EHRI Newsletters Mai 2013

Der EHRI Newsletter Mai 2013 ist online mit folgenden Themen:

  1. Nationale Reports von Archiven mit Holocaust-relevanter Dokumentation.
  2. EHRI Konsortiumstreffen in Amsterdam.
  3. Workshop: Griechische Archive mit Holocaust-relevanter Dokumentation.
  4. Besuch von Präsident Obama bei Yad Vashem (Jerusalem).
  5. Call for Papers: Simon Wiesenthal Conference 2013.

EHRI Newsletters (English)

Quelle: http://dhd-blog.org/?p=1669

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Der 27. Januar als weltweiter Holocaust-Gedenktag

Bild: Angelika Schoder
Seit 1996 ist der “Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus” in Deutschland ein gesetzlich verankerter Gedenktag und damit fester Bestandteil der nationalen Erinnerungskultur. Im Jahr 2005 führten Beschlüsse des EU-Parlaments sowie der UN-Generalversammlung dazu, dass der 27. Januar auch zu einem internationalen Gedenktag avancierte.

Anlässlich des 60. Jahrestages der Befreiung des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau durch die Rote Armee im Jahr 1945 verabschiedete das Parlament der Europäischen Union (EU) einen Beschluss zum Holocaust-Gedenken. Mit dieser „Entschließung zum Gedenken an den Holocaust sowie zu Antisemitismus und Rassismus“ vom 27. Januar 2005 wurden alle EU-Mitgliedsstaaten dazu aufgefordert,

„jegliche Form von Intoleranz und Aufwiegelung zum Rassenhass sowie alle Belästigungen und rassistischen Gewalttaten zu verurteilen […] insbesondere alle Gewalttaten, die aus Hass oder Intoleranz gegenüber anderen Religionen oder Rassen begangen werden“.[1]

Eine Auseinandersetzung mit den nationalsozialistischen Verbrechen, die in der Zeit zwischen 1933 und 1945 verübt wurden, sollte dazu beitragen, die Gesellschaft gegenüber Intoleranz, Diskriminierung und Rassismus zu sensibilisieren. Aus diesem Grund sei es sinnvoll, so das EU-Parlament, dass insbesondere junge Menschen zur Auseinandersetzung mit der Geschichte des Holocaust angeregt werden. Als wichtiger Beitrag hierzu wurde, neben der Errichtung von Gedenk- und Bildungsorten und der Thematisierung des Holocaust in schulischen Lehrplänen, die Begehung des 27. Januar als „europäischem Holocaustgedenktag“ angesehen.

Dass der Holocaust auch außerhalb Europas zu einem moralischen Maßstab avancierte, welcher nationale historische Erinnerungskulturen hinter sich lässt, um gemeinsame transnationale Bezüge herzustellen, zeigte sich am 1. November 2005, als die Generalversammlung der Vereinten Nationen (United Nations – UN) mit der Verabschiedung der Resolution 60/7 den Gedenktag des 27. Januar zum „International Day of Commemoration in Memory of the Victims of the Holocaust” erklärte.[2]

Die Resolution war nicht nur darauf ausgerichtet, das Datum des 27. Januar als weltweiten Holocaust-Gedenktag zu proklamieren, sondern sollte in den UN-Mitgliedsstaaten auch die Entwicklung pädagogischer Programme anregen, welche die Erinnerung an die Verbrechen des Nationalsozialismus für folgende Generation wach halten und gleichzeitig auch auf gegenwärtige Verbrechen gegen die Menschlichkeit verweisen sollten. Darüber hinaus sprach sich die UN in der Resolution ausdrücklich gegen die Leugnung des Holocaust sowie gegen jede Form von Intoleranz, Volksverhetzung und Bedrohung oder Gewalt gegenüber Personen oder ethnischen bzw. religiösen Gruppen aus.[3]

Der Resolutionsentwurf, welcher durch den israelischen Repräsentanten Dan Gillerman vorgebracht worden war, wurde von 104 Mitgliedsstaaten der UN, vom Generalsekretär, vom Unter-Generalsekretär für Kommunikation und Öffentliche Information sowie vom Präsidenten der Generalversammlung unterstützt. Das weit über die europäischen Grenzen hinaus reichende Interesse an der Thematik zeigte sich auch darin, dass Repräsentanten aus allen fünf Kontinenten zu den Unterstützern des Resolutionsentwurfs zählten – unter ihnen auch Länder, die selbst unter den Folgen von Bürgerkriegen oder Völkermord leiden oder sich bis heute mit Vorwürfen zur Verletzung von Menschenrechten auseinandersetzen müssen, wie Liberia, Sierra Leone oder Uganda.[4]

Sowohl der Beschluss des EU-Parlaments als auch die UN-Resolution zum Holocaust-Gedenken können als Versuche gesehen werden, eine Holocaust-orientierte Erinnerungskultur auf transnationaler Ebene zu etablieren, in der nationalspezifische Gedenkmechanismen und länderübergreifende Interpretationsschemata zusammenwirken. Die nationalsozialistischen Verbrechen werden schließlich heute nicht mehr nur von den „Tätern“ und „Opfern“ erinnert, sondern zunehmend auch von Nationen, welche nicht direkt von den Ereignissen betroffen waren. Der Holocaust scheint somit über seinen (west-)europäischen Bezug hinaus zu einem allgemeingültigen moralischen Bezugspunkt geworden zu sein.

Bei dem Blog-Beitrag handelt es sich um einen Auszug aus meinem Essay, der im Mai 2012 im Themenportal Europäische Geschichte erschien. (Angelika Schoder: Die Globalisierung des Holocaust-Gedenkens. Die UN-Resolution 60/7 (2005). In: Themenportal Europäische Geschichte, 2012.)

[1] Europäisches Parlament: Entschließung des Europäischen Parlaments zum Gedenken an den Holocaust sowie zu Antisemitismus und Rassismus: P6_TA[2005]0018, 27. Januar 2005, Abschnitt F.2.

[2] Vereinte Nationen: Resolutionen und Beschlüsse der sechzigsten Tagung der Generalversammlung, Band I: Resolutionen 13. September – 23. Dezember 2005. Offizielles Protokoll, Sechzigste Tagung, Beilage 49 [A/60/49], S. 34f.

[3] Dazu auch: United Nations: Resolution Adopted by the General Assembly, 61/255, Holocaust Denial. 85th Plenary Meeting, 26 January 2007.

[4] United Nations General Assembly [GA/10413]: Sixtieth General Assembly Plenary 42nd Meeting, 1.11.2005. General Assembly Decides To Designate 27 January As Annual International Day Of Commemoration To Honour Holocaust Victims.

Foto: Candles II (Angelika Schoder, 2013)

Quelle: http://musermeku.hypotheses.org/24

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Aktuelle Problematiken bei der Globalisierung von Polizeiarbeit

In der globalisierten Moderne werden Probleme wie Terrorismus, Krieg, organisierte Kriminalität, Umwelt- und Wirtschaftsdelikte zu grenzübergreifenden Gefahren und machen daher eine internationale Zusammenarbeit im Polizeiwesen zunehmend erforderlich. Dass in der Umsetzung von internationaler Polizeiarbeit zahlreiche Schwierigkeiten, auch ethischer Art auftreten, ist nicht von der Hand zu weisen. Bereits bei oberflächlicher Betrachtung der Einsätze in  Afghanistan-Einsatz oder  im Kosovo wird auf der Suche nach auftretenden Schwierigkeiten schnell fündig. Im kriminalpolizeilichen Bereich bestehen mit Interpol und Europol bereits feste zwischenstaatliche Institutionen – in ihren Aufgabenbereich fallen u. a. die Bearbeitung internationaler Strafsachen, die Koordination internationaler Fahndungen oder die operative und strategische Analyse von Akten internationaler Kriminalität. Interpol und Europol haben allerdings keine Exekutivbefugnisse.1

Darüber hinaus führen insbesondere die Vereinten Nationen (UN) eine Vielzahl weiterer internationaler Polizeieinsätze durch. In der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts setzte ein Wandel der Kriegsformen ein. Der Abnahme zwischenstaatlicher Kriege steht eine Zunahme innerstaatlicher, bürgerkriegsähnlicher Konflikte mit oft komplexen Ursachen gegenüber. Entsprechend hat die Zahl von UN-Einsätzen zur Friedenskonsolidierung („Peacebuilding“) zugenommen. Nach der Entmilitarisierung der Konfliktparteien sind dabei auch zivile Experten für humanitäre Hilfe und den (Wieder-)Aufbau eines funktionierenden Staatsapparates gefragt. In diesem Rahmen haben die von den UN entsandten Polizeikräfte – je nach Reichweite des UN-Mandats – meist folgende Aufgaben: Beobachtung, Überwachung, Beratung und Ausbildung der örtlichen Polizei sowie die Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit. Da die Polizei die Verkörperung des staatlichen Gewaltmonopols und zugleich Exekutivorgan zur Durchsetzung des Rechtsstaats ist, gilt sie als wichtiges Bindeglied zwischen militärischer Sicherheit und zivilem Staatsaufbau.2

Im Jahre 2011 unterstützte die Bundesrepublik Deutschland beispielsweise die UN und die EU in neun Missionen mit insgesamt mehr als 300 Polizisten. Eine dieser Missionen war in 2011 der Einsatz in Afghanistan. Die deutschen Polizeikräfte haben hier keine exekutiven Befugnisse. Das Ziel ist vielmehr der Aufbau effektiver Polizeistrukturen unter afghanischer Eigenverantwortung. Dies soll durch Ausbildung, Betreuung, Beobachtung und Beratung afghanischer Polizisten erreicht werden. Dabei zeigt sich jedoch, dass in Westeuropa funktionierende Konzepte nicht ohne Weiteres auf andere Kulturen übertragen werden können. Tatsächlich ist die afghanische Polizei für die einheimische Bevölkerung eher eine Quelle der Angst als ein Garant für Sicherheit. Zudem bestehen Probleme bei der Personalrekrutierung und der Materialausstattung, bei der Kooperation mit der afghanischen Regierung und der Einigung mit den anderen UN-Nationen über die inhaltliche Gestaltung der Sicherheitsreform. Letzteres liegt auch daran, dass verschiedene Nationen für die unterschiedlichen Bereiche des Sicherheitssektors wie Polizei (Deutschland), Militär (USA), Justiz (Italien) oder Demobilisierung (Japan) verantwortlich sind, sodass kein einheitliches Reformkonzept besteht.3

Eine weitere internationale Polizeimission mit deutscher Beteiligung findet im Kosovo statt, wo ebenfalls u. a. ein Polizeiwesen aufgebaut werden soll. An dieser Aufgabe sind hier allerdings 44 Nationen beteiligt. Neben Kommunikations- und Koordinationsschwierigkeiten bestehen dabei auch unterschiedliche Auffassungen über das Selbstverständnis der Polizei. Vertrauensverlust der Bevölkerung in die staatlichen Institutionen, Korruption, steigende Kriminalitätsraten und Etablierung von Mafiabanden sind die Folge.4

„Culture clash“ beim sogenannten Wiederaufbau

Intervenieren westliche Mächte im Ausland und versuchen anschließend den Staat, in dem interveniert wurde, neu aufzubauen, dann legen sie dabei meist ihr eigenes Verständnis von Fortschritt und Entwicklung als Maßstab für das Gelingen des Wiederaufbaus an. Freie Marktwirtschaft, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie setzen sie als anzustrebende Ziele. Die Herstellung von Sicherheit gilt dabei als Voraussetzung zum Erreichen dieser Ziele. Um Sicherheit herzustellen, werden Herrschaftsinstitutionen wie die Polizei etabliert, die über die Legalität und Illegalität von Verhaltensweisen urteilen. In nicht-westlichen Kulturen sind aber teilweise ganz andere Werte und Normen verankert. Das westliche Verständnis einer demokratisch legitimierten, „für Recht und Ordnung sorgenden“ Polizei setzt sich daher nur schwer durch. Eine stärkere Einbeziehung der einheimischen Kultur und lokaler Akteure wäre nötig sowie ein intensives Vertrautmachen mit den sozialen, ethnischen und geschichtlichen Hintergründen einer Gesellschaft und Region, um bessere Zugänge zu den Menschen zu finden. Allerdings kann man als von der UN gesandter Polizist an die Grenzen seines Selbstverständnisses geraten, wenn die einheimische Kultur soweit berücksichtigt wird, dass von Rechtsstaatlichkeit nicht mehr gesprochen werden kann.

Im Bereich des Polizeiwesens ist aber festzuhalten, dass die Demokratisierung des Staates auch gar nicht das Erfolgskriterium ist. Vielmehr soll die Polizei für eine Stabilisierung und Befriedung der Region sorgen, für die Herstellung öffentlicher Sicherheit. Welches Staatsverständnis dabei durchgesetzt werden soll, ist auf einer anderen Ebene zu klären.

Die Absicht, die eigenen Werte und Normen in fremden Kulturen zu etablieren, führt zu der Frage, ob es sich bei solchen Interventionen um Neo-Kolonialismus handelt. Insbesondere beim Afghanistan-Einsatz ist diese Frage zu stellen, da hier im Gegensatz zu vielen anderen Missionen nicht die Intention war, Menschenrechtsverletzungen durch den Staat an der Bevölkerung zu unterbinden. Vielmehr war Terrorprävention die Rechtfertigung. Afghanistan wurde als Unterschlupf für Terroristen und somit als Gefahrenquelle betrachtet. Die Intervention sollte also für mehr Sicherheit für die westliche Welt sorgen. Während Kolonialisierungen aber in aller Regel wirtschaftlich intendiert und auf Dauer angelegt sind, ist die Intervention in Afghanistan ihrer Natur nach sicherheitspräventiv und vorläufig. Kolonialistisch ist sie somit nicht, imperial dagegen allemal.

Das zunehmende Zusammenwachsen Europas lässt vermuten, dass es irgendwann eine EU-weite Exekutive geben wird.

Geltung ohne Bedeutung?

In vielen Diskussionen wird immer wieder der Kritikpunkt genannt, dass „westliche” Traditionen und Normen nicht einfach zu implementieren wären. Dass heißt, es reicht nicht, die Polizei im Ausland so auszubilden, wie man es „zu Hause“ tut. Man muss sich mit den Werten und Normen des Landes auseinandersetzen. Ansonsten droht die Niederlage des eigenen Handelns.

Der italienische Philosoph und Politikwissenschaftler Giorgio Agamben schildert einen ähnlichen Fall, in dem der Staat versucht ein Regelsystem aufrechtzuerhalten, das kulturell vielleicht nicht überholt ist, aber kein Zusammenleben zwischen Gesetz und Mensch ermöglicht und damit ein bedeutungsloses Regelsystem schafft. Agamben beschreibt es folgendermaßen:

„Was ist ein Staat, der die Geschichte überlebt, eine staatliche Souveränität, die sich über das Erreichen des historischen telos hinaus erhält, wenn nicht ein Gesetz, das gilt, ohne zu bedeuten?”5

In Diskussionen, in denen es um Polizeiaufgabenhilfe im Ausland geht, fallen oftmals Begriffe wie „Weltpolizei“ oder die „Indoktrination“ westlicher Werte. Dabei wird kritisiert, dass westliche Werte als Naturrechte dargestellt werden. Dabei seien Werte wie Freiheit und Demokratie nur Erfindungen, und auch Menschenrechte wären nur aus der westlichen Philosophie entstanden, aber würden keine objektiven ‚Ur-Werte‘ darstellen; und so wie auch McDonalds eine Erfindung ist, haben sie einen gewissen Erfolg im Ausland, aber sind sie nicht imstande Traditionen zu brechen.

Franz Kafka beschreibt in seinem Buch “Der Process” die Beziehung mit dem Gesetz als ein „Nichts der Offenbarung”.  Darin beschreibt er einen Stand, in dem das Gesetz sich noch behauptet, d.h., dass das Gesetz gilt, aber nichts bedeutet. Auch bei Auslandseinsätzen der Polizei, insbesondere wenn es um den Aufbau einer Polizei bzw. eines Rechtsstaates geht, trifft dieses zu – dem Recht obliegt eine Geltung aber keine Bedeutung.

In seinem Werk „Homo Sacer“ stellt Giorgio Agamben das Gesetz vor, das keine Bedeutung hat. Er bezieht sich auch auf Kafka, auf den Mann „Vor dem Gesetz”, der das offene Tor versucht zu öffnen. So sei auch das Gesetz ein offenes Tor, welches zu öffnen versucht wird. Aber was offen ist, kann nicht geöffnet werden. Daraus ergibt sich nach Agamben ein aktuelles Problem: „Alle Gesellschaften und Kulturen (…) sind heute in eine Krise der Legitimation geraten, in der das Gesetz (…) als reines ‘Nichts der Offenbarung’ gilt.6

Auch Immanuel Kant spricht von der „bloßen Form” des Gesetzes, also der alleinigen Geltung: „Nun bleibt von einem Gesetz, wenn man alle Materie, d.i. Jeden Gegenstand des Willens (als Bestimmungsgrund) davon absondert, nichts übrig, als die bloße Form einer allgemeinen Gesetzgebung.”7

Aus der Bedeutung des Gesetzes heraus entsteht also auch die  Vorrausetzung für die Legitimation und die Sinnhaftigkeit einer staatlichen Handlung. In Afghanistan scheint das „westliche“ Gesetz keine Bedeutung zu haben. Daraus ergibt sich für den Afghanistan-Einsatz die Fragestellung: Kann man mit der Bedeutungslosigkeit des Gesetzes das Scheitern in der Polizeiaufgabe in Afghanistan erklären?

Für die Ausbildung der Polizei in Afghanistan ist Deutschland seit 2002 als internationaler Chefausbilder zuständig. Die Aufgabenstellung der deutschen Polizeibeamten in Afghanistan definiert sich wie folgt:

„Neben der im ersten Schritt dringend benötigten Ausstattung in nahezu allen Bereichen polizeilicher Arbeit hat das Team vor allem die Aufgabe, bei der Reformierung der Ausbildung und Organisation der zukünftigen afghanischen Polizei sowie bei der Drogenbekämpfung als Berater für die jeweiligen afghanischen Verantwortungsträger zur Verfügung zu stehen.”8

Insgesamt wurde die Polizeiarbeit von der Polizei Nordrhein-Westfalens als positiv bewertet:

„Die afghanischen Kollegen seien zum ganz überwiegenden Teil durchaus gut qualifizierte Polizisten, die lediglich während der letzten 20 Jahre schlummern mussten [...). Vieles von dieser guten polizeilichen Ausbildung ist auch das Resultat ehemaliger enger Beziehungen zur Bundesrepublik Deutschland in den 60er und 70er Jahren sowie zur DDR zu Zeiten des kommunistischen Machteinflusses nach 1979. Wie gut diese damaligen Beziehungen gewesen sind, können wir noch heute in Gesprächen vor allem mit den älteren afghanischen Kollegen erfahren, die immer wieder von ihren Erlebnissen während dieser Zeit berichten, die bis zur kompletten Teilnahme an Ausbildungen des gehobenen und auch höheren Dienstes reichen.” 9

Allerdings zeichnen die Medien ein anderes Bild. Die Polizeiarbeit wird doch als „kläglich gescheitert" angesehen, „Die Regeln westlicher Zivilisationen seien außer Kraft"10 gesetzt worden und die „Schaffung eines Rechtsstaates in Afghanistan [sei] eine Illusion”.11  Deutschland habe sich in der Rolle des Ausbilders blamiert. „Zu viel Bürokratie, zu wenig Investitionen, dazu Lehrstoffe, die eher ins Schwabenland passen als nach Kabul”12,  und als „ausgebildet gilt dabei jeder, der mal ein Klassenzimmer gesehen hat und sei es für eine Woche.“ 13

Des Weiteren erreichen auch die Anwärter für die Polizeischule nicht das erforderliche Qualitätsniveau.  Die Auszubildenden seien weder „körperlich noch geistig” für den Polizeidienst geeignet und bewürben sich „meistens nur aus Not, nicht aus Überzeugung”.14  Zudem seien 90 Prozent Analphabeten und könnten sich nicht länger als 30 Minuten konzentrieren. Viele Unterrichtsstunden bestünden allein aus Übersetzungsarbeit. Insgesamt hätte sich „die auf acht Wochen reduzierte Ausbildung der Polizeianwärter nicht bewährt.” 15

Damit hätte Deutschland die afghanische Wirklichkeit nicht anerkannt und könne auch nicht davon ausgehen, dass die vorgelebten Normen oder Werten aus der westlichen Welt auf fruchtbaren Boden stoßen: „Wir erkennen die afghanische Wirklichkeit nicht an und deshalb werden wir dort scheitern”.16 Deswegen werde „das Land (…) niemals nach den Regeln westlicher Zivilisation funktionieren” können. 17
Hierbei ist deutlich zu sehen, dass die Gesetze, Normen und Überzeugungen der westlichen Welt keine Frucht in Afghanistan tragen. Allerdings ist es auch zu bezweifeln, dass niemand den Normen und Werten Bedeutung zumessen möchte. Sicherlich haben westliche Werte nicht den gleichen gesellschaftlichen Stand wie zum Beispiel in Europa, dennoch kann alleine die Bedeutungslosigkeit nicht das Problem der fehlenden Akzeptanz der Entwicklungsprogramme erklären.

Insgesamt zeichnet sich zwar ein fatales Bild der Polizeiausbildungshilfe in Afghanistan ab. Allerdings wäre es zu simpel, das nur auf eine Bedeutungslosigkeit der Gesetze für die afghanische Bevölkerung zu schieben. Denn auch wenn eine Implementierung der Gesetze und Ordnungen nicht immer einfach zu sein scheint, gewisse Tendenzen und Erfolge zeichnen sie ab – auch in Afghanistan. Aber die strukturellen Probleme machen auch eine erfolgreiche Polizeiarbeit zunichte.

Hierbei könnte man auch bei Johan Galtung anknüpfen, der strukturelle Gewalt als eine Form der Ungleichheit sieht.18 Also ungleiche Behandlung wie auch Verteilung von Einkommen, Bildungschancen und Lebenserwartungen oder auch das Wohlstandsgefälle zwischen der Ersten und der Dritten Welt. Zudem nehme man diese Ungleichheit nur unbewusst wahr – zu sehr ist man in „alten“ Traditionen und Werten gefangen – dennoch „lebt” man sie. Und auch wenn man bei solch einer Hilfe von Seiten der Deutschen nicht von Kolonialismus die Rede sein kann, ist dennoch nicht auszuschließen, dass die Afghanen sich diesem „Machtgefüge“ eigentlich nicht fügen wollen.

Insgesamt muss man feststellen, dass Gesetze keinen Sinn ergeben, wenn Strukturen nicht erschaffen werden, die den Gesetzen eine Bedeutung zumessen können. Ungebildete Menschen in acht Wochen zu gebildeten und voll ausgebildeten Menschen zu machen, ist schier unmöglich. Vor allem, wenn dabei die Hälfte der Zeit für Übersetzungen gebraucht wird und das Einkommen zu gering ist, um eine Familie zu ernähren. Eine Struktur zu schaffen, würde bedeuten, bei den Menschen vor Ort die Struktur zu verändern und Möglichkeiten zu schaffen, die eigene Lebenslage wahrzunehmen und zu verbessern. Das zeigt sich auch dort, wo diejenigen zur Polizei gehen, die keine andere Chance haben und nicht die, die vielleicht „etwas bewegen“ wollen. Das lässt zumeist großen Spielraum für Korruption, welches auch ein großes Problem bei der Polizei in Afghanistan darstellt. Insofern gelten nicht nur andere Normen und andere Traditionen. Sondern auch die Suche nach Lebensverbesserung durch zum Beispiel ökonomische Vorteile gilt auch für die Bewohner.

„Damit die alten Sitten nicht gleich wieder einreißen, bleiben deutsche Mentoren für zehn Monate vor Ort. Doch, so bisher die Erfahrung der Amerikaner, nach zwei Jahren ist die Hälfte der Polizeihelden wieder weg. Manche sterben im Einsatz; die meisten gehen zu Sicherheitsfirmen oder Warlords.”19 Und die „Norm” nach wirtschaftlichen Vorteilen ist in der westlichen Welt nicht anders.

Polizei auf dem Weg in die Souveränität?

Einen weiteren Kritikpunkt bei Polizeiinterventionen sieht Giorgio Agamben in der wachsenden Zahl von Interventionen, die als Polizeiaktionen „verkauft“ werden, dabei aber eigentlich militärische Missionen darstellen. Dabei, so Agamben, würde die Polizei eine Souveränität erlangen, die ihr eigentlich in der Demokratie nicht zustehe. Agamben bezieht sich darauf auf den Zweiten Golfkrieg, der 1990 anfing und dem das „unscheinbare Gewand einer ‘Polizeioperation’ gegeben“ wurde. Hierbei hätte es sich eigentlich um eine militärische Intervention gehandelt, die dann als Polizeioperation getarnt war. Diese Polizeioperationen haben nach Agamben eine schwerwiegende Konsequenz:

„Tatsache ist, dass die Polizei (…) vielleicht der Ort ist, an dem sich mit größter Deutlichkeit die Nähe, ja fast die konstitutive Vertauschung von Gewalt [violenza] und Recht entblößt, die die Figur des Souverän kennzeichnet.“20

Zudem würde die Polizei sich in einem Ausnahmezustand bewegen. Ihre Rolle ist also kein Regelfall. Der Ausnahmezustand wird vom Souverän ausgerufen, welches Agamben nach auch die Polizei ist, und diese kann des Weiteren die Gesetze aufheben. Dieser Ausnahmezustand sei aber auch ein Ort, in dem zwischen Recht und Gewalt keine Unterschiede mehr bestehen. Denn die Ausnahme ist ein Schwellwert der existierenden Rechtsordnung:

„In Wahrheit steht der Ausnahmezustand weder außerhalb der Rechtsordnung, noch ist er ihr immanent, und das Problem seiner Definition betrifft genau eine Schwelle oder eine Zone der Unbestimmtheit, in der innen und außen einander nicht ausschließen, sondern sich un-bestimmen. Die Suspendierung der Norm bedeutet nicht ihre Abschaffung, und die Zone der Anomie, die sie einrichtet, ist nicht ohne Bezug zur Rechtsordnung.“21

Der Ausnahmezustand ist insoweit gefährlich, als dass in diesem Augenblick das Recht praktisch aufgehoben wird. In diesem Beispiel wäre die Polizei wirklich souverän und müsste sich nicht rechtfertigen. Prinzipien und Werte gelten dann auf einmal nicht einmal mehr. Die Polizei muss sich also keinem Kontrollmechanismus mehr verantworten und hat grenzenlose Macht. Agamben geht mittlerweile davon aus, dass der Ausnahmezustand zur Regel geworden ist. Dabei bezieht er sich auf Walter Benjamin, der das Recht der Polizei „als den Punkt bezeichnet, an welchem „der Staat (…) jede Rechtsordnung, die er um jeden Preis zu erreichen wünscht, nicht mehr durch die Rechtsordnung garantieren kann.“22

Um dieses zu verdeutlichen, führt Agamben die Judenverfolgung während des Dritten Reiches an, die seiner Meinung nach ausschließlich als Polizeioperation konzipiert wurde. Dieses unterstreicht er mit der Wannenseekonferenz im Januar 1942, in der die Polizeifunktionäre die „Endlösung der Judenfrage“ beschlossen haben.  Doch diese vermeintlichen Polizeioperationen hätten laut Agamben noch weitere Konsequenzen gehabt. Durch diese Polizeiaktion müsste der Gegner erst mal kriminalisiert werden, um im Nachfolgenden vernichtet werden zu können.  Allerdings würden die Staatsoberhäupter vergessen, dass sich die Kriminalisierung auch irgendwann gegen sie selbst richten kann. Zwar nahmen an der Wannseekonferenz sechs führende Polizeifunktionäre teil, aber auch Staatssekretäre verschiedener Ministerien, sowie leitende Funktionäre der Gestapo und SS. Und auch die endgültige Vernichtung der Juden war kein Novum. Der Holocaust wurde schon längst beschlossen und teilweise auch ausgeführt. Es ging hierbei nur noch um eine Systematisierung und bessere Koordinierung sowie Organisation der Deportationen. Zudem sollte die Zusammenarbeit bei dem Genozid sichergestellt werden. Insofern kann nicht davon gesprochen werden, dass “die Endlösung der Judenfrage” eine Polizeioperation war. Zumal das Dritte Reich mit seinen rechtlichen und staatlichen Form eine einmalige Form der “Regierung” darstellt. Insofern ist es schwer, dass auf andere Regierungsformen, wie zum Beispiel die Demokratie, zu beziehen.

Die Polizei der Zukunft?

Keine Frage. Die sogenannte „souveräne Polizei“ wird zu Kontroversen führen, wenn es keine nationale, sondern eine internationale Polizei mit Exekutivrechten geben wird. Fragen nach der Handelslegitimierung sowie nach dem Souverän nach der Definition von Agamben müssten erst mal geklärt werden. Wer darf über Polizeioperationen entscheiden und inwieweit wird das Souveränitätsprinzip aufgehoben?

 

 

Empfohlene Zitierweise: Goździelewska, Agnieszka (2013): Aktuelle Problematiken bei der Globalisierung von Polizeiarbeit. In: JBSHistoryBlog.de. URL: http://jbshistoryblog.de [Zugriff: DD:MM:YYYY]

 

 Bibliographie:

  1. Srock, Gregor: Rechtliche Rahmenbedingungen für die Weiterentwicklung von Europol: Perspektiven im EU-Vertrag in der Verfassung von Europa. Tübingen 2006. S. 34ff.
  2. Hubegger, Berthold: Auslandseinsätze der Polizei: eine Studie des Bundesministeriums für Inneres. Wien 2011. S. 25ff.
  3. Seiffert, Anja / Langer, Phil C. / Carsten, Pietsch: Der Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan: Sozial- und politikwissenschaftliche Perspektiven. Wiesbaden 2012.
  4. Kramer, Helmut / Džihić, Vedran: Die Kosovo-Bilanz: Scheitert die internationale Gemeinschaft? Wien 2005.
  5. Siehe Agamben, Giorgio (2001), Jenseits der Menschenrechte, In: Ders: Mittel ohne Zweck, Freiburg, S. 23-33.
  6. Siehe Agamben, Giorgio (2002), Rechtsform, In: Ders.: Homo Sacer: Die Souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt am Main, S. 60-76.
  7. Zitiert nach Weischedel, Wilhelm: Immanuel Kant: Werke in zwölf Bänden. Band 7, Frankfurt am Main 1977. § 4. Lehrsatz III. S. 135-136.
  8. Siehe: Polizei des Landes Nordrhein-Westfalens (2005), Projektgruppe Polizeiliche Aufbauhilfe Afghanistan, URL: http://www.polizei-nrw.de/auslandseinsaetze/einsatzgebiete/article/PG_PAA.html (Abrufdatum: 15.07.2001).
  9. Siehe: Polizei des Landes Nordrhein-Westfalens (2005), Projektgruppe Polizeiliche Aufbauhilfe Afghanistan, URL: http://www.polizei-nrw.de/auslandseinsaetze/einsatzgebiete/article/PG_PAA.html (Abrufdatum: 15.07.2001).
  10. Siehe SPIEGELOnline (2010), Mission am Hindukusch. Deutsche Polizisten  fürchten Afghanistan-Desaster, URL: http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,686968,00.html (Abrufdatum: 15.07.2001).
  11. Siehe SPIEGELOnline (2010), Mission am Hindukusch. Deutsche Polizisten  fürchten Afghanistan-Desaster, URL: http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,686968,00.html (Abrufdatum: 15.07.2001).
  12. Siehe Zepelin, Joachim (2009), Polizeiausbildung in Afghanistan. Zweiter Bildungsweg URL: http://www.stern.de/politik/ausland/polizeiausbildung-in-afghanistan-zweiter-bildungsweg-707290.html (Abrufdatum: 15.07.2001).
  13. Siehe Zepelin, Joachim (2009), Polizeiausbildung in Afghanistan. Zweiter Bildungsweg URL: http://www.stern.de/politik/ausland/polizeiausbildung-in-afghanistan-zweiter-bildungsweg-707290.html (Abrufdatum: 15.07.2001).
  14. Siehe SPIEGELOnline (2010), Mission am Hindukusch. Deutsche Polizisten  fürchten Afghanistan-Desaster, URL: http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,686968,00.html (Abrufdatum: 15.07.2001).
  15. Siehe SPIEGELOnline (2010), Mission am Hindukusch. Deutsche Polizisten  fürchten Afghanistan-Desaster, URL: http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,686968,00.html (Abrufdatum: 15.07.2001).
  16. Siehe SPIEGELOnline (2010), Mission am Hindukusch. Deutsche Polizisten  fürchten Afghanistan-Desaster, URL: http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,686968,00.html (Abrufdatum: 15.07.2001).
  17. Siehe SPIEGELOnline (2010), Mission am Hindukusch. Deutsche Polizisten  fürchten Afghanistan-Desaster, URL: http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,686968,00.html (Abrufdatum: 15.07.2001).
  18. Imbusch, Peter / Zoll, Ralf: Friedens- und Konfliktforschung: Eine Einführung. Wiesbaden 2010. S. 88ff.
  19. Siehe Financial Times (2009) Zweiter Bildungsweg, URL: http://www.ftd.de/politik/international/:agenda-zweiter-bildungsweg/545075.html?page=3 (Abrufdatum: 15.07.2001).
  20. Siehe Agamben, Giorgio (2001) Souveräne Polizei, In: Mittel ohne Zweck, Noten zur Politik, Freiburg, S. 99-102.
  21. Siehe Agamben Giorgio (2004), Ausnahmezustand, Frankfurt am Main, S. 8ff.
  22. Siehe Agamben, Giorgio (2001), Souveräne Polizei, In: Mittel ohne Zweck, Noten zur Politik, Freiburg, S. 99-102.

Quelle: http://jbshistoryblog.de/2013/01/aktuelle-problematiken-bei-der-globalisierung-von-polizeiarbeit-und-internationalen-polizeimissionen/

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Wie sollen Rentenzahlungen zur Beschäftigung in Ghettos erfolgen? Eine Stellungnahme von Stephan Lehnstaedt

Dr. Stephan Lehnstaedt, DHI Warschau
Am 10. Dezember 2012 fand im Sozialausschuss des Bundestages eine vielbeachtete Anhörung statt. Verhandelt wurden Anträge der Bundestagsfraktion von SPD, Bündnis90/Die Grünen und der Linken. Hiermit sollen Rentenzahlungen für die Arbeit in den Ghettos während des Zweiten Weltkrieges gesichert werden. Dr. Stephan Lehnstaedt, Historiker am Deutschen Historischen Institut Warschau, war als Sachverständiger zur Anhörung geladen. Wir dokumentieren hier seine schriftliche Stellungnahme, die sich in der Ausschussdrucksache 17(11)1022neu ab S. 37 findet. 

Stellungnahme von Dr. Stephan Lehnstaedt, Deutsches Historisches Institut Warschau, zur Anhörung des Ausschusses für Arbeit und Soziales des 17. Deutschen Bundestags am 10. Dezember 2012.

Inhalt:

1. Arbeitsbedingungen in nationalsozialistischen Ghettos

2. Die Umsetzung des Gesetzes zur Zahlbarmachung von Renten aus
Beschäftigungen in einem Ghetto (ZRBG) durch Rentenversicherer und Justiz

3. Ghettoarbeit und Ghettorenten aus Sicht der Überlebenden

4. Das ZRBG und die Bundesministerien

Zusammenfassung

  • Die Juden, die während des Zweiten Weltkriegs in den deutschen Ghettos gearbeitet haben, haben dies in der weit überwiegenden Mehrzahl aus eigenem Willensentschluss und gegen Entlohnung getan, allerdings unter allgemeinen äußeren Bedingungen von Zwang, Verfolgung und Holocaust. In vielen Fällen wurden sogar Rentenbeiträge abgeführt.
  • Rentenversicherer und Sozialgerichtsbarkeit haben diese historischen Gegebenheiten bis 2009 weitgehend ignoriert. Mit dieser Einstellung gegenüber fachwissenschaftlichen Erkenntnissen konstruierten sie auf laienhafter Basis ein verzerrtes Bild der historischen Wirklichkeit. Im so entstandenen Schema hatten die Erfahrungen von zehntausenden Antragstellern keinen Platz, die Kläger wurden dadurch systematisch benachteiligt. Eine zusätzliche Ungleichbehandlung entstand dadurch, dass Überlebende aus Israel bei der DRV Rheinland weniger Erfolg hatten als die aus den USA bei der DRV Nord.
  • Bundesregierung und Ministerialverwaltung haben diese Praxis auch gegen starke nationale wie internationale Kritik verteidigt, weil sie keine Schieflage eingestehen wollten und vor allem nicht bereit waren, die höheren Kosten einer nicht systematisch benachteiligenden ZRBG-Auslegung zu tragen.
  • Paradoxerweise argumentieren alle in die Umsetzung des ZRBG involvierten Seiten mit dem Willen des Bundestags: Ministerium und Rentenversicherer verteidigten damit die harte Auslegung, Opfervertreter und die parlamentarische Opposition ihre Forderungen nach kulanteren Regelungen. Nach sieben Jahren Ghettorenten gab 2009 das Bundessozialgericht eine eindeutige Interpretation vor, die eine klare Abkehr von der bisherigen Anwendung des ZRBG darstellte – und legte damit u.a. aufgrund neuerer historischer Erkenntnisse einmal mehr fest, was der Bundestag 2002 gewollt haben könnte. Die restriktive Praxis von Rentenversicherern und Sozialgerichten wurde dabei eindeutig verworfen und als falsch gekennzeichnet.
  • Nach § 44 SGB X ist eine Korrektur dieser rechtswidrigen Praxis zum Nachteil der jüdischen Ghettoarbeiter aber nur für die zurückliegenden vier Jahre möglich. Deshalb werden den Überlebenden, denen bis 2002 jegliche Renten für Ghettoarbeit verwehrt wurden, seit 2009 die vollständigen Renten verwehrt. Die Antragsteller hatten erwartet, im Rahmen des ZRBG für tatsächlich geleistete Arbeit eine Rente zu erhalten wie andere Beschäftigte auch, und nicht bloß eine Entschädigung oder Wiedergutmachung, deren einziger Grund darin bestand, dass sie Opfer gewesen waren. Doch die erhoffte Gleichstellung von jüdischen und deutschen Arbeitern blieb aus.

1. Arbeitsbedingungen in nationalsozialistischen Ghettos

Arbeit heißt Leben! Diese Gleichung galt während des Zweiten Weltkriegs für die allermeisten jüdischen Insassen nationalsozialistischer Ghettos, denn die nicht Arbeitenden waren fast nie in der Lage, sich selbst mit dem Überlebensnotwendigen zu versorgen. Aus der Perspektive der deutschen Besatzer waren diejenigen, die keiner Beschäftigung nachgingen, schlicht unnütze Esser und daher nicht nur einem Arbeitszwang ausgesetzt, sondern fielen auch als erste den Deportationen in die Vernichtungslager zum Opfer. Arbeit nahm daher einen, wenn nicht sogar den zentralen Platz im Leben der Juden in den Ghettos ein und bestimmte zu einem großen Teil die Ökonomie dieser Einrichtungen.

Diese Kausalitäten in der ersten Phase des Holocaust schienen lange Zeit so offensichtlich, dass sie keiner näheren Untersuchung wert waren, weshalb sich neuere Studien beispielsweise nur der Ausbeutung der Juden in Lagern widmeten.[1] Ansonsten dominierte in Deutschland die Auseinandersetzung mit den nichtjüdischen Zwangsarbeitern, die zu Millionen in der Industrie des Reiches eingesetzt worden waren, während die deutsche Geschichtswissenschaft überhaupt erst in den letzten Jahren begann, sich mit Ghettos zu beschäftigen,[2] wobei wesentliche Impulse von den – wenigen – Sozialrichtern ausgingen, die für ihre Entscheidungen in ZRBG-Verfahren Gutachten in Auftrag gaben.

Dabei stellte sich schnell heraus, dass die Wissensgrundlage keineswegs besonders umfassend und die konkreten Fragen zur Ghettoarbeit oft nur schwer zu beantworten waren. Neben vereinzelten synthetisierenden Überblicksdarstellungen lagen lediglich für die besetzten polnischen Gebiete gewisse Erkenntnisse vor, die vor allem Forscher des Warschauer Jüdischen Historischen Instituts (Żydowski Instytut Historyczny) in den 1950er und 1960er Jahren vorgelegt hatten.[3] Neuere Untersuchungen waren weit weniger hilfreich, weil sich beispielsweise die in den letzten Jahren überaus ertragreiche Forschung zu den nationalsozialistischen Tätern nicht oder nur sehr peripher mit den Bedingungen in den Ghettos beschäftigt hatte.

Angesichts dessen begann eine intensive Auseinandersetzung mit der vorhandenen Literatur, zudem fuhren manche Gutachter sogar in osteuropäische Archive; Ende 2009 waren so in der zentralen Datenbank der Sozialgerichtsbarkeit (www.sozialgerichtsbarkeit.de) rund 200 Expertisen gespeichert. Darin konnte beispielsweise ganz grundlegend die Frage geklärt werden, was denn überhaupt ein Ghetto ist; die Rentenversicherer waren zunächst nur von rund 400 Ghettos in Osteuropa ausgegangen, aber die zu diesem Zeitpunkt bereits weit fortgeschrittenen Editionen zweier Ghetto-Enzyklopädien des US Holocaust Memorial Museums und der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem[4]  verwiesen diese Zahl schnell ins Reich der Mythen: Tatsächlich existierten rund 1150 Orte, für die man von einem Ghetto sprechen kann.

Zwar ist dieser Begriff keineswegs eindeutig besetzt, er hatte teilweise zeitgleich mehrere Bedeutungen und war außerdem im Laufe der Jahrhunderte einem semantischen Wandel ausgesetzt.[5] Während des Zweiten Weltkriegs definierte sich der Begriff zunächst über den Sprachgebrauch, der ein Gebiet als Ghetto, „Wohngebiet der Juden“, „Jüdisches Wohnviertel“ oder, z.B. auf Polnisch, als „dzielnica żydowska“ beschrieb. Darüber hinaus kennzeichnet Martin Dean, Herausgeber der Enzyklopädie des US Holocaust Memorial Museums, ein Ghetto als (1) einen separierten, explizit begrenzten Wohnbezirk, in dem Juden leben mussten und der ihnen in einem Vorgang der „Ghettoisierung“ zugewiesen worden war; (2) Nichtjuden durften dort nicht wohnen, während (3) den Juden das Verlassen unter Strafe untersagt war.[6]

Diese historische Definition war auch unter Juristen kaum umstritten. Ebenfalls akzeptiert war schnell, dass es längst nicht nur geschlossene, also mit einer Mauer oder einem Zaun umfasste Ghettos gab, sondern auch solche, in denen diese Elemente fehlten und demzufolge ein „offenes Ghetto“ gegeben war. Wesentlich komplexer war die Frage, was denn unter einem „eigenen Willensentschluss“ zu verstehen sei, den das ZRBG als rentenrechtliche Regelung unabdingbar erforderte – um damit eine Abgrenzung zur Zwangsarbeit zu schaffen, für die in den zurückliegenden Jahren die Stiftung „Erinnerung – Verantwortung – Zukunft“ Zahlungen geleistet hatte. Direkt mit diesem Problem verbunden war das „Entgelt“, welches die ehemaligen Ghettoarbeiter erhalten haben mussten, um sich nun für eine Rente zu qualifizieren.

Für beide Gesichtspunkte hatte die Geschichtswissenschaft vor den Gutachten für die Sozialgerichtsbarkeit keine gesicherten Erkenntnisse. In den wenigen Untersuchungen, in denen auf das Leben in Ghettos eingegangen wurde, war meist recht pauschal von „Zwang“ die Rede, der, von den allgemeinen Umständen der Inhaftierung ausgehend, genauso für die Arbeit gegolten habe.[7] Doch eine derartig undifferenzierte Sichtweise war für die durchaus artifizielle Betrachtung im Rahmen des ZRBG wenig nützlich. Tatsächlich herrschte in den Ghettos keineswegs immer nur unbezahlte Zwangsarbeit vor. Ganz im Gegenteil konnten die Gutachten vielfältige Arbeitsformen beschreiben, die Arbeitsbataillone, willkürliche Verhaftungen und Verschleppung in Arbeitslager – aber auch freiwillige Meldungen hierfür –, „shops“ der Judenräte und der Besatzer und sogar fortgesetzte Beschäftigungsverhältnisse beinahe wie vor dem Krieg umfassten. Und diese Varianten ergaben sich in unterschiedlich großen Ghettos mit je eigenen Rahmenbedingungen in verschiedenen besetzten Gebieten Osteuropas. Im Grunde war jedes Ghetto ein Sonderfall, der einzeln beschrieben werden musste und seine eigenen Spezifika aufwies. Dessen ungeachtet gab es zahllose wiederkehrende Phänomene, die sich besonders in der regionalen Unterteilung der deutschen Herrschaft spiegelten.

Hinzuweisen ist auch darauf, dass es aus Sicht der deutschen Besatzer durchaus rational war, die Juden zu bezahlen: Indem die Arbeitsämter etwa im Generalgouvernement (also dem nicht ins Reich eingegliederten Teil Polens, in dem etwa 2 Millionen Juden in insgesamt 342 Ghettos lebten) auf freiwillige Beschäftigungsverhältnisse setzten, maximierten sie den Nutzen für die deutsche Kriegswirtschaft, einfach weil Menschen, die aus eigenem Willensentschluss arbeiten, motivierter als Zwangsarbeiter sind. Der Leiter der Arbeitsverwaltung im Generalgouvernement, Dr. Max Frauendorfer, erklärte, dass es nur mit der Lohnzahlung möglich sei, „die Arbeitsfähigkeit der Juden zu erhalten, den nötigen Lebensunterhalt der Familie sicherzustellen und Krankheiten und Seuchen zu vermeiden“[8] Von Mitte 1940 an bis Mitte 1942 waren 80 bis 90 Prozent der arbeitenden Juden weitgehend aus eigenem Willensentschluss und gegen Entlohnung in Form von Bargeld oder Nahrungsmitteln tätig. Das galt insbesondere für Frauen und Kinder, die weder der Lagerarbeit noch dem Dienst in den Arbeitsbataillonen unterlagen.[9] Die Arbeitsverhältnisse der Ghettoinsassen waren im Gebiet Ostoberschlesien tendenziell besser, im Warthegau und auch in den besetzten Teilen der Sowjetunion – mit der Ausnahme Litauens – schlechter.[10]

Für eine Generalisierung der Ghettoarbeit im Sinne des ZRBG lässt sich dennoch feststellen, dass der „eigene Willensentschluss“ in den allermeisten Fällen gegeben war: Arbeit zu haben stellte ein Privileg dar. Das galt nicht für die Arbeitslager, in denen die Bedingungen hart und die Todesraten hoch waren, aber doch für die Ghettos; selbst die Arbeitsbataillone, in denen niedere und schwere, aber entlohnte Hilfstätigkeiten ausgeübt wurden, konnten oft auf Freiwillige zurückgreifen. Von echter „Freiwilligkeit“ kann selbstverständlich nicht die Rede sein, vielmehr waren die Juden wegen der deutschen Hunger- und Beraubungspolitik gezwungen, jegliche Möglichkeit, etwas Essen zu erhalten, wahrzunehmen. Und da die Beschäftigungen in den Ghettos und selbst in den Lagern und Arbeitsbataillonen beinahe immer eine Gegenleistung in Form von Nahrungsmitteln beinhalteten – was die Gutachten klar zeigen –, waren sie begehrt, denn für Geld konnten Juden in den Ghettos nichts kaufen. Die Juden hatten also ein Interesse daran, eine Arbeit zu suchen. Und da es fast immer viel weniger Arbeitsplätze als Bewerber gab, war eine Stelle ein wertvolles Privileg. Die „Entlohnung“ mochte nicht angemessen sein sondern eher eine Ausbeutung dar, sie mochte oft über die Judenräte und nicht direkt von den Arbeitgebern ausgegeben worden sein, aber sie machte doch den Unterschied zwischen Überleben und Verhungern aus. Ihr Wert war insofern kaum hoch genug zu veranschlagen, und entsprechend begehrt war Arbeit, die später zudem über den längeren Verbleib im Ghetto oder die schnellere Deportation in die Vernichtungslager entschied. Hinzuweisen ist auch darauf, dass zumindest im besetzten Polen (also im Generalgouvernement, Warthegau und Ostoberschlesien) für die jüdischen Arbeiter regulär und regelmäßig Sozialversicherungsbeiträge für die jüdischen Arbeiter an die damaligen Rentenkassen gezahlt wurden – selbst für die Arbeit in Zwangsarbeitslagern.
2. Die Umsetzung des ZRBG durch Rentenversicherer und Justiz

Die eben geschilderten historischen Bedingungen waren so weder 1997, zum Zeitpunkt des grundlegenden Urteils des Bundessozialgerichts am Beispiel des Ghettos Litzmannstadt, noch 2002, bei der Verabschiedung des ZRBG im Bundestag, im wissenschaftlichen Diskurs präsent. Dies gilt in weit größerem Maße für die nichtfachliche Öffentlichkeit, zu der auch die Ministerialverwaltungen, die Deutsche Rentenversicherung und die Sozialgerichtsbarkeit gezählt werden muss. Als das Bundesministerium für Arbeit und Soziales in den Jahren 1997 und 2002 für den Deutschen Bundestag das ZRBG vorbereitete und dazu auch Rücksprache mit den Rentenversicherern hielt, wurden keine Historiker in das Verfahren eingebunden. Wie eine Akteneinsicht nach dem Informationsfreiheitsgesetz in die Akten des BMAS zeigt, entstanden deshalb groteske Fehlannahmen über den zu erwartenden Umfang des ZRBG, die in dieser Form auch dem Bundestag als Entscheidungsgrundlage unterbreitet wurden: Die Schätzung über die zu erwartende Zahl der Antragsteller lag um den Faktor 100 zu niedrig: statt schlussendlich 70.000 Antragstellern rechnete das BMAS gegenüber dem Haushaltsausschuss des Bundestags Ende 2001 mit nur 700 Antragstellern, obwohl in internen Papieren auch Zahlen von bis zu 6.000 Antragstellern kursierten.[11]

Da der Zwangscharakter der Ghettos so offensichtlich erschien, waren Bundes- und Landesministerien sowie die Rentenversicherer höchst überrascht von den rund 70.000 Anträgen, die nach der Verabschiedung des Gesetzes gestellt wurden. Doch anstatt nun bei Wissenschaftlern Erkundigungen über die Arbeitsbedingungen in Ghettos einzuziehen, entwickelte die Deutsche Rentenversicherung ohne fachliche Beratung eigene pseudohistorische Kriterien, nach denen die Anträge zu bearbeiten waren, und gab dafür im September 2002 Anweisungen zur Bearbeitung von ZRBG-Fällen heraus. Auf 36 DIN-A5 Seiten sowie einem längeren Anhang, der einzelne Ghettos auflistete, wurde dort eine eigene Interpretation zu Arbeit in Ghettos vorgelegt, die auch eine Übersicht zu den Verhältnissen in den deutsch besetzten Gebieten Osteuropas enthielt. Im Januar 2006 erfuhr der Text eine Überarbeitung und Erweiterung.[12] Er diente als Grundlage für sämtliche Verwaltungsentscheidungen bis zu den Urteilen des Bundessozialgerichts von Juni 2009.

Die beiden Arbeitsanweisungen von 2002 und 2006 weisen in Bezug auf die Rezeption des historischen Forschungsstands keine Fortschritte auf. Andererseits beruhen die teilweise sehr weit reichenden Interpretationen der Rentenversicherung auf insgesamt nur acht fachwissenschaftlichen Büchern, davon vier Nachschlage- bzw. Überblickswerke. Zwar sind diese allesamt als Standardwerke zu bezeichnen, doch das älteste von ihnen ist von 1990, die zwei neuesten von 1999. Bedenkt man den Druckzyklus historischer Werke, so ist die Grundlage für die Entscheidungen der Rentenversicherung der Forschungsstand von Anfang 1998. Gleichwohl gilt selbst dies nur mit Einschränkungen, Referenz für das Reichskommissariat Ukraine sind lediglich drei Überblicksdarstellungen von 1990, 1991 bzw. 1993.

Die Auswertung der von der Rentenversicherung herangezogenen Werke geschah offensichtlich nicht durch einen Historiker, der auch eine fachliche Einordnung und Beurteilung hätte vornehmen können. So blieben zahlreiche einschlägige Studien unberücksichtigt, die gerade zu den speziellen Fragen von Ghettoisierung oder Arbeit weit detaillierter Auskunft geben als die vier Nachschlage- bzw. Überblickswerke, die die Rentenversicherung verwendet. So erklären sich zahllose Irrtümer, unzulässige Analogien und Pauschalisierungen bzw. Fehlinterpretationen. Die mangelhafte Auseinandersetzung mit den damaligen Gegebenheiten setzt sich in einem unkritischen Umgang mit den Sekundärquellen fort. Das Bild, das die Rentenversicherung in ihren Arbeitsanweisungen von der nationalsozialistischen Judenpolitik in Osteuropa zeichnet, entspricht nicht dem aktuellen historischen Forschungsstand, und entsprach ihm auch nicht zum Zeitpunkt der Entstehung der Anweisungen. Die Grundlage für das Verwaltungshandeln war eine laienhafte, ohne fachhistorische Anleitung durchgeführte Auswertung von lediglich acht unsystematisch zusammengestellten Werken.

Grundlage für die individuelle Entscheidungsfindung waren Fragebögen, die die Überlebenden auszufüllen hatten. Zwar ist dies aus Gründen der Operationalisierung bei vielen tausend Anfragen verständlich, doch die fachliche Kritik durch erfahrene Psychologen zeigt, dass die Gestaltung der Fragebögen kaum geeignet war, valide Daten zu erhalten,[13] schon alleine, weil sich Erinnerungen kaum in die starren Schemata von Vordrucken pressen lassen. Verwirrend war beispielsweise die Frage zum Zustandekommen des Arbeitsverhältnisses, bei dem die Optionen „freiwillig“, „durch Vermittlung“ und „durch Zuweisung“ gegeben sind: Viele Überlebende kreuzten alle drei Punkte an, weil sie sich an den Judenrat mit der Bitte um eine Arbeit gewandt hatten, dieser ihnen einen Arbeitgeber vermittelte, wo schließlich eine konkrete Aufgabe zugewiesen wurde. Dieser vollkommen übliche und historisch auch kaum anders denkbare Vorgang führte indes regelmäßig zur Ablehnung des Antrags.

Relevant für die Bearbeitung der einzelnen Anträge waren ferner Dokumente aus den früheren Entschädigungsverfahren der Überlebenden (nach dem Bundesentschädigungsgesetz – BEG). Sie wurden in der weit überwiegenden Mehrzahl gegen die Antragsteller ausgelegt, weil sie angeblich im Widerspruch zu den Angaben im ZRBG-Verfahren rund 50 Jahre später stünden. Doch die Annahme, Angaben im Entschädigungsverfahren seien für ZRBG-relevante Sachverhalte wegen des kürzeren Abstandes zu den strittigen Zeiten größerer Beweiswert beizumessen als Angaben im ZRBG-Verfahren selbst, kann historisch-quellenkritischen, aber auch schlicht logischen Maßstäben nicht standhalten: In den BEG-Verfahren wurden andere Sachverhalte ermittelt, vor allem Schäden an Freiheit und Gesundheit, wobei man sich auf ein Minimum an relevanten Angaben beschränkte. Das verdeutlicht die Tatsache, dass in den BEG-Akten dem eigentlichen Verfolgungsschicksal in der Regel nur wenige Zeilen gewidmet sind.

Die Vorstellungen, die hinter der Argumentation der deutschen Rentenversicherer standen, beschränken sich auf ein weitgehend eindimensionales, von ihnen selbst geschaffenes Bild einer Ghettowelt. Sie konstruierten ihre eigene Geschichte der Ghettos, die durch andauernde Wiederholung perpetuiert wurde – und lehnten dementsprechend über 90 Prozent aller Anträge ab. Wie erfolgreich die Versicherer mit ihrem Vorgehen waren, zeigt die Überprüfung ihres Handelns durch die Sozialgerichtsbarkeit. Auch hier bestand bis Mitte 2009 kaum Aussicht auf eine erfolgreiche Klage gegen die Verwaltungsbescheide.

Blickt man auf das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, das als zweite Instanz für Kläger aus Israel zuständig war, wird deutlich, dass die Kläger in etwas mehr als 17 Prozent aller dort eingegangenen ZRBG-Fälle zumindest einen Teilerfolg erzielen konnten (zum Vergleich: die Erfolgsquote in Rentensachen außerhalb des ZRBG liegt etwa bei 27 Prozent).[14] Den Überlebenden gelang es nicht, ihre Ansprüche glaubhaft zu machen, weil an der Plausibilität ihrer Angaben gezweifelt wurde. Über 60 Jahre nach dem Ende ihrer Verfolgung konnten sie auch keine Dokumente mehr präsentieren, die ihr Vorbringen stützen könnten – denn es war schlechterdings unmöglich, irgendwelche Schriftstücke durch Ghetto, Lager und Vernichtung, durch DP-Camp und Auswanderung hindurch aufzubewahren. Die Überlebenden hatten keine andere Möglichkeit, als ihren ZRBG-Antrag ausschließlich durch eine nachträgliche Aussage zu untermauern. Selbstverständlich müssen sie bei der Aufklärung des Sachverhalts mitwirken und sie tragen auch die Beweislast. Letztere schließt indes nicht die Amtsermittlungspflicht von Behörden und Gerichten aus. Wie in allen Fällen nach dem Sozialgerichtsgesetz muss die Verwaltung die relevanten Tatsachen von sich aus ermitteln, wobei sie nicht an das Vorbringen oder an Beweisanträge der Antragsteller gebunden ist. Angesichts dieser Grundsätze sticht ins Auge, dass insbesondere zwei Ermittlungsansätze kaum genutzt wurden: die persönliche Anhörung der Kläger und der Sachverständigenbeweis.

Trotz der enormen Bedeutung von Aussagen für die Urteile waren die im Ausland lebenden, durchweg betagten Antragsteller dadurch benachteiligt, dass in den Verfahren in der Regel keine Anhörung stattfand, weil dazu – wenn überhaupt – eine Anreise der hoch betagten Holocaustüberlebenden zum Gerichtsstandort erwartet wurde, die dazu nur selten bereit oder in der Lage waren. So wurden nur schriftlich niedergelegte Einlassungen herangezogen bzw. die Rechtsanwälte befragt. In mehr als einem Urteil war sogar davon die Rede, dass eine Anhörung des Klägers nichts zum konkreten Fall beitragen würde, da die Fakten ja bekannt seien.[15]

Ein ähnliches Problem ergab sich bei der Hinzuziehung von Sachverständigen. Die Verfahren haben durchweg historische Tatsachen zum Gegenstand, aber es wurde auf die Einholung historischer Sachverständigengutachten in der Regel verzichtet. Damit schrieben sich die Gerichte selbst die für die Bewertung historischer Tatsachen erforderliche Sachkunde zu. Das Bundessozialgericht hat demgegenüber in mehreren zum ZRBG ergangenen Entscheidungen[16] betont, ein Gericht müsse bei der Beurteilung historischer Tatsachen nicht nur darlegen, woher es die von ihm selbst behauptete besondere historisch-wissenschaftliche Sachkunde erlangt hat, sondern auch, wie weit diese nach Inhalt und Umfang reicht. Es genüge nicht, mitzuteilen, welche Unterlagen hinzugezogen worden sind, wenn nicht dargestellt werde, über welche speziellen Kenntnisse das Gericht verfügt, die es ihm seiner Ansicht nach erlauben, den historisch-wissenschaftlichen Wert der beigezogenen Unterlagen, ihre fachwissenschaftliche Stichhaltigkeit, die fachliche Richtigkeit und Vollständigkeit der jeweils berücksichtigten Quellen sowie die Bewertung durch die verschiedenen Autoren zu beurteilen: „Auch die Lektüre umfangreicher historischer, zum Teil sogar wissenschaftlicher Veröffentlichungen, macht aus dem Leser im Regelfall keinen Sachverständigen der historischen Wissenschaft“.[17]

Das Urteil blieb indes folgenlos und wurde von den allermeisten Sozial- und Landessozialgerichten ignoriert, Historiker nur in Ausnahmefällen als Gutachter hinzugezogen – und die Vorstellungen der Richter über die Ghettoarbeit blieben entsprechend weit von der historischen Realität entfernt.[18] Dass in einem nationalsozialistischen Ghetto tatsächlich ein eigener Willensentschluss zur Arbeit und sogar eine Arbeitsentlohnung stattfanden, erschien angesichts der sonst bekannten Tatsachen über die Judenvernichtung eher unwahrscheinlich; das allgemeine Wissen über Ghettos ist fast ausschließlich mit Zwang assoziiert. Nur selten ist in den Urteilen eine Loslösung von diesem in der Bundesrepublik tradierten Bild zu beobachten. Es war für die meisten Richter kaum vorstellbar, dass im Ghetto überhaupt etwas aus freiem Willen geschah.

Für die ZRBG-Praxis bedeutete all das, dass ausschließlich Versicherungen und Justiz die Bedeutung bestimmter Begrifflichkeiten festlegten; davon abweichende Varianten führen beinahe automatisch zu einer Ablehnung des Klagebegehrens. Der Diskurs über die Ghettoarbeit, wie er von Verwaltung und Sozialgerichtsbarkeit geführt wurde, schuf eine eigene Wirklichkeit, die mit dem historischen Geschehen nichts gemein hatte. Die tatsächlichen Erfahrungen der Überlebenden hatten darin keinen Platz.

3. Ghettoarbeit und Ghettorenten aus Sicht der Überlebenden

Für die meist hoch betagten Antragsteller waren die ZRBG-Verfahren nur schwer zu begreifen. Sie hatten den Holocaust mit knapper Not überlebt und die Schrecken des Nationalsozialismus am eigenen Leib erfahren. Angesichts der mehrjährigen Verfolgung im Zweiten Weltkrieg, die eine permanente Ausnahmesituation voller Zwang darstellte, war auch in der subjektiven Wahrnehmung beinahe alle Arbeit „Zwangsarbeit“, zumal sie – gemessen an normalen Maßstäben – völlig unzureichend entlohnt wurde. Insbesondere in Nachkriegsaussagen wird der Terminus „Zwangsarbeit“ daher universell zur Benennung von Tätigkeiten während der nationalsozialistischen Verfolgung genutzt. Weder in der Perspektive der damaligen Ghettoinsassen noch der der heutigen Überlebenden, wie sie uns in überlieferten Nachkriegsaussagen zur Verfügung steht, spielte es eine Rolle, dass „Arbeitspflicht“ und „Arbeitszwang“ verschiedene Bedeutungen und Bedingungen implizierten, die aber beispielsweise nichts mit „Zwangsarbeit“ etwa in Lagern zu tun hatten. Hinzu kommt, dass nicht einmal die nationalsozialistischen Behörden und die Judenräte ihre unterschiedlichen Begriffe für die Arbeitsformen konsequent verwendeten, sondern sie häufig vermischten, was auch dem zeitlichen Wandel der Konnotationen geschuldet war.

Wenn also in den erwähnten BEG-Akten häufig von „Zwangsarbeit“ berichtet wird, steht dies nicht im Widerspruch zur später postulierten „Arbeit aus eigenem Willensentschluss“: Der seinerzeit gängige Begriff von Zwangsarbeit, wie er von Überlebenden der Shoah verwendet wird, zielte zuvorderst auf die allgemeine Zwangssituation des Ghettos ab. Einer Aussage in den Entschädigungsakten, in der der Terminus „Zwangsarbeit“ oder die Formulierung „zur Arbeit gezwungen“ vorkommt, ist nicht der Vorzug gegenüber anderen Aussagen oder Informationen zu geben, weil sie „zeitnäher“ getätigt worden ist. Bei dieser Argumentation wird von falschen Voraussetzungen ausgegangen, nämlich von der Existenz einer klaren, dem Alltagsverständnis zugänglichen begrifflichen Unterscheidung von erzwungenen und „freien“ Arbeitsverhältnissen. Der Münchener Historiker Jürgen Zarusky hat es als kafkaesk bezeichnet, dass die Anträge häufig daran scheiterten, dass die Überlebenden vor „vier oder fünf Jahrzehnten keine Antwort auf Fragen gegeben haben, die ihnen nicht gestellt wurden, und Begriffe nicht benutzt haben, die es noch nicht gab“.[19]

Dass die Glaubwürdigkeit der Kläger in den Urteilen oftmals anhand der Aktenlage abgetan wurde, war für die Überlebenden demütigend, zumal sich Vertreter der Bundesrepublik für ihr ganzes Schicksal nur selten interessiert haben.[20] Für sie schien gerade das ZRBG ein innovatives Gesetz zu sein, weil es ihnen endlich einen Anspruch zubilligte, der auf einer „normalen“, tatsächlich erbrachten Leistung beruhte: Sie erhielten eine Arbeitsrente wie andere Arbeiter auch, nicht bloß eine Entschädigung oder Wiedergutmachung, deren einziger Grund darin bestand, dass sie Opfer gewesen waren und – im Unterschied zu vielen Angehörigen – überlebt hatten. Die Zahlungen im Rahmen des BEG waren natürlich notwendig, denn viele Holocaustüberlebende sind nicht wohlhabend, weil sie während eines entscheidenden Abschnitts ihres Erwerbslebens unter deutscher Verfolgung litten und häufig seelische und körperliche Schäden davontrugen; sie sind daher auf das Geld angewiesen. Aber das ZRBG ist eben keine moralische Wiedergutmachung – und es ist sowieso fraglich, ob, und wenn ja, in wieweit der Horror des Holocaust „entschädigt“ oder „wieder gut gemacht“ werden kann – sondern schlicht eine Gleichbehandlung. Noach Flug, der 2011 verstorbene Präsident des Internationalen Auschwitz Komitees und Vorsitzender der Organisation der Holocaust-Überlebenden in Israel, hat das ZRBG einmal als die Aufhebung der Nürnberger Gesetze bezeichnet,[21] denn damit würden Juden nicht mehr nur wegen ihrer Opfereigenschaft Geld aus Deutschland bekommen; die Ghettorenten stellten also – zumindest in der Theorie – eine Gleichstellung von jüdischen und deutschen Arbeitern dar.

4. Das ZRBG und die Bundesministerien

Mit dem ZRBG hat der Bundestag 2002 ein Gesetz beschlossen, das den ehemaligen Ghettoarbeitern die Möglichkeit einer Rente einräumte. Bei der Anwendung und Auslegung des Gesetzes wurden die Antragsteller von Rentenversicherern und Sozialgerichten indes systematisch benachteiligt, da historische Gegebenheiten ignoriert und die Perspektive der Überlebenden falsch interpretiert wurden. Die Aufsichtsbehörden in den Landes- und Bundesministerien waren über den Umfang der Ablehnungen genau informiert. Zweifel auch des BMAS, ob denn eine sachgemäße Behandlung der Einzelfälle gewährleistet sei, wiesen die Rentenversicherer allerdings zurück. Das Ministerium war andererseits aber auch nicht an einer Klarstellung des Gesetzes interessiert – die Auslegung durch die Rentenversicherer würden die Gerichte überprüfen, und dabei sei von einer Bestätigung auszugehen.[22]

Änderungswünsche wies die Bundesregierung zurück. Den Überlebenden weiter entgegen zu kommen, würde „Fiktionsregelungen“ schaffen und „der gesetzlichen Rentenversicherung Aufgaben zuweisen, die keinerlei Bezug mehr zur Versichertengemeinschaft haben“.[23] Tatsächlich war die Bundesregierung im August 2006 sogar der Ansicht, die hohe Ablehnungsquote resultiere aus der Unkenntnis der Antragsteller in Bezug auf die komplexe rechtliche Materie – und machte die Überlebenden damit indirekt für die geringen Bewilligungsquoten selbst verantwortlich.[24]

Versicherer und Verwaltung beriefen sich bei dieser Haltung stets auf eine Überprüfung, der die Rentenversicherung Rheinland unterzogen worden war und deren Abschlussbericht Anfang 2005 dem Bundestagsausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherheit vorgelegen hatte. Ausgehend von einer Dienstaufsichtsbeschwerde der Berliner Rechtsanwältin und Opfervertreterin Simona Reppenhagen hatte das Arbeits- und Sozialministerium Nordrhein-Westfalen knapp hundert Einzelfälle überprüft – allerdings unter Rückgriff ausschließlich auf Material der Rentenversicherer – und deren Auslegung bestätigt.[25] Damit attestierte sich die Verwaltung selbst ein tadelloses Verhalten im Rahmen der Gesetzesnormen und –intentionen.

Allerdings hatte die Bundesregierung Anfang 2006 gegenüber Israel eine Zusage gegeben, bei den Ghettorenten die Leistungen für die Holocaust-Überlebenden zu verbessern. Immer dringlichere Nachfragen, dieses Versprechen einzuhalten, brachten nach eineinhalb Jahren Wartezeit eine gewisse Bewegung in die verfahrene Situation. Im Sommer 2007 kamen Arbeits- und Finanzministerium zusammen, um über eine Anerkennungsleistung zu verhandeln. Sehr deutlich war ihnen die beinahe schizophrene Situation bewusst, nach der die Rente, die nach Argumentation der Bundesregierung vollkommen im Sinne des Gesetzgebers umgesetzt würde, eine zusätzliche Zahlung erforderte, diesmal allerdings als Wiedergutmachung. Fraglich war, was denn eigentlich anerkannt werden sollte: Die Haftzeit war durch das Bundesentschädigungsgesetz längst berücksichtigt; für Zwangsarbeit gab es die Stiftung „Erinnerung – Verantwortung – Zukunft“, und für sonstige Arbeit aus eigenem Willensentschluss gab es Renten. Eine Regelungslücke konnte eigentlich nicht existieren.

Trotzdem war das Bundesarbeitsministerium selbst 2008 weder willens noch in der Lage, von der offiziellen Linie der Bundesregierung abzuweichen. So äußerte man zwar für die „Absicht, den Menschen zu helfen, [...] volles Verständnis“, aber der Gesetzgeber sei bereits 2002 „an die Grenzen dessen gegangen, was in der gesetzlichen Rentenversicherung möglich ist. Die Bundesregierung hat deshalb mehrfach zum Ausdruck gebracht, dass eine Novellierung des ZRBG nicht vorgesehen ist und eine Lösung außerhalb des ZRBG gesucht werde“.[26] Doch Anfang 2009 konnte sich nicht einmal das BMAS dem weiter wachsenden öffentlichen und außenpolitischen Druck noch länger entziehen. Zunächst intern plädierte das zuständige Referat dafür, eine Arbeitsgruppe mit Angehörigen von Ministerium und Versicherungen sowie israelischen Fachleuten und Vertretern der Conference on Jewish Material Claims against Germany (Claims Conference, JCC) einzurichten – offiziell mit der Absicht, eine einheitlichere Umsetzung des ZRBG zu erreichen. Dabei müsse einerseits der Eindruck vermieden werden, der Bund wolle den selbstverwalteten Versicherern Kompetenzen entziehen, andererseits aber „die nachdrückliche politische Erwartung des BMAS an die Träger deutlich werden, nicht nur – wie schon bisher – zu gemeinsamen Auslegungsrichtlinien zu kommen, sondern auch in Anwendung der Richtlinien zu möglichst einheitlichen Anerkennungsquoten, die sich an den bei der Anwendung des ZRBG ‚großzügigeren’ RV-Trägern orientieren.“[27] Deutlicher konnten Ministerialbeamte kaum formulieren, dass die Ghettorenten-Praxis nicht ihren Erwartungen entsprach.

Widerstand dagegen regte sich einmal mehr von Seiten des Bundesfinanzministeriums, das Präzedenzwirkungen und damit einhergehende finanzielle Belastungen ebenso fürchtete wie eine Revision der stillschweigenden Übereinkunft, die Ghettorenten als Erfolg zu deklarieren, der keiner Nachbesserung bedürfe. Nach sieben Jahren ZRBG und eineinhalb Jahren Anerkennungsrichtlinie, was „eine gewisse Befriedung der unterschiedlichen Gruppen“ bewirkt hätte, sei die Idee daher „unglücklich“; das BMAS solle überprüfen, ob diese Maßnahme „wirklich angezeigt“ sei.[28]

Die Rentenversicherer sahen ebenfalls keine Notwendigkeit für eine Kontrolle ihres Handelns und zeigten sich überrascht, dass das Bundesarbeitsministerium „entgegen sonst herrschender Meinung“ die Ansicht vertrete, ursächlich für die große Ablehnungsquote sei die Verwaltungspraxis und nicht das Gesetz selbst. Gleichzeitig musste die DRV Rheinland aber einräumen, tatsächlich durchaus restriktiver zu entscheiden, als ihre Kollegen in Hamburg. Man selbst orientiere sich an den Vorgaben der Gerichte – wenn restriktive Auslegungen akzeptiert würden, bestehe kein Grund, die eigene Praxis zu ändern; demgegenüber hätten die Kollegen in Hamburg akzeptiert, dass die dortigen Gerichte eine klägerfreundlichere Auslegung vornähmen und würden selbst entsprechend handeln.[29]

Möglich war dies, weil die verschiedenen Senate des Bundessozialgerichts vor 2009 keine einheitliche Interpretation des ZRBG vorgelegt hatten. Der 13. Senat hatte 2004 eine recht enge Auslegung gefordert, die im Wesentlichen das Vorhandensein einer tatsächlichen Versicherungspflicht für die Ghettoarbeiter sowie einen dafür notwendigen Vertragsabschluss verlangte.[30] Eine gegenläufige Auffassung des 4. Senats,[31] der bereits Ende 2006 eine großzügigere Interpretation des ZRBG durchzusetzen versuchte, war nicht auf Akzeptanz gestoßen. Der vom 4. Senat angerufene Große Senat des Bundessozialgerichts, der für die Klärung interner Auslegungsunterschiede zuständig ist, entschied in der Sache aus formellen Gründen nicht. Der Verweis auf die Meinung des 4. Senats diente aber dennoch manchen Richtern als Referenz für eine klägerfreundliche Spruchpraxis.

Das Sozialgericht München berief sich z.B. darauf, vor allem aber die Sozialgerichtsbarkeit in Hamburg, wo die Rentenversicherung Nord für Kläger u.a. aus den USA, und damit für die nach Israel zweitgrößte Überlebendengruppe zuständig ist. Die Richter am dortigen Sozialgericht waren es, die 2005 erstmals historische Gutachten bei Frank Golczewski anforderten. Nach eigenen Angaben veränderte sich der Umgang mit den ZRBG-Fällen ab diesem Zeitpunkt.[32] Seriöse Schätzungen der beteiligten Parteien belaufen sich auf 30 bis 40 Prozent für die Kläger erfolgreiche Fälle vor dem Urteil des Bundessozialgerichts im Juni 2009, wobei davon über zwei Drittel durch Anerkenntnis oder Vergleich zustande kamen.[33] Die regionalen Unterschiede beeinträchtigten indes die Gleichbehandlung der Antragsteller. Damit hatten Herkunft, sozialer Status und örtliche Nähe des Verfolgten in hohem Maße Auswirkung auf dessen Erfolgsaussichten.

Diese regionalen Unterschiede machen deutlich, wie pragmatisch letztlich das Vorgehen der Rentenversicherer war, und zeigen ferner, welch entscheidende Rolle die Sozialgerichtsbarkeit einnahm. Ganz offensichtlich waren klägerfreundlichere Deutungen, als sie in Nordrhein-Westfalen vorgenommen wurden, anderswo möglich. Weitere Auseinandersetzungen in dieser durchaus unangenehmen Lage blieben den Ministerien vor allem deshalb erspart, weil das Bundessozialgericht in seiner wegweisenden Entscheidung Mitte 2009 eine eindeutige Kehrtwende der bisherigen Ghettorenten-Auslegung anordnete.

In Berlin setzte unmittelbar darauf das große Rechnen ein. Besonders das Bundesfinanzministerium erwies sich als Widerpart gegen großzügigere Regelungen für die Überlebenden. Man fürchtete steigende Ausgaben und Präzedenzwirkungen, die auch andere Opfergruppen nach Geld verlangen lassen könnten. In einer internen Besprechung zwischen Finanz- und Arbeitsministerium hieß es im Sommer 2009: „Minister Steinbrück habe die Weisung gegeben, strikt auf Begrenzung der finanziellen Auswirkungen zu achten.“[34] Doch schon bei der Konzipierung des ZRBG vor 2002 waren für sämtliche Überlegungen stets Kostenfragen zentral gewesen.[35]

Nach 2002 haben sich die Bundesministerien nicht mit den Auslegungsfragen des ZRBG beschäftigt und verteidigten stets den eingeschlagenen restriktiven Weg, selbst wenn für die außenpolitische Rechtfertigung eine durchaus absurde „Anerkennungsleistung“ notwendig war. Erst als 2008 Opfergruppen und die israelische Regierung immer lauter protestierten und sogar das Arbeitsministerium in Nordrhein-Westfalen der DRV Rheinland Zügel anlegte, fingen in Berlin Planungen an, die ZRBG-Praxis zu reformieren – erneut gegen den Widerstand des Bundesfinanzministeriums. Aber auch in der Frage der Rückwirkung legte das BMAS kein besonderes Engagement an den Tag und wartete die nächste Entscheidung des Bundessozialgerichts ab. So erwies sich die Exekutive vorwiegend als hinhaltender Verteidiger einer Politik, die nicht vom Gedanken einer Gleichbehandlung jüdischer Arbeiter in der Rentenversicherung, sondern von den Finanznöten des Staates bestimmt wurde. Auch im Rahmen der Ghettorenten war die Auseinandersetzung mit den nationalsozialistischen Verbrechen lediglich eine von den Umständen diktierte Pflicht, die viele Probleme und Fehler aus dem 20. Jahrhundert wiederholte.


[1] Wolf Gruner, Der Geschlossene Arbeitseinsatz deutscher Juden. Zur Zwangsarbeit als Element der Verfolgung 1983-1943, Berlin 1996; erweitert u.d.T.: Jewish Forced Labor Under the Nazis. Economic Needs and Racial Aims, 1938-1944, New York 2006.

[2] Vgl. die Forschungsüberblicke bei: Christoph Dieckmann / Babette Quinkert, Einleitung, in: Im Ghetto 1939-1945. Neue Forschungen zu Alltag und Umfeld, hg. v. Christoph Dieckmann / Babette Quinkert, Göttingen 2009, S. 9-29; Dieter Pohl, Ghettos im Holocaust. Zum Stand der historischen Forschung, in: Ghettorenten. Entschädigungspolitik, Rechtsprechung und historische Forschung, hg. v. Jürgen Zarusky, München 2010, S. 39-50.

[3] Vgl. etwa Tatiana Berenstein, Praca przymusowa Żydów w Warszawie w czasie okupacji hitlerowskiej, in: Biuletyn Żydowskiego Instytutu Historycznego 45/46 (1963), S. 42–93; dies., Praca przymusowa ludności żydowskiej w dystrykcie Galicja, in: ebd. 69 (1969), S. 3-46; Adam Rutkowski, Hitlerowskie obozy pracy dla Zydów w dystrykcie radomskim, in: ebd. 17-18 (1956), S. 106-128.

[4]  The Yad Vashem Encyclopedia of the Ghettos During the Holocaust, hg. v. Guy Miron, Jerusalem 2009; The United States Holocaust Memorial Museum Encyclopedia of Camps and Ghettos 1933-1945. Volume II: Ghettos in German-Occupied Eastern Europe, hg. v. Martin Dean, Bloomington 2012.

[5] Dan Michman, Angst vor den „Ostjuden“. Die Entstehung der Ghettos während des Holocaust, Frankfurt 2011. Die folgende Charakterisierung auf S. 164-166.

[6] Dean, USHMM Encyclopedia of Camps and Ghettos, Volume II, Part A, S. XLIII.

[7] Vgl. etwa Gruner, Der Geschlossene Arbeitseinsatz, a.a.O.

[8] Archiwum Państwowe Lublin, Amt des Distrikts Lublin / 906. Protokoll über die Judeneinsatzbesprechung am 6.8.1940, vom 9.8.1940.

[9] Stephan Lehnstaedt, Die deutsche Arbeitsverwaltung im Generalgouvernement und die Juden, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 60 (2012), S. 409-440, hier S. 438f.

[10] Für eine Einordnung vgl. ders., Geschichte und Gesetzesauslegung. Zu Kontinuität und Wandel des bundesdeutschen Wiedergutmachungsdiskurses am Beispiel der Ghettorenten, Osnabrück 2011, S. 29-48.

[11] Bundesarchiv (künftig: BA), B 149 / 194039, unpaginiert (gesehen im BMAS im Dezember 2011). Sprechzettel für die 102. Sitzung des Haushaltsausschusses am 17.4.2002. Noch im Oktober 2003 waren die Rentenversicherer nicht in der Lage, auch nur eine ungefähre Schätzung über die Gesamtzahl der Antragsteller abzugeben: LVA Rheinprovinz, Az. IV Ausl. 445/03 (gesehen im MAIS NRW). LVA Rheinprovinz an Landesversicherungsamt NRW, 22.10.2003.

[12] Vgl. „Gemeinsame Arbeitsanweisungen LVA Rheinprovinz“ vom 6.9.2002 bzw. vom 6.1.2006. Abgedruckt in: Lehnstaedt, Geschichte und Gesetzesauslegung. a.a.O., S. 134-163.

[13] Kristin Platt, Bezweifelte Erinnerung, verweigerte Glaubwürdigkeit. Überlebende des Holocaust in den Ghettorenten-Verfahren, München 2012, S. 124-144.

[14] Schreiben des LSG NRW an den Verfasser, 18.3.2010.

[15] Statt vieler: SG Düsseldorf, S 22 R 327/05, Urteil vom 17.10.2006.

[16] BSG, B 13 R 28/06 R, Urteil vom 26.7.2007; BSG, B 4 R 29/06 R, Urteil vom 14.12.2006.

[17] BSG, B 4 R 29/06 R, Urteil vom 14.12.2006.

[18] Stephan Lehnstaedt, Ghetto-„Bilder“. Historische Aussagen in Urteilen der Sozialgerichtsbarkeit, in: Ghettorenten. Entschädigungspolitik, Rechtsprechung und historische Forschung, hg. v. Jürgen Zarusky, München 2010, S. 89-100, hier S. 98ff.

[19] Jürgen Zarusky, Hindernislauf für Holocaustüberlebende. Das „Ghettorentengesetz“ und seine Anwendung, in: Die Tribüne 47 (2008), S. 155-161, hier S. 159f.

[20] Vgl. „Geld nur gegen Geschichtsverfälschung? Zwangsarbeiterrichtlinie empört Holocaustüberlebende“, in: Jüdische Zeitung, Februar 2008, S. 2.

[21] Vortrag Noach Flugs auf der Tagung „’Ghettorenten’ und historische Forschung, Institut für Zeitgeschichte München, 9.4.2008. Vgl. auch Noach Flug, Shoah und Entschädigung, in: Zarusky (Hg.), Ghettorenten, a.a.O., S. 79-88.

[22] Exemplarisch: BMAS-Az. 43754/40, 41, 42. VDR an BMAS, 30.1.2003, auf Zeichen IVb1-43/2344 des BMAS.

[23] BMAS-Az. 43754/25. BMAS an MAIS NRW, 24.11.2004.

[24] Deutscher Bundestag, Drucksache 16/1955, 26.6.2006.

[25] Deutscher Bundestag, GS-Ausschussdrucksache 0825, 28.2.2005.

[26] BMAS-Az. 43754/93-96. BMAS an Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales NRW, 21.10.2008.

[27] BMAS-Az. IVb 1 – 43754/103. Internes Schreiben des BMAS an den Minister, 9.4.2009.

[28] BMAS-Az. 43754/103. Bundesfinanzministerium (Minister) an BMAS, 28.4.2009. BMF-Az.: V B 4 – O 1473/08/10001.

[29] DRV Rheinland, Vermerk vom 31.3.2009, ohne Az. (gesehen im MAIS NRW). Handschriftlicher Vermerk: „Vertraulich“.

[30] BSG, B 13 RJ 59/03, Urteil vom 7.10.2004. In diesem Sinne auch BSG, B 13 RJ 370/04, Urteil vom 20.7.2005; B 13 RJ 28/06, Urteil vom 26.7.2007.

[31] BSG, B 4 R 29/06, Urteil vom 14.12.2006.

[32] Schreiben von Annett Wittenberg, Richterin am SG Hamburg, an den Verfasser, 3.3.2010.

[33] Eine unvollständige Liste mit 231 Anerkenntnissen bzw. Vergleichen liegt dem Autor vor.

[34] Gedächtnisprotokoll zur Ressortbesprechung, 16.6.2009, Aktenzeichen des Bundesfinanzministeriums: IV B 4 – O 1473/06/10001:002, sowie Klemm/2009/0412321/Caster.

[35] BA, B 149 / 194038, unpaginiert (gesehen im BMAS im Dezember 2011). Entwurf über ein Ghettorentengesetz), 13.12.2001; ebenda, B 149 / 194032. Internes Schreiben BMAS, 20.12.2001.

Dr. Stephan Lehnstaedt ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Historischen Institut Warschau

Quelle: http://mws.hypotheses.org/1614

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Europe Body Count

Editorial notice: The following text is written by Nicolas Kayser-Bril, a french journalist and a pioneer in advanced data journalism. Some of his projects are highly relevant for the digital history community and we are very glad to have Nicolas presenting his new project here at hist.net! You can contact Nicolas at nkb@jplusplus.org. (ph) A [...]

Quelle: http://weblog.hist.net/archives/6507

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Archivreport digital: Archiv des Internationalen Suchdienstes in Bad Arolsen

Das Hessische Fernsehen berichtete in März 2012 über das sogenannte “Holocaust-Archiv”, welches Dokumente und Habseligkeiten von Opfern des Nationalsozialismus verwahrt, um Auskünfte über den Verbleib von vermissten Personen geben zu können. Via Archivalia [06.04.2012], http://archiv.twoday.net/stories/96988033/

Quelle: http://www.einsichten-online.de/2012/09/3291/

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