Rattenberg.“ zu lesen. Dies dürfte sich wohl auf das Rattenberger Augustinereremitenkloster beziehen, das am Beginn des 19. Jahrhunderts von den Serviten übernommen wurde. Die gesamte Bibliothek dieses Klosters befindet sich heute als Depositum und Teil der Salzburger Diözesanbibliothek (DBS) im AES. Diese Handschrift wird als Teil der Handschriftensammlung der DBS in unsere Kataloge eingetragen und so weit als möglich in all ihren Teilen bearbeitet werden. Besonders die nähere Identifikation der einzelnen Prediger und des einzig genannten Schreibers Franz Sengmillner wird auch einige neue Beiträge für unsere Personendatenbank www.res.icar-us.eu liefern.

Quelle: http://aes.hypotheses.org/47

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Kriegserklärungen im 17. Jahrhundert

Irgendwie fing der Krieg an und breitete sich immer weiter aus. Zwar gilt der berühmte Fenstersturz von 1618 in Prag als Auslöser für die Konflikte, die wir dann unter dem Begriff des Dreißigjährigen Kriegs zusammenfassen. Doch einen „regulären“ Beginn des Kriegs, will heißen: eine eigentliche Kriegserklärung, gab es nicht, konnte es angesichts der Konfliktparteien und unterschiedlichen Interventionsmuster mit ihren jeweiligen Legitimationsstrategien auch nicht so einfach geben. Nun hat vor einigen Jahren Bernd Klesmann zum Problem der Kriegserklärungen eine Studie vorgelegt.

Unter dem Titel „Bellum solemne“ untersucht er in seinem Buch Kriegserklärungen im 17. Jahrhundert. Das Augenmerk der Untersuchung liegt dabei auf den Jahrzehnten nach dem Dreißigjährigen Krieg; vor allem die ludovizianischen Kriege stehen im Mittelpunkt. Dazu geht Klesmann auch auf das Phänomen der Reichsacht ein, ein zentrales Instrument der Reichsgerichtsbarkeit bei reichsinternen Konflikten, das bekanntermaßen gerade in der Zeit des Dreißigjährigen Kriegs von großer Bedeutung war. Und auch den Weg in den Dreißigjährigen Krieg, wie er sich seit 1618 entwickelte, zeichnet er nach (138 ff.). Ansonsten gibt es noch mit der französischen Kriegserklärung aus dem Jahr 1635 einen Fall, der sich auf die Zeit des Dreißigjährigen Kriegs bezieht. Doch ist dies alles nicht ein bißchen wenig für einen Beitrag im Rahmen des dk-blogs?

Wenn man tatsächlich allein die Seiten zusammenzählt, die strikt auf Phänomene aus der Zeit zwischen 1618 und 1648 bezogen sind, mag man enttäuscht sein. Doch dies erscheint mir zu bösartig, und vor allem wird man der Anlage des Buches nicht gerecht. Denn es ist eben charakteristisch für diese Studie, daß sie weder erst um 1618 beginnt noch – was ohnehin viel häufiger passiert – mit dem Stichjahr 1648 aufhört. Vielmehr umfaßt Klesmanns Ansatz das gesamte Jahrhundert und führt argumentative Linien über mehrere Jahrzehnte zusammen. Das Buch bringt einen dazu, diesen zeitlich erweiterten Kontext ernst zu nehmen und – aus der Sicht des am Dreißigjährigen Krieg Interessierten – eben auch die Entwicklung der späteren Jahrzehnte einzubeziehen. Genau in diesem Ansatz, die Zäsur von 1648 zu ignorieren, liegt auch ein Gewinn in dieser Studie.

Darüber hinaus können manche Interpretationen, die an Beispielen der zweiten Jahrhunderthälfte ausgeführt werden, sicherlich auch auf Verhältnisse in der Phase des Dreißigjährigen Kriegs angewendet werden. So dürften sich Stichworte wie die „Ehre des Staates“ und Formen der Ritualisierung in diesen Konfliktverläufen (S. 273 ff.) genauso wie Aspekte der rhetorischen Gestaltung (3. Kapitel) anhand von Material aus früheren Jahrzehnten exemplifizieren lassen. Um den Gedanken abschließend noch einmal aufzugreifen: Die magische Schwelle von 1648 zu überschreiten und die weitere Entwicklung miteinzubeziehen, kann man bei Bernd Klesmann lernen. Und wer sich dann noch für die davorliegende Entwicklung interessiert, kann nun auf die jüngst erschienene Habilitationsschrift von Anuschka Tischer zurückgreifen („Offizielle Kriegsbegründungen in der Frühen Neuzeit: Herrscherkommunikation in Europa zwischen Souveränität und korporativem Selbstverständnis“).

Quelle: http://dkblog.hypotheses.org/225

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Soziologischer Wochenrückblick im Zeitraum 15.-31. Mai 2013

Ihr habt abgestimmt: auf Facebook entschied sich die Mehrheit von euch für “Krisen und Umbrüche: Wie wandelt sich unsere Gesellschaft?” als Thema unseres übernächsten Magazins. Vielen Dank für die Teilnahme! Auf unserem Blog gibt es einen neuen Artikel von Susanne Weiß … Weiterlesen

Quelle: http://soziologieblog.hypotheses.org/4990

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Autorität und Expertise – Teil 2 –

Dieser Beitrag von Nicolas Cauet ist der zweite Teil einer Serie, die hier angefangen wurde.

2. Objektive Kriterien oder Machtwort der Administratoren? Wie wird man als Autor relevant, wie kann man sich an die angegebenen Richtlinien orientieren?

Wenn man im Internet nach Kritik über die freie Enzyklopädie sucht, stößt man oft auf solche Argumente:

„Was als Standpunkt akzeptiert und als Wissen anerkannt wird, ist immer auch eine Machtfrage. Wikipedia verschleiert diese Machtfrage hinter dem Ideal des neutralen Standpunktes als Nebelkerze.“ (Wikimannia)

a ) Die Admins

Hinter der Frage nach der Zitierbarkeit und nach der Zuverlässigkeit versteckt sich also die Frage der Macht in der Enzyklopädie. Die Admins sind diejenigen, welche die Macht ausüben. Sie werden wie folgt definiert:

„Administratoren (kurz Admins) sind Benutzer, die über zusätzliche Werkzeuge verfügen, mit denen bestimmte Verwaltungsaufgaben vorgenommen werden können. Dazu gehört zum Beispiel das Löschen von Seiten oder das Sperren von Benutzern. Neben der technischen Berechtigung treten Administratoren auch als entscheidende Instanz auf verschiedenen Projektseiten wie den Löschdiskussionen und der Vandalismusmeldung auf. Benutzer werden zu Administratoren, indem sie eine Kandidatur, erfolgreich abschließen“

„Sind sie erst einmal im Amt, schalten und walten sie relativ frei, jedoch unter mehr oder minder deutlicher Berücksichtigung eines informellen Admin-Ehrenkodex’, der dem Missbrauch der erweiterten Rechte zur Durchsetzung persönlicher Interessen vorbeugen soll.“ Aus WK:Machtstruktur

b) Objektive Kriterien

Damit ihnen keine Willkür vorgeworfen wird, orientieren sie sich an Richtlinien, die jeder in der Enzyklopädie nachschlagen kann und sollte. In dieser Hinsicht ist es interessant, die sogenannten Relevanzkriterien der Enzyklopädie genauer zu betrachten. Man kann dies am Beispiel von literarischen Einzelwerken machen:

“Literarische Einzelwerke gelten als relevant, wenn bestimmte Bedingungen erfüllt sind. Dass die jeweiligen Bedingungen erfüllt sind, muss aus dem Artikel klar hervorgehen und durch Quellenangaben belegt werden. Die Bedingungen sind im Einzelnen:

1. Die folgenden beiden Kriterien sind erfüllt:

▪    der Autor des Werks gilt als relevant nach den geltenden RK (entfällt bei anonymen Werken);

▪    das Werk (oder eine moderne Ausgabe des Werks) ist in einem normalen Verlag erschienen, nicht im Eigenverlag oder als Book-on-Demand

2. Zudem ist mindestens eines der folgenden Kriterien erfüllt:

▪    zu dem Werk liegen mindestens zwei ausführliche Rezensionen in renommierten Feuilletons, Literaturzeitschriften oder Magazinen mit anerkanntem Literaturteil vor;

▪    zu dem Werk liegt mindestens eine wissenschaftliche Sekundärquelle vor;

▪    das Werk ist als „Klassiker“, als regelmäßige Schullektüre oder durch Abdruck in mehreren Schulbüchern kanonisiert;

▪    das Werk repräsentiert eine wesentliche Etappe, eine neue Entwicklung oder einen besonderen Publikumserfolg im Gesamtwerk des Autors

▪  das Werk ist für die Herausbildung, Bekanntheit oder Weiterentwicklung einer bestimmten Epoche, eines Genres oder eines Stils bedeutsam.

Zugegebenermassen sind diese Kriterien schon gut durchdacht. Dennoch fallen dabei auch strittige Punkte auf:

  • Was ist ein “normaler” Verlag?
  • Was ist eine Zeitschrift mit anerkanntem Literatururteil?

Die Gattungsgrenzen können in diesem Gebiet sehr unscharf sein. Besonders interessant ist dabei, dass diese Kriterien zwar eine umfangreiche Menge von Werken ein-, dabei aber auch unzählbare andere Werke ausschließen.

Relevanzkriterien sind im Laufe der Zeit entstanden, wie es auch im Kapitel relevante Autoren zum Vorschein kommt:

“Schriftsteller bzw. Autoren gelten als relevant,

▪    wenn sich besondere Bedeutung oder Bekanntheit etwa durch einen Eintrag in einem anerkannten, redaktionell betreuten Nachschlagewerk (Enzyklopädie, Lexikon etc.) oder einer vergleichbar renommierten Quelle wie dem Perlentaucher nachweisen lässt,

▪    wenn sie einen renommierten Literaturpreis gewonnen haben,

▪    wenn sie ein Standardwerk verfasst haben, das in reputablen externen Quellen als solches bezeichnet wird oder

▪    wenn sie mindestens zwei Werke der Belletristik/Schönen Literatur oder vier nicht-belletristische Bücher (z. B. Sachbücher) als Hauptautoren bei einem regulären Verlag veröffentlicht haben.
 Bücher, die im Selbst-, Pseudo- oder Druckkostenzuschuss-Verlag erschienen sind, werden hierbei ausnahmsweise mitgezählt, wenn sich angemessene Verbreitung[1] in wissenschaftlichen Bibliotheken nachweisen lässt, sie in besonderer Weise öffentlich wahrgenommen werden (z. B. Rezensionen in renommierten überregionalen Zeitungen) oder es sich um einen anerkannten wissenschaftlichen Verlag mit redaktioneller Auswahl handelt.”

Man kann also einen biographischen Artikel in Wikipedia bekommen entweder, wenn man einen „renommierten“ Literaturpreis gewonnen hat oder ein Werk mit „respektablen“ Quellen bzw. „mindestens zwei Werke“ verfasst hat. Interessant ist die vage begründete Abgabe der Entscheidung an Tertiärquellen : Die Definition von “renommiert angegebenen” Preisen und für “respektabel gehaltene” Quellen lässt einen breiten Raum zur Interpretation frei, und damit auch zur möglichen Willkür eines Admins.

c) Löschwahn?

Viele Wikipedianer haben bereits die unangenehme Erfahrung gemacht, dass ihre Artikel ohne gute Begründung gelöscht wurde:

„Ich selbst habe oft genug erfahren müssen, dass nach langer, harter Arbeit die ganze Mühe einfach mit {{Löschen|~~~~}} kommentiert wird. Des Weiteren kommt es leider viel zu häufig vor, dass größere Änderungen direkt reverted werden, statt einzelne kleine Fehler auszubessern”

“Das Schlimmste sind die oft völlig bescheuerten Löschbegründungen: „Unnötig“, „könnte in Zukunft nicht mehr so wichtig sein“, „irrelevant“, „Blödsinn“ und die unzähligen Kunstwörter, wie „Bapperlwahn“. (111Alleskönner)

Auf den ersten Blick scheint die Situation also schwierig zu sein, und die Admins nicht selten gemein und unfair.

d) Was haben die Admins dazu zu sagen?

In Gedanken eines Löschadmins kritisiert der Administrator Magiers die Selbstbezogenheit vieler Wikipedianer:

“Wenn man regelmäßig in der Löschdiskussion unterwegs ist, beschleicht einen das Gefühl, dass 95% unserer Artikel von Selbstdarstellern geschrieben sind („Ich“, „Meine Firma“, „Mein Verein“, „Meine Garagenband“, „Meine Theorie, die ich außerhalb Wikipedia nirgends unterbringen kann“).”

Zudem macht er einen interessanten Unterschied zwischen Exklusionismus und Inklusionismus. Unter ersterem Begriff wird die Löschung unangemessener Inhalte verstanden, und unter letzerem der Erhalt des Artikels. Dieser Admin versteht sich als Vertreter des Inklusionexklusionismus, d.h. dass er beide Haltungen je nach Situation befürtwortet.

In einem wichtigen Artikel wolle er „die Unterscheidung zwischen Wichtigem und Unwichtigem (behalten) und das Herauswerfen von Belanglosem (bevorzugen).“ Aber er habe kein Problem damit, wenn eifrige Wikipedianer ihre Zeit damit verbringen, jede neue Simsons Folge in einem neuen Artikel zusammenzufassen, denn diese Artikel würden ohnehin nur eine geringe Leserschaft haben. Er ist auch der Auffassung, dass Wikipedia „kein Verweisladen“ sei. In einem wichtigen Artikel (z.B. Romeo und Julia von Shakespeare) sei es unnötig, auf zweitrangige Artikel zu verweisen (z.B. ein Pop-Lied, dessen Thema Romeo und Julia ist).

Am Ende schränkt er seinen Handlungsspielraum ein:

 „Trotz des Gesagten, ist die Aufgabe des Admins natürlich nicht die eigenständige Relevanzbetrachtung zu einem Thema, sondern die Umsetzung des Willens der Gemeinschaft, ausgedrückt im Konsens der Relevanzkriterien, sowie der Argumente der jeweiligen Löschdiskussion. Doch wie so oft erschöpft sich die Arbeit nicht im Inhalt, sondern schließt auch die Form ein.“

Mautpretter, ein Wikipedianer, der Admin geworden ist und daher beide Seiten der Wikipediawelt erleben durfte, empört sich gegen den Anspruch auf einen neutralen Standpunkt:

“Zum “neutralen Standpunkt”: Wie auch schon andere festgestellt haben, handelt es sich dabei um ein Paradox. “Points of view” (der englische Ausdruck dafür, der besser als “Perspektive” übersetzt würde) können selbstverständlich nur von Subjekten eingenommen werden und sind deshalb prinzipiell subjektiv und interessiert. Eine denkbare Interpretation wäre, dass beim Bearbeiter möglichst wenig persönliches Interesse am Gegenstand des Artikels vorhanden sein sollte; dies führt jedoch zu absurden Konsequenzen und schlechten Artikeln.”

Statt sich an einem künstlichen Neutralen Standpunkt festzuklammern, sollte Wikipedia ein Ort der Pluralität der Interpretationen sein:

An der tatsächlichen Artikelarbeit lässt sich aber eine brauchbare (und innovative) Interpretation entwickeln: “Neutraler Standpunkt” kann einen point of view bezeichnen, der durch Objektivität geprägt ist – in dem Sinn, dass Interessierte verschiedener points of view von dem Artikel etwas haben. Die Zone der Objektivität (und damit allgemeinen Brauchbarkeit) soll so groß wie möglich sein. Dafür gibt es in Wikipedia einige sehr schöne Beispiele (etwa Rudi Dutschke). Diese zeigen, dass nicht ein Weniger an subjektivem Interesse einen guten, “neutralen” Artikel schafft, sondern ein Mehr an subjektivem Engagement: Durch dieses kann individuell und kollektiv ein Raum der Objektivität geschaffen werden, der vorher nicht existiert hat. Durch “Entfernung” von POV kann also Objektivität grundsätzlich nicht entstehen.

Zum Schluss kann man sagen, dass trotz gut durchdachter Kriterien die Autorität der Admins immer noch problematisch bleibt und möglicherweise zu Konflikten führen kann. Die Macht der Administratoren soll dem Chaos des Internets und der freien Beiträge entgegenwirken. Sie neigt aber dazu, die Entwicklung der Enzyklopädie zu gefährden, indem sie die Kreativität und den Enthusiasmus der Wikipedianer zu sehr verdrängt und einzwängt. Eine bessere Ausbildung der Administratoren zu ihren Rolle und Pflichten und vielleicht eine strengere Kontrolle ihrer Löschverfahren könnte die Lage verbessern. Die Einführung einer Bewertung der Administratoren durch Wikipedianer könnte dazu verhelfen, einen ausgeglicheneren Austausch zu fördern. Es ist auf jeden Fall Raum zur Verbesserung des Umgangs zwischen Wikipedianer und Admins da.

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Der dritte Teil dieser Serie wird sich mit dem Vorfahren im Falle eines Konflikts befassen.

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Quelle: http://wppluslw.hypotheses.org/287

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Googledoodle for International Archives Day 2013?

archivesdoodle
WE REALLY WANT GOOGLE TO PICK UP ON THIS – SO PLEASE HELP US PROMOTE THE IDEA!

In 2011 and 2012 we celebrated International Archives Day on June 9th. by doing an #AskArchivists / #FollowAnArchive event on Twitter. We would like to do it again – if archives and archivists support the idea.

But this year we would like the day to be extra special. During the past years, Google has used variations on their logo to draw attention to people and causes worth noticing. Among the doodles are little works of art highlighting things as different as New Year, Chaplins Birthday, Opening of the Arcropolis Museum, Singapore Art Festival and National Library Week. But it seems, that there has never been an doodle on archives.

So why should archives deserve a place on the worlds largest search engine?

1) Archives contain the unique written memories of the world. Our collections are diverse, and contain records on paper, electronic records, sound, pictures and much more. But regardless of form, they are a vital part of our heritage.

2) Archives play a vital part in democracy. Without archives, the world would face immense  difficulties in reconstructing our political, economic, social, national, local – or personal – history with a sufficient credibility.

3) Archives are for all. When conducted in accordance with the ICA code of ethics, archives ensure, that our history becomes diverse and open to a variety of interpretations:  “Archivists should promote the widest possible access to archival material and provide an impartial service to all users.”

4) Archives provide resource for academic researchers and students, but they are also a fountain knowledge for all, and support livelong, self-directed learning. Whether driven by interest in local history, genealogy or other topics, archives are a place, where thousands of non-scholars gain new knowledge, skills and competences.

5) Google itself is in many ways related to archives, providing access to informations and helping people search and find what they need to grow in knowledge.

So please Google, help us celebrate the content and mission of archives all over the world on June 9th which is the International Archives Day.

HELP GOOGLE WITH IDEAS FOR AN #ARCHIVESDOODLE

We all can help Google with ideas for an archives doodle!

What do you think are specific ingredients for an archives doodle? Draw them, make a picture of them or write it down.

Tweet your ideas from June 1 untill June 8 with the hashtag #archivesdoodle.

WILL INTERNATIONAL ARCHIVES DAY ON JUNE 9 BE CELEBRATED WITH A GOOGLEDOODLE?

Yes! We think archives earn a googledoodle on International Archives Day, June 9!
archivesdoodle2Links:

1) http://askarchivists.wordpress.com/2013/06/01/googledoodle-for-international-archives-day-2013/

2) http://followanarchive.blogspot.de/2013/06/googledoodle-for-international-archives.html

Thanks to Anneke and Charlotte for this project!

Quelle: http://archive20.hypotheses.org/665

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Glossen an vielen Stellen

In diesem Beitrag geht es um die genaue Beobachtung der Textlage im Utrechter Handschriftenfragment der Digesten. Faktisch handelt es sich um mehrere Textlagen: der Digestentext, die Zeichen zu den Glossen, die Glossen am Rande und Interlinearglossen. Diese kleine Zeichen verweisen bei genauen Textstellen zu den darauf betreffenden Glossen. Das Beispiel einer einzigen Glosse zeigt schon viele Aspekte der mehrfachen Textlage.

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Quelle: http://glossae.hypotheses.org/84

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