Die »Rechtssoziologie« Max Webers gehört zu den zentralen Textpassagen seines fragmentarisch gebliebenen Monumentalwerks »Wirtschaft und Gesellschaft«, das als posthume Kompilation seit jeher die Anstrengungen der Interpreten herausgefordert hat. Webers Schriften zum Recht sind, nicht nur im Kontext seines Gesamtwerkes, zugleich bedeutsam und im hohen Maße der Deutung bedürftig. Diese oft enigmatischen Schriften weisen eine Vielschichtigkeit auf, die nicht allein im ambitionierten thematischen Ausholen Webers besteht, sondern in der Textgestaltung auch materiell offenbart wird. Die seit kurzem vorliegende, im Rahmen der Max-Weber-Gesamtausgabe situierte kritische Edition des Rechtsbandes (MWG I/22-3) präsentiert die archäologische Arbeit, die die Genesis der Texte in all ihren Entwürfen und Revisionen dokumentiert.
Die internationale Tagung, die das Käte Hamburger Kolleg »Recht als Kultur« der Rechtssoziologie Webers unter dem Titel »Law as culture. Max Weber’s comparative cultural sociology of law« widmete, stellte den kollektiven Versuch dar, dieser Vielschichtigkeit gerecht zu werden und opake Stellen des Weber’schen Rechtsdenkens zu erhellen. Dass die 22 Vorträge, die die versammelten Weber-Experten vom 25. bis 27. Oktober 2012 im Käte Hamburger Kolleg hielten, nicht zu einem argumentativen »Einverständnis« führten, stellte keine Überraschung dar. Der sachlichen Diskussionsatmosphäre war es aber zu verdanken, dass auch dort, wo grundsätzliche Differenzen zurückblieben, ein geschärfter, zum Teil neu justierter Blick auf das Weber’sche Werk ermöglicht wurde.
Das »Collagenwerk« Max Webers
Werner Gephart, der Direktor des Käte Hamburger Kollegs »Recht als Kultur«, berichtete in seinem Eröffnungsvortrag zunächst von seinen Erfahrungen als Herausgeber des »Rechtsbandes«. Der editorische Befund sei, dass es sich bei dem der Rechtssoziologie Webers zugrundeliegenden Manuskript um ein »Collagenwerk« handele – eine Werkstruktur, die Gephart in einer abendlichen Vernissage eigener Collagen, die sich mit dem Schaffen Webers auseinandersetzen, auch visuell verdeutlichte. Gephart ging in seinem Vortrag aber auch auf die thematischen Felder der Weber’schen Rechtsanalyse ein und legte dar, warumsich diese, wie es ja der Titel der Tagung schon unterstellte, tatsächlich als Beitrag zu einer vergleichenden Kultursoziologie des Rechts lesen ließen – eine These, der die Vortragenden und Diskutanten im Laufe der Konferenz auf unterschiedlichen Wegen auf den Grund gehen sollten. Debattiert wurde aber nicht nur über die kulturwissenschaftliche Ausrichtung der »Rechtssoziologie« und über die Bedeutung des Weber’schen Ansatzes für die Analyse aktueller Konflikte, die im Zuge der Globalisierung in Erscheinung treten, sondern auch über die Prägungen und den Einfluss dieses Unternehmens.
Prägungen und Wirkungen der »Rechtssoziologie«
So ging die Soziologin Uta Gerhardt auf den unmittelbaren theoretischen Einfluss Webers ein, indem sie Talcott Parsons als einen Weberianer vorstellte, der in wichtigen Punkten über Weber hinausgegangen war. Auch spezifische nationale Rezeptionsgeschichten wurden auf der Tagung gegenübergestellt. Masahiro Noguchi (Kyoto) konstatierte für den japanischen Kontext eine relative Vernachlässigung der Rechtssoziologie im Vergleich zu den anderen Schriften Webers, und auch Marta Bucholc (Warschau/Bonn) kam bei einem Blick auf die polnische Rezeption zu dem Schluss, dass Weber in der Regel allenfalls als Theoretiker von Staat, Politik und Herrschaft wahrgenommen werde – seine rechtssoziologischen Schriften seien erst vor wenigen Jahren übersetzt worden. Der Pariser Jurist Olivier Beaud wiederum bedauerte, dass seine eigene Disziplin sich bisher aufgrund eines fortgeschrittenen Positivismus kaum der Lektüre Webers gewidmet habe. Dabei könnten gerade Juristen des öffentlichen Rechts von Weber lernen, wie die Entwicklung des okzidentalen Rechts mit der Entstehung des modernen Staates einhergehe. So könne auch die verbreitete Gegenüberstellung von den Individuen als Trägern subjektiver Rechte einerseits und dem Staatsapparat andererseits aufgelöst werden, da sich mit Weber nachvollziehen lasse, wie der Staat zum Garanten der individuellen Rechte werden konnte. Zugleich mache der soziologische Blick Webers auf die Realitäten eines außerstaatlichen Rechts aufmerksam, das den Staat lediglich als einen partikularen Rechtsgaranten unter vielen möglichen erscheinen lasse. Solange die Jurisprudenz in Frankreich und an anderen Orten jedoch keine Notiz von rechtssoziologischen und -historischen Untersuchungen dieser Art nehme, müsse die eigene Sichtweise beschränkt bleiben. Dass Webers Einfluss in Deutschland nicht rein wissenschaftlicher Natur war, illustrierte Dieter Engels, der Präsident des Bundesrechnungshofes, sei Weber doch durch seinen Artikel von 1917, in dem er sich mit dem zukünftigen Verhältnis von Parlament und Regierung auseinandersetzte, zu einem »geistigen Vater« des parlamentarischen Minderheitenrechts in Deutschland geworden.
Nicht auf den Einfluss Webers, sondern auf bestimmte Prägungen seines Werks ging der Zürcher Rechtshistoriker Andreas Thier ein, indem er nachwies, wie Weber in seiner Untersuchung der Entwicklung des kanonischen Rechts auf die Narrationen eines Otto von Gierke und eines Rudolph Sohm zurückgriff, deren Grundideen aber zurechtbog, so dass sie sich besser in seine eigene Erzählung der fortschreitenden Rationalisierung des okzidentalen Rechts fügten.
Die Religion und die Entwicklungsbedingungen des rationalen Rechts
Thiers Vortrag war auch deswegen aufschlussreich, weil er zeigte, dass sich die Entwicklung der rechtlichen Rationalisierung nicht in kompletter Abkopplung von der Religion vollzog. Vielmehr wurde gerade das kanonische Recht zu einem entscheidenden Faktor der Rationalisierung, indem es, einhergehend mit der Evolution der Kirche zur »Anstalt«, ein einflussreiches formal-rationales Recht konstituierte, das sich vom heiligen Recht abgrenzte. Thier stimmte hier der Deutung Werner Gepharts aus dem Rechtsband zu. Der Theologe und ehemalige Fellow des Käte Hamburger Kollegs »Recht als Kultur« Philipp Stoellger von der Universität Rostock betonte in seinen Ausführungen zu Spuren des Protestantismus in Webers Rechtssoziologie noch dezidierter, dass die Entstehung des modernen Rechts nicht als simple Ablösung von Religion zu verstehen sei, sondern dass es einen »Differenzierungsbedarf jenseits der vertrauten Säkularisierungs- und Ausdifferenzierungsthese« gebe. Stoellger warf die Frage auf, welche Rolle der Protestantismus für die Rechtsentwicklung und auch das Rechtsverstehen spielen könne. Die verstehende Soziologie, und damit auch die Rechtssoziologie Webers, sei als eine »Figur des Nachlebens der reformatorischen Hermeneutik« anzusehen. Die Einflüsse des Protestantismus auf das Recht beurteilte Stoellger differenziert: Einerseits stellte er fest, dass die Semantik der lutherischen Rechtfertigungslehre juridisch geprägt sei und somit als theologischer Beitrag zur Rechtsentwicklung gelesen werden könnte. Andererseits sei die Struktur und Funktion dieser Rechtfertigung nicht mehr juridisch zu verstehen. Kern der Lehre sei nämlich nicht ein rechtsäquivalentes Verhältnis von Gott und Mensch oder Mensch zu Mensch, sondern es gehe um eine passive Gerechtigkeit, um eine »Gerechtmachung des Ungerechten«, die auf der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium beruhe: »Unter dem Gesetz ist der Mensch Sünder und entsprechend zu verurteilen; unter dem Evangelium aber ist und bleibt er gerechtfertigt«. Auf dieser Basis sei eine Ausdifferenzierung von »Herrschaft und Heil« erfolgt, die für die Formalisierung und Rationalisierung des Rechts von hoher Bedeutung gewesen seien. Die Ausdifferenzierung bleibe jedoch ambivalent, da die »Heilsordnung« immer noch als maßgebend gelten könne. Der hieraus resultierende Ordnungskonflikt von Recht und Religion sei, so Stoellger, nicht prinzipiell zu lösen, sondern situativ zu entscheiden.
Auf der Suche nach der Weber’schen Ordnung
Ordnungskonflikte und -relationen anderer Art standen im Mittelpunkt der Tagung, während der Weber als ein Theoretiker pluraler, zum Teil konkurrierender sozialer Ordnungen beleuchtet wurde. Der Leipziger Politologe Andreas Anter verwies darauf, dass der Begriff der »Ordnung« eine Schlüsselrolle in Webers Kategoriengebäude einnehme, jedoch nirgendwo eine eindeutige Bestimmung erfahre, sondern vielmehr als Grundtatbestand vorausgesetzt werde. Dass die Ordnungskonzeption Webers untrennbar mit seinem Handlungsbegriff verbunden sei, sei ein theoriegeschichtlich bedeutender Schritt. Ordnung tauche bei Weber nicht nur als etwas durch verschiedene Zwangsmechanismen Durchzusetzendes auf, sondern vor allem als soziale Struktur, deren Existenz an einen spezifischen Geltungsglauben geknüpft sei. Hier zeichne sich auch eine Spannung des Ordnungskonzeptes ab, die repräsentativ für die moderne politische Theorie und Rechtsphilosophie sei.
Die konstitutive Verbindung von Ordnung und Sinn, Ordnung und Geltung entwickelte sich im Anschluss zu einem der größten Diskussionsthemen der Tagung. Weber macht das »Einverständnis« zum Geltungsgrund einer Ordnung, die nie allein auf Zwang beruhen kann. Darüber, dass dieses Einverständnis weder als faktischer Konsens noch als dogmatische Forderung zu deuten sei, herrschte Einigkeit. Martin Albrow, zur Zeit Fellow am Käte Hamburger Kolleg, betonte, dass »Ordnung« bei Weber sehr stark an die Dimension des Glaubens geknüpft sei. Hier komme dann, so Werner Gephart, auch der »Einverständnisglaube« ins Spiel. Tatsächlich beruht bei Weber das Einverständnishandeln auf dem subjektiven Glauben an die objektive Geltung einer Ordnung oder bestimmter Normen. Johannes Weiß wies in diesem Zusammenhang noch darauf hin, dass Weber mit dem Begriff der »Chance« versucht habe, die Handlungsaspekte mit der strukturellen Dimension von Ordnungen zu verknüpfen.
Mit dem Konzept der Wirtschaftsordnung setzte sich Hinnerk Bruhns (Paris) in seinem Vortrag auseinander, in dem er die Begrifflichkeit Webers in der wirtschaftlichen Sphäre inspizierte. Bruhns erinnerte daran, dass Weber eine funktionale Beziehung zwischen Rechts- und Wirtschaftsordnung entschieden abgelehnt habe. Er habe auch keine systematische Typologie von Wirtschaftsordnungen aufgestellt, auch wenn er faktisch die kapitalistische, die projizierte sozialistische und etwa auch die antike Wirtschaftsordnung analysiert habe. Der Schlüsselbegriff in diesen Untersuchungen sei aber jener des »Verbandes« gewesen.
Edith Hanke (München) betrachtete wiederum das Verhältnis von Rechts- und Herrschaftsordnungen, wie sie sich in der Weber’schen Soziologie darstellten. In entwicklungshistorischer Perspektive habe Weber Recht und Herrschaft in seinen Ausführungen zu den politischen Gemeinschaften aufeinander bezogen. Im modernen Anstaltsstaat seien beide Ordnungen, Recht und Herrschaft, über die legal-rationale Form der Legitimität miteinander verknüpft. In typologischer Hinsicht hingegen ließen sich den drei Typen der Herrschaft nur begrenzt entsprechende Rechtstypen zuordnen, etwa in der Korrespondenz von rational-systematischer Justiz und rational-bürokratischer Herrschaft sowie bei der »charismatischen« Justiz, die ihr Äquivalent in der charismatischen Herrschaft habe. In einer strukturellen Perspektive könne man so am besten von »Wahlverwandtschaften« zwischen den Strukturen des Rechts, der Wirtschaft und der Herrschaft sprechen.
Weber und der Rechtspluralismus
Hubert Treiber, Soziologe aus Hannover, führte in seinen Bemerkungen aus, was auch in vielen anderen Beiträgen anklang, nämlich die Entwicklung eines pluralistischen Rechtsbegriffs bei Weber, der ihn sogar als »Ahnherren« des legal pluralism erscheinen lasse. Treiber erinnerte an Webers Ausführungen in seinem Text »Die Wirtschaft und die Ordnungen«, in denen er das Bestehen einer Rechtsordnung an die Existenz eines speziellen »Zwangsapparats« knüpfe, der wiederum durch zu diesem Zweck bereitstehende, mit bestimmten Zwangsmitteln ausgestattete Personen konstituiert werde. Die Geltung von Recht sei bei Weber Bestandteil eines Verbandshandelns, nicht aber unbedingt an den staatlichen Rechtszwang gebunden. So mache Weber den Weg frei für die Analyse eines außer- und vorstaatlichen Rechts, wie es die Bewegung des legal pluralism später auf nicht immer präzise Weise zum Programm erhoben habe, aber auch für die Untersuchung anderer normativer Ordnungen, die mit dem staatlichen Recht in Konflikt geraten könnten. Martin Albrow griff in seinem Schlussvortrag gerade diese Erkenntnis Webers auf, da sie für die Erforschung von normativen Konflikten, die im Zuge der Globalisierung entstünden, äußerst wertvoll sei.
Webers Lehren für die Rechtssoziologie
Über die bloße Exegese hinaus versuchten die Vortragenden und Diskutanten also auch, manche der Erkenntnisse und Methoden Webers für die zeitgenössische Forschung fruchtbar zu machen. Vielen Tagungsteilnehmern erschien gerade das komparative Vorgehen Webers, bei allen Differenzen im Detail, als nachahmenswert. Joachim Savelsberg (Minneapolis) zeigte in seiner Präsentation bestimmter Entwicklungen des internationalen Strafrechts zudem, dass auch die Weber’sche Unterscheidung von formal-rationalem und material-rationalem Recht ein nützliches Untersuchungsinstrument sein könne, da mit ihm inhärente Spannungen der rechtlichen Rationalität offengelegt werden können. Letztlich offen blieb die Frage, inwieweit Webers Rechtssoziologie tatsächlich als vergleichende Kultursoziologie des Rechts verstanden werden könne. Der Pariser Soziologe François Chazel, der außerordentlich lobende Worte für die kritische Edition des Rechtsbandes fand, bezweifelte, dass dies die Ambition Webers gewesen sei, zumal dieser den Begriff der Rechtskultur nie verwandt habe. Vielmehr habe er eine Soziologie der Ordnungen entwickelt. Werner Gephart entgegnete, dass gerade das Konzept der »Einverständnisgemeinschaft« auf einen jeweils spezifischen kulturellen Kontext verweise, auf einen spezifischen Sinn, der den Focus der Kulturwissenschaften bilde. Ordnung sei ohne ihre »Kulturbedeutung« gar nicht zu denken. Und in Webers Analyse der historischen Varianz der Rechtsentwicklungen ließen sich die geeigneten Kategorien finden, um die verschiedenen (normativen, symbolischen und organisationellen) Dimensionen dieser Rechtsevolution zu erfassen, die auch ein tieferes Verständnis der Eigenarten und des Konflikt heutiger Rechtsordnungen und -kulturen ermögliche. Dass Webers Werk für dieses ambitionierte Vorhaben von nicht geringem Nutzen ist, darf zumindest als ein Ergebnis dieser Tagung gelten.
Text: Jan Christoph Suntrup
Fotos: Helge Pohl
Quelle: http://maxweber.hypotheses.org/644