Zitierpflicht für Wikipediaartikel – und wenn ja, für welche und wie?

Enzyklopädische Artikel aus Projekten wie dem Brockhaus oder der Encyclopedia Britannica können in wissenschaftlichen Arbeiten nicht zitiert werden, denn die Autoren1 der Artikel sind nur der Redaktion bekannt, nicht aber dem Leser. Dabei verfügen die ehemaligen Autoren der Brockhaus-Artikel über hohe wissenschaftliche Qualifikation, über 51 Prozent sind habilitiert, ein weiteres Drittel ist promoviert und die Verbleibenden besitzen einen universitären Abschluss.2

Ganz anders und doch vergleichbar sollte es bei der Online-Enzyklopädie Wikipedia sein. Etwa sieben Prozent der angemeldeten Autoren sind promoviert3 und von vielen Autoren ist der Stand ihrer Ausbildung nicht bekannt. Den Artikeln können zwar Autoren zugeordnet werden, aber nur wenige der Autoren melden sich unter ihrem Klarnamen an. Der ganz überwiegende Teil der angemeldeten Autoren schreibt im Schutz eines Pseudonyms. Mehr noch, bei der Hälfte aller Veränderungen werden nur die Internetprotokoll-Adresse (IP) der Rechner, von denen diese Veränderungen ausgingen gespeichert. Wer der Autor ist, bleibt völlig unklar.

Unter diesen Voraussetzungen ist es kaum möglich einen Wikipedia-Artikel sauber, und wissenschaftlich korrekt zu zitieren, egal mit welcher Sorgfalt es versucht wird. Zwar ist es möglich auf sogenannte feste Versionen zu verlinken, deren Text so unveränderlich wie ein gedruckter ist, aber das Problem der fehlenden Zuordnung zu einem oder mehreren Autor/en bleibt.4 Dieser Status quo – die Wikipedianer wünschen sich zitiert zu werden, die Wissenschaft kann nicht zitieren, weil die Autorenangaben fehlen – hat sich seit Jahren kaum geändert, oder wie es aktuell formuliert wurde: „Jeder benutzt sie, keiner zitiert sie“.5

Allerdings gibt es drei Bedingungen, die, wenn sie erfüllt sind, dazu führen sollten, dass ein Artikel der Wikipedia wissenschaftlich korrekt mit Autorenangabe zitiert werden könnte. Diese Bedingungen sind zwar schwer zu erreichen, aber bei momentan 1,7 Mio. Artikeln in der deutschsprachigen Wikipedia, sollte es doch einige geben, die diese Anforderungen erfüllen. Wohlgemerkt, es geht hier nicht darum, einen Weg zu suchen, alle Wikipediaartikel wissenschaftlich zitierfähig zu machen – das kann aufgrund der von einem kollaborativen Ansatz ausgehenden Gesamtkonstruktion nicht funktionieren –, sondern umgekehrt zu schauen, unter welchen Bedingungen Artikel zitiert werden könnten und dann aber auch zitiert werden müssten, da sie einem oder mehreren Autor/en klar zuordenbar sind.

Die drei Bedingungen sind folgende: (1) Klarname: Der Hauptautor muss namentlich bekannt sein, (2) quantitativer Anteil: dessen Anteil am Text muss eine bestimmte Grenze überschreiten und (3) qualitative Korrektheit: der Autor muss die Korrektheit der zitierten Artikelversion verantworten.

Nun bietet die Wikipedia-Datenbank alle Möglichkeiten, um die Erfüllung dieser Bedingungen zu überprüfen.

Denn neben den Texten der Artikel speichert die Datenbank auch alle Veränderungen und alle zugehörigen Autoren zeichengenau in der Versionsgeschichte ab. Aufgrund dieser Metadaten lässt sich exakt nachweisen, wer wann welches Zeichen geschrieben oder verändert hat. Im Durchschnitt stehen pro Artikel etwa 50 Versionen zur Verfügung. Diese Daten „von Hand“ durchzuschauen ist äußerst zeitaufwendig, seit einigen Jahren haben Programmierer aber Werkzeuge (weiter-)entwickelt, mit denen sich die Versionsgeschichte maschinell auswerten lässt. So kann leicht und schnell ermittelt werden, wie groß der quantitative Anteil eines Autors am Artikeltext ist.6 Für diese Autorenanteile wurden Durchschnittswerte ermittelt: So verfassen etwa 2,6 Nutzer mehr als fünf Prozent eines Artikeltextes. Im Schnitt schreibt ein Hauptautor etwa 70 Prozent des Textes und ein zweiter Autor trägt noch einmal 13 Prozent bei. Im Durchschnitt lassen sich also 83 Prozent eines Artikels zwei Autoren eindeutig zuordnen.7

Natürlich gibt es auch viele Artikel, an denen über 3 000 Autoren mitgeschrieben haben und an denen aufgrund der hohen Dichte verschiedener Bearbeiter kaum jemand mehr als zehn Prozent beigetragen hat.8 Bei diesen Artikeln erreicht kein Autor die Grenze der eindeutigen Zuordenbarkeit und die Artikel sind deshalb nicht zitierfähig.

Um zitierfähige und damit auch zitierpflichtige Artikel zu sein, müssen die oben genannten Bedingungen wie folgt erfüllt sein:

(1) Der Hauptautor muss sich unter seinem Klarnamen angemeldet haben. Dies betrifft momentan etwas über sieben Prozent aller angemeldeten Autoren.9 Die Möglichkeit zu den im Artikel gegebenen Informationen eine reale Person zuzuordnen, ist nur bei diesen gegeben.10

(2) Beim quantitativen Anteil sollten mindestens die Durchschnittswerte überschritten sein, der erste Hauptautor sollte also mindestens 70 Prozent und der zweite Hauptautor mindestens 13 Prozent des Artikels verfasst haben. Oder der Anteil eines einzelnen Hauptautors am Text muss über diesen 83 Prozent liegen. Je spezieller ein Thema, umso eher ist diese Bedingung erfüllt. Je allgemeiner, umso mehr Autoren fühlen sich berufen kollaborativ etwas beizutragen.

(3) Der Hauptautor muss die qualitative Korrektheit der Artikelversion garantieren. Er verantwortet, dass beispielsweise ein falsch eingefügtes „nicht“ den Sinn nicht komplett entstellt, sondern wieder entfernt wird. Dies ist am meisten gegeben bei Artikeln, die durch einen Begutachtungsprozess gelaufen sind und als Prädikat den Status „Lesenswert“ oder „Exzellent“ erhalten haben. Bei der Version, die am Ende dieser Begutachtung steht, ist vergleichsweise sicher, dass der Hauptautor alle Veränderungen aktiv beobachtet hat und diese Artikelversion korrekt ist.

Artikel für die diese drei Bedingungen erfüllt sind, Klarname des Autors bekannt, Autor ist quantitativ für mindestens 83 Prozent des Textes verantwortlich und zum Zeitpunkt einer Begutachtung steht der Autor dafür ein, dass diese Artikelversion qualitativ korrekt ist, wären zitierfähig.

Als Beispiele sollen hier zwei Artikel von Frank Schulenburg genannt werden. Der Autor ist der sogenannten Wikipedia-Community vertraut, war er doch 2005 Administrator der Wikipedia und hat in größerer Zahl Edits beigetragen. Er ist aber auch im Wissenschaftsbereich bekannt, hat an der Universität Göttingen studiert und arbeitet heute im Wikipedia-Hochschulprogramm in den Vereinigten Staaten. Da er unter seinem Klarnamen bekannt ist und auch so bei Wikipedia angemeldet, wäre damit die erste Bedingung (Klarname) erfüllt.

Am Wikipediaartikel über den französischen Autor „Claude Bourgelat“ hat Frank Schulenburg etwa 96 Prozent geschrieben. Da die Anteile aller anderen Autoren sich auf die Korrektur von Formalien und Tippfehlern beschränken, wäre auch die zweite Bedingung (quantitativer Mindestanteil) erfüllt. Zudem wurde der Artikel „Claude Bourgelat“ am 26. April 2008 nach einem von Frank Schulenburg begleiteten Begutachtungsprozess in die Liste der exzellenten Artikel aufgenommen. Der Hauptautor steht dafür, dass diese Version qualitativ korrekt ist, damit wäre auch die dritte Bedingung erfüllt. Werden nun Informationen aus diesem Artikel zitiert, müsste also korrekt angegeben werden:

Art. „Claude Bourgelat“, bearb. von Frank Schulenburg u.a., in: Wikipedia, Die freie Enzyklopädie. Bearbeitungsstand: 7. Oktober 2013, 11:53 UTC. URL: http://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Claude_Bourgelat&oldid=123217566 (Abgerufen: 8. Mai 2014).

Das gleiche gilt beispielsweise für die Artikel zu „John Hunter (Chirurg)“11 oder zu „Johann Heinrich Zedler“12, bei denen Frank Schulenburg 90 und 92 Prozent verfasst hat. Oder für verschiedene Artikel des mit seinem Klarnamen angemeldeten Historikers Hans-Jürgen Hübner, wie die „Geschichte der Tr’ondek Hwech’in First Nation“13, die „Urgeschichte Italiens“14, die „Wirtschaftsgeschichte der Republik Venedig“15 oder der Artikel zum „Francesco Datini“16, die Anteile Hübners liegen hier bei 98 Prozent, zwei Mal 96 Prozent und 91 Prozent.

Die Zahl der solchermaßen zitierfähigen Artikel kann aufgrund der kollaborativen Arbeit nicht sehr hoch sein, aber es macht künftig eine grundsätzliche Prüfung notwendig, wenn aus der Wikipedia Informationen entnommen werden, ob damit nicht in dem Fall gegen die mögliche Zitierpflicht mit Autorenangabe verstoßen wird. Es gibt also künftig nicht mehr einfach die Ausrede „Jeder benutzt sie, keiner zitiert sie“, sondern für jede einzelne Information ist zu prüfen – und das ist der große Unterschied zu den früheren gedruckten Enzyklopädien wie Brockhaus oder Encyclopedia Britannica – ob nicht gerade dieser Artikel die Hürden für die Zitierfähigkeit überschreitet und dann zitiert werden muss.

Die Wikipedia sollte die notwendigen Werkzeuge schnell allen Benutzern der Datenbank verfügbar machen, denn die Benutzer kommen nach dem Gesagten um eine genaue Prüfung, zur Vermeidung von Verstößen gegen das Urheberrecht, nicht mehr herum. Auch der Verweis darauf, dass die Wikipediainhalte ja vermeintlich frei sind, ändert daran nichts, denn die zugrundeliegende Creativ Commons Lizenz beinhaltet explizit die „Namensnennung — Sie müssen die Urheberschaft ausreichend deutlich benennen, einen Link zur Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden. Diese Angaben dürfen in jeder angemessenen Art und Weise gemacht werden, allerdings nicht so, dass der Eindruck entsteht, der Lizenzgeber unterstütze gerade Sie oder Ihre Nutzung des Werks besonders.“17

Künftig gilt für den Umgang mit der Wikipedia: Jeder der sie benutzt, muss prüfen, ob er sie unter bestimmten Umständen nicht sogar mit Autorenangabe zitieren muss.

1     Wenn im Folgenden überwiegend die Form „Autor“ oder „Hauptautor“ verwendet wird, hat dies allein Lesbarkeitsgründe, mitzudenken sind sowohl die Formen „Autorin“ oder „Hauptautorin“ sowie „Autoren“ oder „Hauptautoren“.

2     Vgl. Brockhaus, 17. Auflage, Band 20: Wam-ZZ, Wiesbaden 1974, S. 827–835: Bei 1445 namentlich aufgelisteten Autoren. Der Anteil der Autorinnen liegt bei nur sechs Prozent.

3     Vgl. Ruediger Glott, Philipp Schmidt, Rishab Ghosh: Wikipedia Survey – Overview of Results. 2010. Online: http://www.wikipediasurvey.org/docs/Wikipedia_Overview_15March2010-FINAL.pdf (Abgerufen: 13.12.11), S. 7.

4     Johannes Becher, Viktor Becher: Gegen ein Anti-Wikipedia-Dogma an Hochschulen. Warum Wikipedia-Zitate nicht pauschal verboten werden sollten, in: Forschung und Lehre 18 (2011), H. 2, S. 116–118; Maren Lorenz: Der Trend zum Wikipedia-Beleg. Warum Wikipedia wissenschaftlich nicht zitierfähig ist, ebd., S. 120–122.

5     Stellungnahme des Verlags C. H. Beck zu Plagiatsvorwürfen bezüglich des Buches „Große Seeschlachten. Wendepunkte der Weltgeschichte von Salamis bis Skagerrak“ (München 2013), vgl. online: http://chbeck.de/_assets/pdf/pm_grosse-seeschlachten.pdf (Abgerufen: 9. Mai 2014).

6     Vgl. online: https://de.wikipedia.org/wiki/Benutzer:APPER/WikiHistory (Abgerufen: 9. Mai 2014) und online: https://de.wikipedia.org/wiki/Benutzer:APPER/WikiHistory/Programm (Abgerufen: 11. Mai 2014).

7     Vgl. online: https://de.wikipedia.org/wiki/Benutzer:APPER/WikiHistory/Autorenbestimmung (Abgerufen: 11. Mai 2014).

8     Beispielsweise der Artikel „Deutschland“ mit 3 460 Bearbeitern, vgl. online: https://de.wikipedia.org/wiki/Deutschland (Abgerufen: 9. Mai 2014).

9     Vgl. die Erhebung von Jürgen Engel im Jahr 2011 unter online: http://gemekon.de/dokumente/protokoll.pdf (Abgerufen: 11. Mai 2014), S. 2.

10    Zusätzlich zur Klarnamenanmeldung, die missbraucht werden könnte, gibt es die Möglichkeit das Benutzerkonto gegenüber dem Support-Team mit der E-Mail-Adresse einer Institution zu verifizieren.

11    Art. „John Hunter (Chirurg)“, bearb. von Frank Schulenburg u.a., in: Wikipedia, Die freie Enzyklopädie. Bearbeitungsstand: 15. November 2013, 08:52 UTC. URL: http://de.wikipedia.org/w/index.php?title=John_Hunter_(Chirurg)&oldid=124478660 (Abgerufen: 15. Mai 2014).

12    Art. „Johann Heinrich Zedler“, bearb. von Frank Schulenburg u.a., in: Wikipedia, Die freie Enzyklopädie. Bearbeitungsstand: 25. Februar 2014, 18:38 UTC. URL: http://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Johann_Heinrich_Zedler&oldid=127940244 (Abgerufen: 8. Mai 2014).

13    Art. „Geschichte der Tr’ondek Hwech’in First Nation“, bearb. von Hans-Jürgen Hübner u.a., in: Wikipedia, Die freie Enzyklopädie. Bearbeitungsstand: 2. Mai 2014, 21:01 UTC. URL: http://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Geschichte_der_Tr%E2%80%99ondek_Hwech%E2%80%99in_First_Nation&oldid=130047818 (Abgerufen: 15. Mai 2014).

14    Art. „Urgeschichte Italiens“, bearb. von Hans-Jürgen Hübner u.a., in: Wikipedia, Die freie Enzyklopädie. Bearbeitungsstand: 5. Mai 2014, 13:47 UTC. URL: http://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Urgeschichte_Italiens&oldid=130119732 (Abgerufen: 8. Mai 2014).

15    Art. „Wirtschaftsgeschichte der Republik Venedig“, bearb. von Hans-Jürgen Hübner u.a., in: Wikipedia, Die freie Enzyklopädie. Bearbeitungsstand: 6. Mai 2014, 06:21 UTC. URL: http://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Wirtschaftsgeschichte_der_Republik_Venedig&oldid=130140526 (Abgerufen: 8. Mai 2014).

16    Art. „Francesco Datini“, bearb. von Hans-Jürgen Hübner u.a., in: Wikipedia, Die freie Enzyklopädie. Bearbeitungsstand: 28. März 2014, 09:49 UTC. URL: http://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Francesco_Datini&oldid=128974223 (Abgerufen: 15. Mai 2014).

17    Vgl. online: http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/deed.de (Abgerufen: 9. Mai 2014).

Download PDF

Quelle: http://mittelalter.hypotheses.org/3721

Weiterlesen

Mittelalterarchäologie, eine hochspekulative Wissenschaft?

Am Ende eines aktuellen Artikels in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zu den Plagiatsvorwürfen gegen Olaf Rader bezeichnet Patrick Bahners die Mittelalterarchäologie an sich als hochspekulativ:

„Aber warum unterbricht der Biograph seine Schilderung der Schlacht von Bouvines, um ein Mikroepochenschema aus einer hochspekulativen Disziplin wie der Mittelalterarchäologie als sicheres Wissen zu präsentieren?“[1]

Patrick Bahners wirft Olaf Rader nicht nur Plagiate, sondern zusätzlich das Einflechten eines mittelalterarchäologischen Exkurses vor. Mit anderen Worten: Schlimm genug, dass Herr Raders plagiiert. Nein, er zieht zudem Erkenntnisse aus der hochspekulativen Mittelalterarchäologie heran.

Es geht uns hier explizit nicht darum, Herrn Raders Arbeitsweise in Schutz zu nehmen, sondern wir sehen hier unser eigenes Fach, die Mittelalterarchäologie, falsch dargestellt.

Der Autor Patrick Bahners bezeichnet die gesamte Fachrichtung als hochspekulativ und das ist völlig unzutreffend. In der Mittelalterarchäologie wird durch die Analyse der bei der Grabung gewonnenen Stratigraphie die relative Chronologie eines Fundplatzes gesichert bestimmt. Zur Datierung der Phasen zieht sie als historische Disziplin neben den schriftlichen Quellen auch immer die vielfältigsten naturwissenschaftlichen Methoden, wie z. B. die Dendrochronologie und die C14-Methode, heran, um zu gesicherten Ergebnissen zu kommen, die eben nicht hochspekulativ sind.

[1] FAZ Feuilleton vom 5. Mai 2014: http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/forschung-und-lehre/der-plagiatsfall-grosse-seeschlachten-12924883.html

Dr. Kai Thomas Platz und Maxi Platz M.A.

Quelle: http://mittelalter.hypotheses.org/3670

Weiterlesen

DFG-Projekt: Historische Bio-Bibliographien als OPAC-Bausteine an den Monumenta Germaniae Historica

Durch das vom 01. Juni 2011 bis 30. Mai 2013 von den Monumenta Germaniae Historica bearbeitete DFG-Projekt „Historische Bio-Bibliographien als OPAC-Bausteine“ wurde eine Web 2.0-kompatible Erweiterung der Sacherschließung im OPAC der MGH-Bibliothek vorgenommen. Sie erfolgte durch die Einbindung der Personennamen aus der Gemeinsamen Normdatei GND (bzw. vorher der Personennamendatei PND) der Deutschen Nationalbibliothek auf Grundlage bereits digitalisierter historischer Bio-Bibliographien.

Die Bibliothek der MGH als international renommierte Spezialbibliothek mit ca. 140.000 Bänden und umfangreichste Sondersammlung für das europäische Mittelalter trug mit dem Projekt zur Verbesserung einer wissenschaftlich gesicherten Erschließung mittelalterlicher Personen bei. Durch den Abgleich mit der Normdatei GND werden die digitalisierten Bio-Bibliographien in kritischer Form neu für die wissenschaftliche Nutzung zur Verfügung gestellt.

1.) Historische Bio-Bibliographien

Grundlage des Projekts waren folgende Werke:

- Trithemius, Johannes: Liber de scriptoribus ecclesiasticis. Basileae: Amerbach 1494 (= Hain 15613; Klebs 0990,1; BMC III 755; BSB-Ink T-459), http://www.mgh-bibliothek.de/cgi-bin/trithemius.pl?blatt=-5&rv=r

- Fabricius, Johann Albert: Bibliotheca latina mediae et infimae aetatis (5 Bde., 1734- 1736), (Digitalisat der neusten Ausgabe in 3 Bänden, ed. D. Mansi, Florenz 1858), http://www.mgh.de/bibliothek/digitale-bibliothek/hifo/fabricius/

Obwohl sachlich überholt, handelt es sich beim „Liber de scriptoribus ecclesiasticis“ von Trithemius um eine bedeutende Quelle zur spätmittelalterlichen Bildungsgeschichte. Die „Bibliotheca latina mediae et infimae aetatis“ steht in der Tradition des Trithemius, den Fabricius – neben zahlreichen frühneuzeitlichen bio-bibliographischen Verzeichnissen und Quellenzusammenstellungen – nahezu vollständig ausgewertet hat.

Für die einzelnen Lemmata der beiden Bio-Bibliographien wurden jeweils eigene, über den OPAC der MGH-Bibliothek abrufbare Datensätze angelegt. Trotz der Abhängigkeit des Fabricius von Trithemius kam es nicht zu einer werkübergreifenden Zusammenführung der Lemmata.

Zusätzlich wurde im Projektzeitraum erschlossen:

- Trithemius, Johannes, Cathalogus illustrium virorum, Mainz 1495 (=Hain 15615)

Die MGH-Bibliothek stellt in ihrem OPAC darüber hinaus in gleicher Weise die Lemmata der im Internet verfügbaren „Catholic Encyclopedia (CE)“ und des „Bio-Bibliographischen Kirchenlexikons (BBKL)“ aus dem Bautz-Verlag zur Verfügung.

2.) Durchgeführte Arbeiten

Die in den Lemmata der digitalisierten Bio-Bibliographien verzeichneten mittelalterlichen (bei Trithemius teils antiken) Autoren wurden mit der Gemeinsamen Normdatei (GND) der Deutschen Nationalbibliothek abgeglichen. Im Fall eines bereits existierenden Personensatzes der GND erfolgte dessen Einspielung in den MGH-OPAC unter Verknüpfung mit den entsprechenden Datensätzen aus Trithemius und Fabricius. Bei diesen übernommenen GND-Datensätzen musste in etwa 300 Fällen eine Änderung vorgenommen werden. Diese bezog sich meist auf die Ergänzung von Verweisungsformen bei den Namen. Bei rudimentären GND-Sätzen waren teilweise aber die Zufügung biographischer Informationen zur Verbesserung der Erschließung, aber auch Korrekturen nötig.

Für Autoren, die bisher noch nicht in der Normdatei der GND erfasst waren, mussten Neuansetzungen vorgenommen werden. Im Zeitraum des Gesamtprojekts wurden dabei neue GND-Sätze für ca. 1450 Personen angelegt. Die Recherchen stützten sich in erster Linie auf BISLAM (Online-Datenbank im System „Mirabile“ von SISMEL in Florenz) und dem auf Mikrofiche publizierten „Biographical Archive of the Middle Ages“ (BAMA/WBIS) des Saur-Verlags. Darüber hinaus wurden weitere digitale und gedruckte Nachschlagewerke wie das „Oxford Dictionary of National Biography“ oder das „Dizionario Biografico degli Italiani“ herangezogen.

Bei der Abgleichung wie Neuerstellung von GND-Sätzen ergaben sich verschiedene Probleme. Aufgrund der häufig sehr unzureichenden Informationen bei Fabricius stellte sich die Überprüfung einzelner von ihm lemmatisierter Personen an den Ergebnissen wissenschaftlicher Forschung in manchen Fällen sehr schwierig dar. Sie verlangte daher einen langwierigeren Rechercheaufwand, der sich aber als notwendig erwies, um falsche Neuansetzungen, und damit Doppelungen, zu vermeiden. Problematisch erschien auch die Neuansetzung von Autoren, die trotz ausführlicher biographischer Hinweise von Fabricius nicht in neueren Nachschlagewerken oder neuerer Forschungsliteratur nachgewiesen werden konnten. In solchen Fällen wurde bei der Anlegung des GND-Satzes ausdrücklich auf die unsichere Identität der Person hingewiesen.

Zu den Problemen bei der Umsetzung historischer Namenszeugnisse auf eine Normdatenbank siehe den Aufsatz der Projektbearbeiterin: „DFG-Projekt ‚Historische Bio-Bibliographien als OPAC-Bausteine’ an den Monumenta Germaniae Historica – Probleme bei der Erschließung mittelalterlicher Personennamen“ (in: Bibliothek. Forschung und Praxis, Preprint-Artikel: http://www.mgh-bibliothek.de//dokumente/b/b072526.pdf)

3.) Errichtung einer BEACON-Schnittstelle

Um die Personendaten über die PND/GND und den MGH-OPAC hinaus nutzen zu können, wurde eine BEACON-Schnittstelle geschaffen.

Folgende BEACON-Dateien sind über die Homepage der MGH zu erreichen:

- http://www.mgh-bibliothek.de/beacon/trithemius

- http://www.mgh-bibliothek.de/beacon/trithemius_cathalogus

- http://www.mgh-bibliothek.de/beacon/fabricius

- http://www.mgh-bibliothek.de/beacon/mghopac

- http://www.mgh-bibliothek.de/beacon/cathen

Diese BEACON-Dateien sind in technischer Form über folgende URL verfügbar, wobei für “GND” die jeweilige GND-Nummer zu setzen ist: http://www.mgh.de/services/seealso/?id=GND

Die Schnittstelle ist dokumentiert unter:

http://www.mgh.de/datenbanken/beacon/

Für die externen Links wird der SeeAlso-Service von beacon.findbuch.de abgefragt. Alle BEACON-Dateien wurden im zentralen Nachweis bei der Wikipedia eingetragen (http://de.wikipedia.org/wiki/Wikipedia%3ABEACON). Die spezielleren Angebote „Fabricius“ und „Trithemius“ fanden Aufnahme unter die „weiteren Informationen“ des ABD/NDB-Portals in der neugeschaffenen Rubrik „historische Lexika“ (vgl. z.B. http://www.deutsche-biographie.de/sfz64782.html#adb für Johannes Trithemius als historische Person).

4.) Ergebnisse

Durch die Vernetzung der Personenerschließung des MGH-OPAC und der Erschließung der Digitalisate zu einem Web 2.0-kompatiblen Gesamtangebot ergibt sich ein Beitrag zur Anreicherung der Literaturerschließung. Der OPAC wird als bibliographisches Subsystem für beliebige Web-Angebote nutzbar. Die Gemeinsame Normdatei (GND) erfährt eine Erweiterung durch die Neuanlegung von Datensätzen zu bisher nicht erschlossenen mittelalterlichen Autoren. Das Projekt stellt insgesamt die Voraussetzung für ähnlich gelagerte künftige Erschließungen historischer Forschungsumgebungen wie z.B. der Magdeburger Centurien dar.

Quelle: http://mittelalter.hypotheses.org/3137

Weiterlesen

Review: 3. Alfried Krupp-Sommerkurs für Handschriftenkultur an der Universitätsbibliothek Leipzig (8.-14.9.2013)

Renaissance der Sommerkurse

Wenn sich der Sommer und die Vorlesungszeit ihrem Ende entgegen neigen, beginnt für den akademischen Nachwuchs die Zeit der Sommerkurse. Gerade im Bereich der mediävistischen Hilfswissenschaften scheint sich diese Form der Fortbildung zunehmender Beliebtheit zu erfreuen, wie zwei unlängst auf diesem Portal erschienene (und sehr positive) Erfahrungsberichte vermuten lassen.

Auch die Universitätsbibliothek Leipzig bietet seit drei Jahren Sommerkurse für Handschriftenkultur an, deren Realisierung sich der großzügigen Förderung der Alfried Krupp von Bohlen und Halbach Stiftung (kurz: Krupp-Stiftung) verdankt. Ein Kurs zur mittelalterlich-abendländischen Handschriftenkunde konnte vom Handschriftenzentrum der UB Leipzig im September diesen Jahres in Zusammenarbeit mit dem Mediävisten-Verband zum zweiten Mal stattfinden .

Diese zunehmende Häufung solcher Kursangebote hat dabei nicht etwa zu einem redundanten Überangebot geführt, im Gegenteil: Das Panorama der handschriftenzentrierten Sommerkurse in Deutschland erscheint durch eine jeweils eigene Schwerpunktsetzung erfreulich bunt.

Von eher inhaltlich orientierten Kursangeboten, etwa dem Sommerkurs in Wolfenbüttel, reicht die Palette über im klassischen Sinne hilfswissenschaftliche Fortbildungsangebote, wie den kürzlich rezensierten Münchner Sommerkurs, bis zum umfangreichen Lehrgang SCRIPTO (und diese Liste ließe sich sicherlich beliebig fortsetzen). Sommerkurse bieten damit damit zunehmend eine notwendige und sinnvolle Ergänzung zum Curriculum an den Universitäten, an der die historischen Grundwissenschaften ja bekanntermaßen im Schwinden begriffen sind.

Handschriftenkultur im Fokus

Auch der Leipziger Sommerkurs unter der Leitung von Dr. Christoph Mackert hat einen ganz eigenen Zugang und Schwerpunkt gewählt und damit mit den Worten des Kursleiters „ein Experiment gewagt“, das meiner Ansicht nach durchaus geglückt ist. Ein weiterer – nunmehr dritter – Erfahrungsbericht auf diesem Blog scheint daher durchaus gerechtfertigt.

Die „Leipziger Schule“ zeichnet sich dabei durch einen fast schon holistischen Ansatz aus, der nicht nur einzelne Aspekte der Handschriftenkunde in den Blick nimmt, sondern sich im Grunde der Handschriftenkultur des Mittelalters als Ganzes widmet. Neben einer inhaltlichen Erschließung dieses breiten Feldes liegt eine Besonderheit des Kurses in der umfangreichen und (angeleitet) selbstständigen Arbeit der Teilnehmer mit dem Originalmaterial, den Handschriften. Thematischer Schwerpunkt des diesjährigen Kurses war vor allem der Bereich der Musikpaläographie und Liturgie. Trotz der fundamentalen Rolle dieser Bereiche für die mittelalterliche Kultur betrat der überwiegende Großteil der Teilnehmer mit dieser Themensetzung #Neuland, ein Umstand, der sicherlich als Verdienst des Kurses zu gelten hat.

Kursprogramm

Während der erste Leipziger Sommerkurs 2011 sich als Einführung in die Bearbeitung historischer Buchbestände und das Erkenntnispotential materialbasierten Forschens verstand, richtete sich der diesjährige Kurs an fortgeschrittenere Teilnehmer, die sich im Rahmen einer Abschlussarbeit oder Dissertation bereits mit den Grundlagen der Handschriftenarbeit vertraut gemacht haben. Die Einheiten des Kurses konzentrierten sich daher weniger auf das grundsätzliche Arbeiten mit Handschriften, sondern mehr auf die inhaltliche Vertiefung verschiedener Bereiche der Handschriftenkultur des Mittelalters.

Trotzdem begann der Kurs mit einer knappen und sinnvollen paläographischen Einheit durch Prof. Gerlinde Huber-Rebenich (Universität Bern). Hier wurden die Kenntnisse der Teilnehmer aufgefrischt und gute Tipps aus der paläographischen Praxis vermittelt.

Dieser handwerklichen Einführung folgte am Dienstag ein sehr dichter inhaltlicher Einführungsteil unter dem Schlagwort „Textüberlieferung des Mittelalters“. In jeweils etwa einer halben Stunde stellten ausgewiesene Experten einen(/ihren), für die Handschriftenkultur des Mittelalters relevanten Bereich vor: zunächst Dr. Chris Wojtulewicz (King’s College London) den Bereich der Theologie; dann Prof. Susanne Lepsius (Universität München) Recht; Prof. Iolanda Ventura (Université d’Orléans) führte in das Gebiet der mittelalterlichen Medizin ein; Dr. Mackert endete mit einer Übersicht über die Artes liberales. Neben einer systematischen Einführung wurde hier vor allem die handschriftliche Praxis des jeweiligen Gebietes vermittelt.

IMG_8889

Chris Wojtulewicz stellt theologische Handschriften vor

Das Konzept einer halbstündigen Einführung mag vielleicht dem jeweiligen Kenner der Disziplinen als nicht ausreichend erscheinen. Für die wirklich interdisziplinäre Gruppe stellte es sich aber als hervorragend geeignet heraus, um die Teilnehmer für bislang (in unterschiedlichem Maße) fremde Disziplinen zu sensibilisieren. Dieser ganze Block war inhaltlich und zeitlich ziemlich dicht, die kurzweiligen und vor allem praxisnahen Vorträge aber noch im Bereich des Aufnehmbaren.

Während die inhaltliche Sitzung am Dienstag Bereiche behandelte, die den meisten Teilnehmern wohl irgendwie geläufig waren, so führten die Einheiten von Mittwoch und Donnerstag den Großteil von ihnen auf unbekanntes Terrain. In zwei größeren Blöcken stellten Prof. Jeremy Llewellyn (Schola Cantorum Basiliensis) und Prof. Felix Heinzer (Universität Freiburg) die mittelalterliche Musik und Liturgie bzw. die musikalische und liturgische Handschriftenkultur vor. Dieses Feld, das wohl einen der wichtigsten Bereiche der mittelalterlichen Kultur und ihrer handschriftlichen Überlieferung darstellt, wird außerhalb der jeweiligen Spezialdisziplin häufig leider nicht ausreichend vermittelt. Schnell wurde deutlich, dass dieser Umstand wohl auch in der hohen Komplexität des Materials begründet liegt.

IMG_8907

Jeremy Llewellyn erklärt mittelalterliche Notationssysteme

Trotzdem gelang es beiden Dozenten eine Basis zu vermitteln und vor allem Interesse zu wecken, auf das sich aufbauen lässt: Zunächst führte Jeremy Llewellyn anhand des Leipziger Thomas-Graduale in das weite Feld der mittelalterlichen Musik, vor allem aber in die Musikpaläographie ein. Dass es ihm dabei gelang, Historikern, Skandinavisten, Germanisten, Anglisten, Buchwissenschaftlern und Kunsthistorikern (und natürlich -innen) in ca. anderthalb kurzweiligen Stunden (unter vielem anderen) den Unterschied von adiastematischen und diastematischen Neumen zu verdeutlichen, spricht auch hier für die Qualität der Lehreinheiten.

 

Am nächsten Tag vermittelte Felix Heinzer die Grundlagen zur Erschließung liturgischer Handschriften und deren historischen Kontexts in Messe und Offizium in ähnlicher Weise. Musik- und Liturgiewissenschaftler wurden die Teilnehmer dadurch natürlich nicht, sicherlich konnte aber die Scheu vieler Teilnehmer vor diesen Handschriften und den mittelalterlichen Notationen genommen werden.

Als besonderes Highlight wurden diese theoretischen Einführungen am Mittwochabend durch einen Einblick in die Praxis des liturgischen Gesangs im Leipziger Thomanerkloster um 1300 ergänzt.

IMG_8966

Felix Heinzer und das Ensemble Amarcord

Auf der Grundlage des Thomas-Graduale interpretierte das Ensemble Amarcord den Gesangsteil einer Liturgiefeier (Kirchweih) in ihrem Ablauf. Jeremy Llewellyn und Felix Heinzer erklärten und kommentierten einem größeren Publikum die Hintergründe der liturgischen Feier und boten ergänzende Hinweise auf die priesterlichen Gebete, Lesungen und kultischen Handlungen zwischen den Messgesängen. Schon allein von der musikalischen Darbietung war der Abend ein Genuss. Übrigens schloss die Bibliotheca Albertina extra für diese Aufführung einige Stunden früher, wofür hier nochmals gedankt sein soll.

IMG_9069

Naumburger Chorbuch

Abgeschlossen wurde der inhaltliche Aspekt des Kurses durch eine freitägliche Exkursion nach Naumburg, wo Archivleiter Matthias Ludwig von den Vereinigten Domstiftern durch den Dom, das Archiv und die Bibliothek führte und dabei einen Einblick in eines der acht riesigen Naumburger Chorbücher gewährte.

Arbeit mit den Handschriften

Soviel zum gelungenen inhaltlichen Programm des Kurses. Meiner Ansicht nach lag die Stärke des Kurses aber vor allem in der Arbeit mit den Handschriften. Zunächst möchte ich vorausschicken, dass das Handschriftenzentrum Leipzig hierfür ideale Bedingungen geschaffen hatte. So war etwa  der Lesesaal extra für uns reserviert worden und Christoph Mackert und sein Team sowie die Dozenten waren jederzeit mit Rat, Tat und dem richtigen Hilfsmittel zur Stelle. Ich persönlich glaube, dass ich durch diese vielen Tipps und Tricks aus der Praxis am meisten gelernt habe.

IMG_8872

Die Handschriften werden ausgewählt

Schon im Vorfeld des Kurses bekamen alle Teilnehmer eine Objektliste der Handschriften aus den im Kurs relevanten Themengebieten. Darunter 30 liturgische Fragmente aus der Zeit vom 9./10. bis ins 15. Jahrhundert, daneben ca. 20 unterschiedlichste Codices, darunter vor allem Objekte, die bislang noch nicht tiefer erschlossen worden sind. Jeweils der halbe Tag war zur Bearbeitung der Handschriften reserviert.

Die Ergebnisse dieser Bearbeitung wurden am Ende des Kurses präsentiert. Hier konnte eigentlich jede Gruppe bislang unbekannte und überraschende Erkenntnisse für eine ihrer Handschriften oder Fragmente vorweisen, so dass die Teilnehmer nicht nur klüger, sondern vor allem um ein kleines Erfolgserlebnis reicher nach Hause gehen durften. Gerade bei der Arbeit mit dem handschriftlichen Original ist das ja nicht unbedingt selbstverständlich.

Teilnehmer und Organisation

Ein paar Worte noch zur Organisation des Kurses: Sehr positiv aufgefallen ist mir die aufwändige und gelungene Organisation des Kurses durch das Team des Handschriftenzentrums, die den Aufenthalt für die Teilnehmer so angenehm und produktiv wie möglich gestaltet haben. Auch die Nachbereitung der Kurseinheiten war durch das Bereitstellen von Materialien, Fotos und Digitalisaten hervorragend und nachhaltig.

IMG_1710

Hilfsmittel werden vorgestellt…

Am wichtigsten und augenscheinlichsten war aber die wirklich angenehme Atmosphäre: zum einen durch die Mitarbeiter und Dozenten, die über das übliche Maß hilfsbereit, hilfreich und offen für Fragen und Gespräche aller Art waren.

Zum anderen ist aber auch das Auswahlkonzept der Kursteilnehmer aufgegangen, bei dem großer Wert darauf gelegt wurde, möglichst viele Leute aus unterschiedlichen Fächern und Universitäten zusammenzubringen. Diese interdisziplinäre Heterogenität der Gruppe mit den jeweils sehr unterschiedlichen Perspektiven der Teilnehmer war aus meiner Sicht ein großer Gewinn für den Kurs.

IMG_1712

… und gewälzt

Zusammenfassend hat das Team des Handschriftenzentrums mit dem diesjährigen Sommerkurs unter großem Einsatz ein beeindruckendes Programm auf die Beine gestellt und dabei für eine so freundliche Atmosphäre gesorgt, die nicht nur das Arbeiten und Lernen gefördert, sondern auch den persönlichen Austausch der Teilnehmer über Fachgrenzen hinweg ermöglicht hat (sowohl während als auch nach dem täglichen Kursprogramm).

Und zu allerletzt noch eine Anmerkung zur Förderung des Kurses durch die Alfried-Krupp-Stiftung. Gerade beim wissenschaftlichen Nachwuchs ist die finanzielle Situation ja durchaus sehr unterschiedlich, ebenso die Reise-, Unterkunfts- und Teilnahmekosten eines solchen Kurses. Der Alfried-Krupp-Stiftung ist es zu verdanken, dass durch die Übernahme all dieser Kosten die Teilnahme am Sommerkurs keine Frage des eigenen Geldbeutels oder Projektbudgets war, was eine Besonderheit des Leipziger Kursangebots darstellt. Ich bin mir nicht sicher, ob Handschriftenkurse bei Stiftungen grundsätzlich oberste Förderpriorität besitzen, ich hatte aber auf jeden Fall den Eindruck, dass das Geld, zumindest am Ertrag des Kurses gemessen, gut angelegt war.

Ich persönlich konnte für mein Dissertations-Projekt viel mitnehmen und fühle mich nun relativ gut auf die Arbeit mit den Handschriften vorbereitet. Dass darüber hinaus auch sehr nette persönliche und „berufliche“ Kontakte entstanden sind, rundet das Bild des Leipziger Sommerkurses nur ab, den ich nachdrücklich jedem Mediävisten empfehlen kann.

IMG_9086

Abschlussfoto

Fotos: Handschriftenzentrum der UB Leipzig

Quelle: http://mittelalter.hypotheses.org/2644

Weiterlesen

Bayern und die MGH – (Fast) 200 Jahre gemeinsame Geschichte

In principio erat verbum et verbum erat manu scriptum1

Im Anfang war das Wort, und das Wort war von Hand geschrieben. Im Anfang war es ungedruckt. In ihm war das historische Leben. Aber es war verborgen in Archiven und Bibliotheken. Es trat ein Mann an den Wassern des Mains auf, der von Gott gesandt war.

Reichsfreiherr vom Stein (Quelle: MGH-Archiv)

Reichsfreiherr vom Stein
(Quelle: MGH-Archiv)

Sein Name war Heinrich Friedrich Karl, Reichsfreiherr vom Stein (1757-1831), und die Welt der deutschen Mittelalterforschung ist durch ihn das geworden, was sie noch heute darstellt. Das Paradies war in weiter Ferne. Es galt die Erkenntnis, dass Dornen und Disteln den schwer bestellbaren Boden bedeckten, und Staub war ein ständiger Begleiter. Diese Situation besteht noch heute, nach fast 200 Jahren.

Am Anfang stand die romantische Begeisterung für ein deutsches Reich vor dem Deutschen Bund. Ein altes Reich vor der Abdankung des römischen Kaisers Franz II., ein gemeinsames Reich vor den fast 20jährigen Kriegen Napoleons und seiner Fremdherrschaft, ein religiös geeintes Reich vor den Glaubenskämpfen, kurzum: ein einheitliches Reich – so wie man sich das Mittelalter vorstellen wollte. Am Anfang verbrüderten sich also Vaterlandsliebe und aufgeklärter Wissensdurst nach historischer Wahrheit, unverfälscht und unverschleiert.

Dieser Vortrag handelt also von Worten und Menschen und dem langen Weg der Monumenta Germaniae Historica nach Bayern und in die Moderne.

Man schrieb das Jahr 1819. Am 20. Januar, einem Mittwoch, „um zwei Uhr des Nachmittags“ trafen sich in der Privatwohnung des preußischen Ministers a. D. Karl Freiherr vom Stein (1757-1831) am Ort der Bundesversammlung Frankfurt die Bundesgesandten Bayerns, Badens, Württembergs und Mecklenburgs, um die „Societas aperiendis fontibus rerum Germanicarum medii aevi“ – die „Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde“, genauer zunächst deren Zentraldirektion zu gründen. Der Gesandte Bayerns, Johann Adam Freiherr von Aretin (1769-1822), hatte zusammen mit dem württembergischen Gesandten (Karl August Freiherr von Wangenheim) Stein bereits im Vorfeld bei seinen Plänen intensiv unterstützt. Letzterer schrieb wenig später: „Seit meinem Zurücktreten aus öffentlichen Verhältnissen beschäftigte mich der Wunsch, den Geschmack an deutscher Geschichte zu beleben, ihr gründliches Studium zu erleichtern und hierdurch zur Erhaltung der Liebe zum gemeinsamen Vaterland und Gedächtnis unserer großen Vorfahren beizutragen. Meine Absicht war auch, dahin zu wirken, daß die durch die Umwälzung des Jahres 1803 zerstreuten vielen Urkunden sorgfältig gesammelt und gegen den Untergang aufbewahrt würden, welches aber hauptsächlich von Maßregeln der Regierungen abhängt und wozu der Entschluß von einzelnen nicht ausreicht.“ „Im ganzen würden etwa 8 bis 10 Gelehrte sich das Hauptwerk teilen und in etwa eben so vielen Jahren wohl damit zustande kommen“. Der nicht nur gelehrte, sondern auch kluge Aretin ging keine zwei Wochen nach dem ersten formalen Treffen in einem ausführlichen Gutachten bereits von 10 bis 20 Jahren Dauer aus und regte die Schaffung einer erweiterten „gelehrten Gesellschaft“ an, in der neben Adeligen auch Wissenschaftler wirken sollten.

Johann Adam Freiherr von Aretin (Quelle: MGH-Archiv)

Johann Adam Freiherr von Aretin
(Quelle: MGH-Archiv)

Der Bayer Aretin sollte auch im Juli/August als stellvertretender Vorsitzender der zwischenzeitlich gegründeten Zentraldirektion an Stelle des abwesenden Stein das Projekt der Bundesversammlung erfolgreich vorlegen. Es wurde einstimmig angenommen, doch die von der Bundesversammlung zugesprochenen Geldmittel blieben großenteils aus. Ständige Geldnot bedrohte das Unternehmen von Anfang an erheblich, doch „Zuspruch und Zuwendung kamen von unerwarteter Seite, zum Beispiel von Zar Alexander I. von Russland, der sogar bereit war, die gesamten Kosten zu übernehmen. Stein wies diese Offerte aus patriotischer Selbstachtung zurück … „, wie Horst Fuhrmann bemerkt. Stein hatte bis zu seinem Tod 1831 ein Viertel der Kosten aus seinem Privatvermögen zugeschossen. Man darf bitte auf gut Bayerisch kommentieren: Respekt – Herr Minister a. D.! Bayern tat sich in keiner Weise rühmlich hervor, die Regierung Maximilians I. Joseph knauserte, und Akademie wie Reichsarchiv lehnten auch nur geringfügige Unterstützungen ab. Auch König Ludwig I. übertraf seinen Vater nicht an Großzügigkeit. Von den ursprünglich sechs subskribierten Bänden der Monumenta-Editionen in Edelausstattung gab man 1830 zwei zurück, da die Universitäten Erlangen und München neben der königlichen Bibliothek diese auf eigene Kosten bezogen hatten und man für die übrigen keine Verwendung fand!

Der Stein-Biograph Heinz Duchhardt stößt in seiner jüngsten Steinbiographie ins selbe Horn: „Dass die Monumenta … eine Erfolgsgeschichte werden sollten, war gleichwohl lange nicht absehbar – manche bitteren Worte Steins sind überliefert, mancher Ärger über seine Direktionskollegen aus dem Kreis der Bundestagsdiplomaten musste hinuntergeschluckt werden, manche Krisensitzungen waren anzusetzen, manche Enttäuschungen waren zu verkraften, wenn der eine oder andere Bundesstaat aus durchsichtigen Gründen sich gegenüber Bitten um Zuschüsse verweigerte oder wenn Standeskollegen auf seine ‚Bettelbriefe’ nicht reagierten. Die Empfehlung des Frankfurter Bundestags, das Unternehmen finanziell oder durch Subskriptionen zu unterstützen, hatte zunächst allenfalls begrenzten Widerhall gefunden.“ … Preußen, die Fürsten und die meisten Bundesstaaten versagten auf voller Linie. Einmal brach es aus Stein heraus: „Man macht kostbare naturhistorische Expeditionen von Wien, München und Berlin nach Ägypten, Nubien, Brasilien, dem Kap, man erforscht die Geschichte der Pharaonen, das Leben und Weben der Kolibris, Gazellen und Affen mit und ohne Schwänzen, aber für die Geschichte unseres Volkes geschieht nichts.“ [...] Der vollständige Artikel kann hier gelesen werden.

1Vortrag anlässlich des Symposions zur Ausstellungseröffnung „Bayern und die Monumenta Germaniae Historica“ am 19. Januar 2013 veranstaltet im Historicum der Ludwig-Maximilians-Universität München basierend auf Vorarbeiten zum „Zeitstrahl“ von Nikola Becker.

Quelle: http://mittelalter.hypotheses.org/1427

Weiterlesen