Pichler, Klaus (Fotos)/Haslinger, Josef (Text): Dust. Wien: AnzenbergerEdition, 2015. 110 Seiten, 45 Bilder, 48 Euro. [Buchinfo 1, Buchinfo 2]

Quelle: http://adresscomptoir.twoday.net/stories/1022421742/
Geschichtswissenschaftliche Blogs auf einen Blick
Quelle: http://adresscomptoir.twoday.net/stories/1022421742/
Spätestens ab 1773 waren in Wien die Briefträger der so genannten „Kleinen Post“ – der Stadtpost – nummeriert;1 auch in der ungarischen Hauptstadt Ofen findet diese Kulturtechnik Verwendung und wird in einer 1789 in der Zeitung Neuer Kurier erschienenen Einschaltung gleich mal für eine Warnung vor einem vermeintlich betrügerischen Postboten verwendet:
Wir ersuchen unsere schäzbaren Abnehmer in der Festung Ofen, den Pränumerationsbetrag des eingehenden Zeitungsquartals dem Manne von der kleinen Post, welcher die Nummer 7. hat, ja nicht anzuvertrauen.2
Der Name des Botens wird nicht genannt und würde den zahlungswilligen AbonnentInnen des Neuen Kurier vielleicht auch wenig nützen; es ist die Nummer der Kleinen Post, die Vertrauen herstellt und vor der nun gewarnt wird. Doch siehe da, wenig später folgt die Entwarnung:
Die in der Beilage Nro. 117. dieser Zeitung wider den Träger der kleinen Post Nro. 7. eingerükte Warnung unserer Herrn Pränumeranten, da man bloß in der Person des schon Entlassenen einen Verdacht sezte, wird hiemit zur Aufrechterhaltung der dadurch angegriffenen Glaubwürdigkeit der kleinen Post, wiederrufen. 3
Schön, dass hier gleich von zwei Nummern die Rede ist, der Nummer der Zeitungsbeilage mit der zu widerrufenden Nachricht und nochmals die Nummer des Briefträgers, der nun schon entlassen ist; vielleicht wurde seine Stelle schon nachbesetzt, vielleicht war der Entlassene tatsächlich ein Bösewicht, doch nun gilt es, die Ehre der Numero Sieben wiederherzustellen, die nun von einer glaubwürdigen, unverdächtigen Person ausgefüllt wird. Bemerkenswert auch die verschiedenen Schreibweisen für Nummer – einmal Nummer, einmal Nro., ein immer wieder feststellbares Phänomen, so, als gäbe es eben keinen einheitlichen Begriff davon, und bemerkenswert auch der Punkt am Schluss der Nummer 7, was vielleicht ein Überbleibsel der kardinalen Zahlzuweisung ist – so als ob es sich um den siebenten Postboten handeln würde – oder, eventuell wahrscheinlicher, die seit dem Mittelalter übliche Buchführungspraxis, am Ende einer Zahl einen Punkt zu setzen, fortschreibt.
Quelle: http://nummer.hypotheses.org/20
Hartmut Rosa ist Professor für Soziologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Einer breiten Öffentlichkeit, auch weit über das Fach hinaus, ist er durch seine Gesellschaftskritik “Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne” bekannt geworden. Neben der Zeitsoziologie beschäftigt er sich u.a. mit Subjekt- und Identitätstheorien und arbeitet an einer Soziologie der Weltbeziehungen. Wir haben ihn zum Zusammenspiel von Zeit- und Raumwahrnehmung hinsichtlich der Konstitution von Identitäten befragt. (Foto: © juergen-bauer.com)
Herr Rosa, Sie haben eine Theorie der sozialen Beschleunigung vorgelegt, in der Sie von drei wesentlichen Faktoren der Beschleunigung ausgehen: der technischen Beschleunigung (Bewegung, Kommunikation, Transport), der Dynamisierung der sozialen Verhältnisse und der Beschleunigung des Lebenstempos durch eine Zunahme von Handlungs- und Erlebnisepisoden pro Zeiteinheit und eine Zunahme eines subjektiven Zeitdrucks, der aus der vermeintlichen Notwendigkeit, aus einer Vielzahl von Optionen zu wählen, entsteht. Diese strukturell in der Moderne angelegten Beschleunigungs- bzw. Steigerungsfaktoren führen zum ‘rasenden Stillstand': die zeitliche Koordinierung von Handlungen nimmt tendenziell mehr Zeit in Anspruch als die Handlungen selbst, wir verschieben Handlungen und tun zunehmend, was wir nicht tun wollen – und auch unsere Identität bestimmt sich daher situativ. Wie kommt es zu dieser Selbstverhältnis- und Resonanzkrise und welche Folgen hat sie für Subjekte und Gesellschaft?
Das Beschleunigungsprogramm der Moderne folgt keiner expliziten Zielsetzung, es verläuft quasi ‚hinter dem Rücken der Akteure‘. Deshalb spielt es auch keine Rolle, wenn wir uns jedes Jahr – zum Beispiel zu Silvester – fest vornehmen, es im nächsten Jahr langsamer angehen zu lassen und uns mehr Zeit zu nehmen, und auch ein paar Slow-Food- oder Slow-Work-Bewegungen helfen da nicht weiter. Die Situation ist analog zu der im Bereich der Ökologie: Dort scheint es auch ganz gleich, wie sehr wir das ökologische Bewusstsein schärfen und wieviel Müll wir trennen: Unser Umwelthandeln wird jedes Jahr schädlich – dafür reichen allein die Flug- und Fernreisen aus. Die Umwelt- und die Zeitkrise haben dieselbe Wurzel, und diese liegt in der strukturellen Steigerungslogik moderner Gesellschaften. Moderne, kapitalistische Gesellschaften können sich in ihrer Struktur nur erhalten, sie können den Status quo ihrer Basisinstitutionen und ihre soziopolitische Ordnung nur aufrechterhalten, wenn sie wachsen, beschleunigen, und innovieren. Ich nenne das den Modus dynamischer Stabilisierung: Stabilität ist nur durch Steigerung zu erreichen – und selbst dann noch prekär. Genau das führt auch bei den Individuen zu einer Situation des ‚rasenden Stillstandes‘: Wir müssen individuell wie kollektiv jedes Jahr schneller laufen, nur um unseren Platz zu halten. Meines Erachtens ist das ein Systemfehler.
Die Geisteswissenschaften und vor allem auch die Geschichtswissenschaft sind spätestens seit den 1990er Jahren maßgeblich durch den spatial turn geprägt, in dem die Räumlichkeit des Sozialen und die soziale Konstruktion von Räumen im Mittelpunkt stehen. Demgegenüber arbeiten Sie zentral mit der Kategorie Zeit. Ist das ein Widerspruch – oder wie verwoben sind Zeit- und Raumwahrnehmung und welche Rolle spielen sie bei der Konstitution der Identität sozialer Akteure?
Ich will nicht Zeit gegen Raum ausspielen oder umgekehrt – aber ich denke schon, dass die Sozialwissenschaften mehr Aufmerksamkeit auf unsere raum-zeitliche Daseinsweise richten sollten. Raum- und Zeitverhältnisse sind stets eng miteinander verwoben; ändert sich das eine, ändert sich in aller Regel auch das andere, so dass mir der Begriff der Raum-Zeit-Regime als Analysekategorie angemessen erscheint. Was ich allerdings im Beschleunigungsbuch festgestellt habe, scheint mir auch weiterhin richtig zu sein, dass nämlich die Dynamik in der Veränderung unserer raumzeitlichen Lebensweise von der Zeitdimension auszugehen scheint. Das was wir beispielsweise als Globalisierung erfahren, hat zwar viel mit einer Veränderung des Raumbewusstseins, der Raumerfahrung und des Raumhandelns zu tun, aber ausgelöst werden diese Veränderung durch Beschleunigungsprozesse: Beschleunigung in der Datenübertragung, im Transport, in der Kapitalzirkulation etc. In diesem Sinne betrachte ich Zeitverhältnisse als die ‚Antreiber‘, oder als das Einfallstor, für die Veränderung von Raumzeitverhältnissen.
Der Begriff der ‘Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen’, der von Ernst Bloch eingeführt wurde, in Luhmanns Systemtheorie wiederkehrt und von Koselleck auch für die Geschichtswissenschaft adaptiert wurde, beschreibt räumliche und temporale Asynchronität als gesellschaftliches Phänomen. Ist der Begriff noch aktuell – und kann er als analytische Kategorie helfen, (auch historische) Gesellschaften zu verstehen? Steht er vielleicht sogar sinnbildlich für die Pathologien der modernen Steigerungsgesellschaft?
Meines Erachtens ist der Begriff der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen (oder umgekehrt: Beide Varianten besagen im Prinzip dasselbe) völlig ungeeignet, wenn man von radikaler geschichtlicher Kontingenz ausgeht. Er macht nur Sinn, wenn man im Sinne einer Geschichtsphilosophie oder Fortschrittskonzeption feste sequentielle Folgen annimmt. Das kann sich auf individuelle Leben wie auf gesellschaftliche Entwicklungen beziehen. Beispielsweise kann jemand noch zur Schule gehen, aber schon Kinder haben: Das wäre die ‚Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen‘, weil gleichzeitig Elemente des Kindseins (zur Schule gehen) und des Erwachsenseins (Kinder haben) präsent sind. Das gilt aber nur, solange man meint, Schule und Kinder müssten einen festen Platz in der sequentiellen Ordnung eines Lebens haben. Sobald wir akzeptieren, dass man auch mit 50 oder 60 Jahren zur Schule gehen kann, können wir nur noch die Präsenz von Differenzen feststellen: EIN Schüler hat Kinder, ein anderer ist ein Kind, ein Dritter hat schon Enkel. Das gilt auch für Gesellschaften und Funktionssphären: Wenn ich meine, Demokratie, Marktwirtschaft, Industrialisierung und Rechtsstaat gehören zusammen, dann beobachte ich in einem Staat, der ein demokratischer Rechtsstaat ist, aber noch ‚steinzeitlich‘ produziert, Ungleichzeitigkeit, und dasselbe gilt für einen hoch technologisierten Staat, der weder Rechtsstaat noch Demokratie kennt. Wenn ich jedoch davon ausgehe, dass historische (Teilordnungen) kontingent sind, dann habe ich nur noch Differenz: Ein Staat ist demokratisch und kapitalistisch, einer demokratisch und sozialistisch, einer kapitalistisch mit traditionalistischen Herrschaftsstrukturen usw. Nur wenn ich von festen Sequenzen ausgehe, also etwa: Schule-Ausbildung-Beruf-Kinderkriegen-Ruhestand oder: Feudalismus-Kapitalismus oder Monarchie-Demokratie, kann ich Ungleichzeitigkeiten konstatieren. Der Glaube an die empirische und normative Validität solcher Muster ist in der Spätmoderne aber grundsätzlich erschüttert.
Sie haben immer wieder betont, dass es nicht per se um Verlangsamung gehe, schon gar nicht um Entschleunigung, wenn wir der sozialen Beschleunigung begegnen wollen, sondern darum, dass sich die gesellschaftliche Grundform ändern müsse. Wir müssten uns selbst aufklären, uns darüber verständigen, wie wir leben wollen. Wenn aber alles fremdbestimmt scheint, wie kann es gelingen, dass die Subjekte ihr Handeln wieder als selbstwirksam erleben? Welche Anreize müssen geboten werden, damit wir das (vermeintliche) Risiko des Zeit- und Optionenverlustes eingehen?
Ich weiß nicht, ob dafür Anreize geboten werden müssen. Ich arbeite derzeit am Entwurf einer ‚Resonanztheorie‘. Sie zielt im Kern darauf ab, uns zu überzeugen, dass das Leben nicht durch die Vergrößerung der ‚Weltreichweite‘ (durch Technik, ökonomische Ressourcen, aber soziales und kulturelles Kapital etc.) besser wird, sondern durch die Überwindung von Entfremdung: Durch die Etablierung einer anderen Form der Beziehung zur Welt, das heißt: Zu den Menschen, zur Natur, zu den Dingen und zu uns selbst. Das scheint mir die Stelle zu sein, an der die Steigerungslogik der Moderne sich durchbrechen lässt. Denn indem wir denken, unser Leben werde besser, wenn wir mehr Welt in Reichweite bringen – wenn ich mehr Geld hätte, könnte ich eine Yacht kaufen oder zum Mond fliegen, wenn ich das schnellere Smartphone hätte, könnte ich darauf Skype installieren, wenn ich in der Stadt wohnen würde, hätte ich Kinos und Theater in Reichweite, wenn ich zu der tollen Party eingeladen würde, hätte ich Zugang zu ganz neuen sozialen Kreisen – erzeugen wir die subjektiven Motivationsenergien, das Steigerungsspiel auf allen Ebenen voranzutreiben. Wir alle machen aber die Erfahrung, dass unser Leben dann und dort wirklich gelingt, wo wir in einen Resonanzmodus der Weltbeziehung geraten: Dort geht es nicht um Steigerung, denn das sind die Momente, in denen uns etwas wirklich berührt und in denen wir umgekehrt etwas oder jemanden wirklich zu erreichen vermögen. Transformative Weltanverwandlung nenne ich das, denn dabei verändern wir uns auch selbst. Alle Menschen kennen diesen Erfahrungsmodus, und sei es auch aus noch so flüchtigen und weit zurückliegenden Momenten. Das sind die Andockpunkte, an denen wir ansetzen können, ich glaube, hier sind wir als Subjekte eben doch nicht vollständig entfremdet.
Das Phänomen Kontingenz wird in den Geisteswissenschaften als endgültige Abkehr vom Historismus zunehmend stark gemacht (Paradigma des historischen Wandels). Die postfundamentalistische Hegemonietheorie nach Ernesto Laclau und Chantal Mouffe arbeitet schon seit den 1980er Jahren mit den Kategorien der radikalen Kontingenz und des Dissenses und betont die Notwendigkeit der Mobilisierung konfliktueller, emotionaler Leidenschaften in Demokratien. Müssen wir mehr streiten? Bietet vielleicht die Betonung radikaler Kontingenz (nichts ist vorherbestimmt und alles kann immer auch anders sein), die Betonung der “demokratischen Ethik” (Oliver Marchart), also der institutionalisierten Selbstentfremdung in unserer demokratischen Gesellschaft, einen Ansatzpunkt für einen Bewusstseinswandel? Ist eine gesamtgesellschaftliche Politisierung die Antwort auf die Resonanzkrise, die wir in zunehmendem Maße erleben?
Ich weiß nicht, ich glaube nicht. Meine Wunschformel heißt nicht Konflikt oder Streit, sondern Resonanz. Ich glaube allerdings in der Tat, dass Demokratie, auch und gerade die demokratische Auseinandersetzung, ein zentrales Instrument für die ‚Anverwandlung‘ von Welt ist: Mit den Mitteln der Demokratie bringen wir die Institutionen der öffentlichen Sphären dazu, auf uns zu reagieren, uns zu antworten. Das setzt Selbstwirksamkeitserfahrungen in Gang, die unerlässlich sind für Resonanzbeziehungen: Bürgerinnen und Bürger müssen die Erfahrung machen können, dass ihr Handeln und Streiten Welt verändert. Resonanz meint dabei nicht Echo und nicht Harmonie: Wenn alle das Gleiche wollen und sagen, entsteht keine Resonanz, sondern ein leeres Echo. Resonanz impliziert schon Widerspruch und Auseinandersetzung, aber auf einer anderen Ebene als die Feindschaft: Feindschaft ist Repulsion, ist Resonanzvernichtung, ist gegenseitige Verletzung. Das kennt jeder aus der privaten Sphäre: Mit meinem besten Freund streite ich fast unablässig – aber auf der Basis einer Resonanzbeziehung, wir sind offen für einander und lassen uns durch den Streit berühren und verändern. Bei meinen Feinden ist es anders: Die wollen mich fertig machen, und ich sie. Ich habe das Gefühl, dass in den neueren Ansätzen, die Konflikt und Kontingenz betonen, diese Voraussetzungen unterbelichtet bleiben. Bei Rancière jedenfalls klingt es bisweilen so, als stifte der Streit selbst ein soziales Band. Das finde ich unplausibel.
Vielen Dank.
Hartmut Rosa zum Nachhören
Von Mattias Kiefer
Vorausgeschickt: Dies sind Eindrücke eines Außenstehenden zu einer Tagung, die Ende Februar 2015 an der Evangelischen Akademie in Tutzing stattfand. Das Wort außenstehend gilt dabei im doppelten Sinn: Ich bin weder Mitglied des Forschungsverbunds, noch selbst aktuell wissenschaftlich aktiv. Mein persönlicher Zugang: Das Verfolgen der Resilienzdebatte vor allem im Kontext gesellschaftlicher Transformationsdiskurse. Da es ein Ziel des Forschungsverbunds ist, in den Dialog mit der Gesellschaft einzutreten, ist aber vielleicht auch die Veröffentlichung auf diesem Blog zu rechtfertigen, so jedenfalls die Meinung der Tagungsveranstalter, die um diesen Beitrag gebeten haben.
Ich verzichte dabei darauf, die Tagung insgesamt zu beschreiben oder gar die Vorträge zusammenzufassen, sondern beschränke mich auf Splitter zu einigen der Vorträge. Die Texte oder die Präsentationen sind im Netz verfügbar.
Wenn Markus Vogt bei seiner Explikation von Resilienz aus geophysikalischer Sicht diese in Verbindung setzt mit dem „planetary boundary concept“ und ihr dabei den Status einer funktionalisierten bzw. operationalisierten Nachhaltigkeit zuerkennt, dann meine Rückfrage: Was ist dabei der Mehrwert im Vergleich zur einfachen Weiterverwendung von „Nachhaltigkeit“ – vorausgesetzt, Nachhaltigkeit wird im ursprünglichen Sinn eines Hans Carl von Carlowitz oder des Brundlandt-Berichts verwendet und nicht als weithin sinnentleerte semantische Black Box heutigen Marketings?
Julian Nida-Rümelin versteht unter Resilienz Widerständigkeit und sieht sie damit im Unterschied zu reiner Anpassungsfähigkeit; zusammengedacht mit Amartya Sens Capability-Ansatz ergibt sich eine normative Füllung von Resilienz als persönliche Handlungsfähigkeit und Selbstbestimmung, eine Art „Autorschaft“ über das eigene Leben. Die Rückfragen an dieses für mich intuitiv überzeugende Konzept: Wo ist Resilienz anzusiedeln auf der Bandbreite zwischen reaktiv und proaktiv? Ist Autorschaft jenseits des Individuellen für Kollektive sinnvoll denkbar? Gibt es einen Konnex zu gesellschaftsverändernden Konzepten, und wenn ja, worin bestünde er?
Beim Versuch, systemisches bzw. institutionelles Handeln (Markt, Politik, Governance) auf ihre Resilienzfähigkeit hin zu untersuchen, stellt sich mir die Frage, was dabei der Mehrwert ist? Worin wäre dabei zum Beispiel der widerständige Charakter zu sehen, den es nach Nida-Rümelin braucht?
Für Martin Schneider ist Resilienz im klassischen Verständnis ein reaktives Konzept, das sich auszeichnet durch Sicherheits- und Schutzmaßnahmen, eine Orientierung am Status Quo und Vulnerabilitätsvermeidung. Dieses Verständnis ist ihm nur bedingt sympathisch, daher sein Bestreben: Resilienz, traditionell konservativ interpretiert, auch fruchtbar machen für transformative Prozesse. Sein Versuch: Mittels einer von ihm so genannten reflexiven Resilienz die Einführung von Ziel-Perspektiven in die Konzeptualisierung.
Meine Einwand: Im klassischen Verständnis reagiert Resilienz auf von außen induzierten Wandel. Gesellschaftliche Transformation aber ist Wandel, der selbst verursacht wird oder werden soll. Um eine dergestalt transformative und dabei notwendigerweise interpersonale Perspektive überhaupt in einen Resilienz-Ansatz integrieren zu können, braucht es das Einziehen einer neuen „reflexiven“ Ebene, ein zwar theoretisch spannendes, aber auch aufwändiges Unterfangen. Und auch hier wieder die Frage: Zu welchem Zweck? Was kann besser damit besser erklärt werden als mit bisherigen Ansätzen sozialen Wandels?
Als ganz knappes persönliches Tagungsresümee: Offenkundig besteht innerhalb des Forschungsverbunds kein einheitlicher Resilienzbegriff, der sich für mich während der Tagung in einer dreifachen Spannung bewegte: zwischen funktional-deskriptiv und normativ, zwischen reaktiv-konservativ und transformativ, zwischen Widerständigkeit und Anpassungsfähigkeit. Diese Uneinheitlichkeit erschwert den gewünschten Dialog mit der Öffentlichkeit, der zusätzlich dadurch behindert wird, dass aus den spezifischen Wissenschaftssemantiken herauszutreten offenkundig schwierig ist.
Persönlich überzeugt hat mich die Anwendung des Resilienzbegriffs am meisten auf der individuellen Ebene: Resilienz in der Bandbreite zwischen Widerständigkeit und Anpassung, personale Identität voraussetzend, perspektivisch im Sinne von Handlungs- und Gestaltungsfähigkeit des eigenen Lebens durch die Zeit erhaltend (Nida-Rümelins „Autorschaft“), Kultur dabei als wichtig mitbeachtend.
In der Zeit zwischen 1933 und 1949 wurde eine große Zahl an Texten von durch die Nationalsozialisten verfolgten Menschen geschrieben und veröffentlicht. Die Berichte, Romane, Gedichte u.a.m. zeugen so unmittelbar von der Verfolgung und Vernichtung der Menschen wie kaum ein späteres Dokument. Diese Texte sind heute nicht mehr im kollektiven Gedächtnis verankert oder gar nicht erst in dieses eingegangen. In einem vom BMBF in der eHumanities-Förderlinie finanzierten interdisziplinären Projekt am „Herder-Institut für historische Ostmitteleuropaforschung“ (Marburg) gemeinsam mit Partnern an der „Justus-Liebig-Universität“ (Gießen) sollen die deutsch- und polnischsprachigen Texte nun bibliographisch erschlossen werden. Als Endprodukt soll dabei im Juni 2015 eine annotierte und georeferenzierte Onlinebibliographie der frühen Texte vorgelegt werden.
Neben den bibliographischen Daten werden Zusammenfassungen der Texte, Kurzbiographien der Autorinnen und Autoren sowie Hintergrundinformationen zur Werkgeschichte zu finden sein. Damit werden diese frühen Zeugnisse für die geschichts- und literaturwissenschaftliche Forschung, aber auch für die historische und politische Bildungsarbeit, erschlossen und die Informationen über diese Texte allen Interessierten zugänglich gemacht. Das Projekt bleibt aber nicht bei einer klassischen Onlinebibliographie mit einem textbasierten Suchzugriff stehen. Vielmehr wurden alle in den Texten erwähnten Städte, Orte, Ghettos, Lager usw. gesammelt und ebenso alle bekannten geographischen Angaben zu den Autorinnen und Autoren sowie den Werken – wie Publikations- und Druckorte – erfasst. Damit können über eine geographische Suche Entwicklungen in den Texten der Holocaust- und Lagerliteratur und deren Publikationsumgebungen auf Karten sichtbar gemacht werden. Neben heutigen Karten, müssen bestimmte Entwicklungen auch in den historischen Grenzen von 1900 bis 2000 angezeigt werden können, damit beispielsweise Ghettos oder Lager nicht in den Grenzen des heutigen Polens, sondern in den Grenzen der durch das Deutsche Reiche annektierten und besetzten Gebieten sichtbar gemacht werden, damit gerade beim Einsatz in der Bildungsarbeit kein falsches Bild von den so oft in den Medien genannten „polnischen Lagern“ entsteht.
Die Anzeige- und Suchmodi können von den Nutzerinnen und Nutzern selbst gesteuert werden, sodass man sich ganz gezielt entsprechende Suchanfragen auf der Karte anzeigen lassen kann – etwa: Alle Texte, die von Frauen zwischen 1939 und 1941 veröffentlicht wurden. Hier kann dann gewählt werden, ob die Ergebnisse in den heutigen oder in zeitgenössischen Grenzen gezeigt werden sollen. In dem Beitrag soll das im Projekt untersuchte und in der Online-Bibliographie dargestellte Material kurz dargestellt werden und auf seine Wichtigkeit für die zukünftige Forschung über den Holocaust und die jüdische Geschichte verwiesen werden. Den Schwerpunkt des Beitrages stellt die Darstellung des Online-Portals dar: Nach einer kurzen Einführung zu den technischen Hintergründen, soll der Fokus auf die beiden Hauptsuchfunktionen – die textbasierte und die kartenbasierte – gelegt werden und die sich dadurch ergebenden Chancen für Forschung zur jüdischen Geschichte und zum Holocaust gelegt werden.
Weitere Informationen zu dem Projekt findet man unter: http://www.geobib.info/
Zur Person:
Annalena Schmidt studierte u.a. Geschichtswissenschaft an der JLU Gießen. Seit 2012 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am “Herder-Institut für historische Ostmitteleuropaforschung” in den Projekten GeoBib und DAPRO/Geoimaginaries sowie Doktorandin und Lehrbeauftragte an der JLU Gießen. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen der Holocaust Studies, der digitalen Geschichtswissenschaft und der Hochschulgeschichte.
Quelle: http://dhtg.hypotheses.org/258
Jiří Haleš: Invasion of 1968 in Czechoslovakia, © veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung
The “Prague Spring” and the following invasion of Soviet, Polish, Bulgarian and Hungarian troops into Czechoslovakia on August 21st, 1968 have been perceived as crucial events – perhaps, in fact, the only widely familiar events – of Czech and Slovak history. Such prominence became possible and constantly perpetuated by the fact that the invasion had been recorded on hundreds of photographs. These images, produced by Czech, Slovak and foreign photographers, both professionals and amateurs, were published in contemporary newspapers and have been re-used in anniversary publications, history textbooks, photograph collections, blogs, exhibitions etc.
Surprisingly, however, they have not yet been analysed in any systematic way. Even in book publications explicitly dedicated to the art of photography and possibly the work of a single photographer, the photographs remain merely illustrations of historic events. They are not acknowledged and interpreted as historical sources of their own right. The photographs, however, both published and hid away in archives, can be seen as complex representations of a state of shifting power. They display the situation as characterized by suppression, desperation and sheer violence, but also of communication, new possibilities and even pride and joy. The aesthetics are intense, but also playful, as they employ symbols of the past, ironic quotations and appeals to humanism. The original language of these images was very flexible and diverse; power appears as an open and contested concept. Only later, in the course of globalization and sometimes iconization of the pictures and with the doubtful privilege of hindsight, the corpus of photographs of the invasion developed into an unambiguous testimony of rigorous suppression.
The project aims in a first step to analyse the photographs and the visual grammar they use – recurring or rather unique symbols, motifs, dynamics and contrasts – and to ask in what ways they represent the brief but intense situation of late August 1968. In a second step, the contexts of publication, perpetuation, remembrance or forgetting need to be investigated in order to learn about the means and strategies employed to construct a tradition of “August 1968”.
Heinz Hosch: 1968, Privatarchiv, veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung von Rainer Hosch
Jiří Haleš: Invasion of 1968 in Czechoslovakia, © veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung
Von Harald Schmid »(…) manchmal kostet es mehr Anstrengung, dem Neuen, das im Verborgenen wächst, auf die Spur zu kommen, als die Katastrophen, die selbst Blinde sehen, zu beschreiben.« Karl Schlögel In genereller Hinsicht ist die Diskussion um Erinnerungskulturen und Gedenkstätten eine Art Dauerbrenner der öffentlichen Wahrnehmung von Geschichte, genauer der Geschichte des Nationalsozialismus und dessen Verbrechen. In dieser Perspektive sind Gedenkstätten gleichsam ein Indikator für den Stand der Dinge in der Auseinandersetzung mit der Hitler-Zeit und deren Repräsentation – an keinem anderen Ort … Mehr Gegenwart in die Gedenkstätten weiterlesen →
Je nach Perspektive hat sie den „Job mit dem besten Ausblick der Welt“ (KarriereSPIEGEL) oder „Europas älteste Arbeitsstelle“ (BILD): Martje Saljé ist Türmerin von St. Lamberti in Münster. Die studierte Historikerin und Musikwissenschaftlerin ist dafür zuständig, allabendlich vom Kirchturm nach Bränden Ausschau zu halten und jede halbe Stunde ein Signal zu „tuten“. Zusätzlich füllt sie ihre geschichtsträchtige Position über Social Media und einen Blog mit neuem Leben. Martje Saljés Arbeitsalltag als Türmerin ist klar strukturiert: Jeden Abend (außer dienstags) macht sie sich an den … Über den Dingen: Eine Historikerin als Türmerin weiterlesen →
Quelle: http://beruf.hypotheses.org/206
Quelle: http://adresscomptoir.twoday.net/stories/1022421076/