Der Wahn vom Wiederholen der Geschichte – Deutschlands Nationalisten 1919-1945

Von Stefan Sasse

Waffenstillstandsuntersuchung in Compiègne 1918
Der Erste Weltkrieg war ein einschneidendes Ereignis. Das alte Kaiserreich, das sich als eine klare Klassengesellschaft empfand, würde an seinem Ende einer zunehmenden Auflösung entgegensehen. Diese Auflösung bereitete den Raum für die Modernisierungswelle der 1920er Jahre, als deren Gegner sich viele Rechtsextreme - vor allem, aber bei weitem nicht nur die NSDAP - definierten. Die spätere Gegnerschaft vieler Konservativer zu der deutschen Republik speiste sich aus dem diffusen Wunsch heraus, in die "gute alte Zeit" zurückzukehren und das, was man als Fehler wahrnahm, zu korrigieren. Dazu gehörte auch das Ergebnis des Ersten Weltkriegs, das man als Unfall wahrnahm, als etwas, das nicht hätte passieren dürfen. Diese Einstellung teilten die Konservativen mit ihren linken und liberalen Opponenten, obgleich diese den Konflikt als solchen als Fehler betrachteten. Die Konservativen dagegen dachten den Krieg von seinem Ende her. 

Die anfängliche Begeisterung der SPD für den Konflikt, die sich aus der Gegnerschaft zum autokratischen, zaristischen Russland gespeist hatte, machte schnell der Ernüchterung Platz. Die  Partei gehörte zu den vorderen Akteuren eines Friedensversuchs, besonders, wenn man die sich 1917 abspaltende USPD weiter hinzuzählen möchte - eines Friedens ohne Sieger und ohne Besiegte. Die Linke betrachtete den kompletten Krieg als eine unbedingt zu stoppende Katastrophe für alle Beteiligten. Ganz anders sahen es die Konservativen. Für ihre Sicht der Dinge kann Kuno Graf von Westarp von der Deutsch-Konservativen Partei in seiner Reichstagsrede vom 19.07.1917 als exemplarisch gelten:  
Den heldenhaften Taten unserer Truppen zu Lande und Wasser wird der volle Sieg beschieden sein. Gebiete von der Größe des Deutschen Reiches sind mit dem Blut unserer Brüder und Söhne gewonnen. An den ehernen Mauern weit in Feindesland wird wie bisher jeder Anprall einer Welt von Feinden zerschellen. Dem bevorstehenden feindlichen Ansturm, in dem Flandern das Losungswort heißt, werden wir standhalten. Unsere U-Boote fügen England, das die ganze Welt gegen uns ins Geld führt, Monat für Monat, unüberwindlich und unabwendbar, einen Schaden zu, den es auf Dauer nicht ertragen wird. Auf das Urteil unserer Heerführer gestützt, erwarten wir mit der unerschütterlichen Zuversicht den vollen Sieg unserer Waffen. Ihm allein werden wir den Frieden verdanken. Bis er eintritt, muss, will und kann unser Volk aller Entbehrungen, aller Schwierigkeiten unserer wirtschaftlichen Lage Herr werden.
Zu Friedensverhandlungen wird Deutschland bereit sein, sobald die Feinde unter uneingeschränktem Verzicht auf ihre Forderungen zwangsweiser Gebietserwerbungen und Entschädigungen sie anbieten. Dann wird es die Aufgabe sein, den Frieden so zu gestalten, dass er Deutschland und seinen Verbündeten Dasein, Zukunft und Entwicklungsfreiheit wirksam sichert. Unsere Grenzmarken müssen für alle Zeiten besser geschützt sein; Ostpreußen darf nicht wieder den Gräueln eines Russeneinfalls ausgesetzt werden. An unseren stets vertretenen Auffassungen über das, was der Friede dem deutschen Vaterlande bringen soll, halten wir auch heute unbeirrt fest.
Durch Verständigung, die allein auf dem guten Willen der Feinde beruht, lassen sich diese Ziele nicht erreichen. Von entscheidender Bedeutung für die Gestaltung des Friedens wird die militärische Lage sein, wie sie sich zur Stunde der Verhandlungen gestaltet haben wird.
Waffenstillstandsunterzeichnung in Compiègne, 1940
Für die Konservativen war klar, dass die bisherigen Opfer es beinahe zwangsläufig erforderten, dass eine Art von Ertrag gegenübersteht, andernfalls könne es keinen Frieden geben. Sie blendeten dabei bewusst aus, dass die Gegenseite ebenfalls Opfer zu beklagen hatte und vermutlich ebenso wenig ohne Ergebnis wegkommen wollte; die einzige Friedensinitiative, die überhaupt eine Chance haben konnte, war die eines Status-quo-Friedens. Den allerdings lehnte man entschieden ab. Dies führte zu der Dynamik, dass ein Land immer dann Friedensofferten machte, wenn - in den Worten Westarps - sich "die militärische Lage entsprechend gestaltet" hatte, das heißt wenn man sich auf der Gewinnerseite fühlte. Natürlich lehnte die jeweils andere Seite dann in der Erwartung einer baldigen Wendung des Kampfgeschehens ab. Die Stunde für Friedensverhandlungen kam daher erst spät: 
In dürren Worten wurde [… ] der Reichsregierung mitgeteilt, dass die OHL, nachdem die Ereignisse in der Heimat dem Heer die Rückensicherung genommen haben, nicht mehr über die Möglichkeit verfüge, die Waffenstillstandsforderungen abzulehnen oder mit der Waffe eine Verbesserung der Lage zu erzwingen. Die Regierung zog die Folgerungen  und nahm die Bedingungen an.
Die Heeresleitung stellte sich bewusst auf den Standpunkt, die Verantwortung für den Waffenstillstand und alle späteren Schritte von sich zu weisen. Sie tat dies, streng juristisch gesehen, nur mit bedingtem Recht, aber es kam mir und meinen Mitarbeitern darauf an, die Waffe blank und den Generalstab für die Zukunft unbelastet zu erhalten. Ich bin aber auch heute noch der Überzeugung, dass wir ohne Revolution im Inneren an den Grenzen hätten Widerstand leisten können; ob die Nerven der Heimat noch durchgehalten hätten, erscheint mit sehr zweifelhaft; militärisch war sie denkbar. Zum letzten Kampf braucht man eine Heimat, die hinter dem Heer steht; unter diesen Voraussetzungen konnten wir versuchen, bessere Bedingungen zu erzwingen.
So wie sich aber in Wirklichkeit die Dinge im November gestaltet hatten, war eine Änderung der Lage durch das Heer nicht mehr herbeizuführen. Wenn nach dem Kriege Stimmen laut wurden, die meinten, das Heer hätte sich noch Monate, sei es in der – nicht ausgebauten – Antwerpen-Maas-Stellung, sei es weiter rückwärts, halten können, so muss ich das als Wunschtraum bezeichnen. Es blieb uns keine Wahl: Am 11. Wurde in Compiègne unterzeichnet, mittags 11,55 trat Waffenruhe ein.
Wilhelm Groener 1928
Diese Einschätzung Wilhelm Groeners anlässlich des Hochverratsprozesses gegen Friedrich Ebert zeigt deutlich die Befürchtungen des Militärs auf: eine Revolution im Inneren, gespeist durch die Unzufriedenheit an der Heimatfront. In einer völligen Verklärung der Tatsachen entstand unter den Rechten schnell der Mythos, dass die Armee selbst noch hätte weiterkämpfen können (Groeners obige Aussage tat da wenig), wenn die Heimat nur mitgemacht hätte, und dass ein Sieg erreichbar gewesen wäre. Aus dem Gefühl des Verratenwerdens speiste sich denn die Dolchstoßlegende, nach der es die Sozialdemokraten (und andere demokratische Elemente) gewesen seien, die einem eigentlich siegreichen Heer den "Dolchstoß in den Rücken" verpasst hätten. 

Die Lehre für die Linken aus diesem Debakel war relativ klar: der Krieg hätte nie gekämpft werden dürfen, und man müsse in Zukunft solche Kriege verhindern, am besten durch internationale Systeme. Diese Position war von Anfang an dadurch kompromittiert, dass Ebert selbst in seiner Rede an die heimkehrenden Soldaten ("niemand hat euch bezwungen") den rechten Mythos gestärkt hatte und dass die Linken den Versailler Vertrag ebenfalls als Ungerechtigkeit empfanden und ihn revidieren wollten; ein Ziel, das die Rechte naturgemäß authentischer und nachdrücklicher vertreten konnte, was die Linke in dieser Frage permanent in die Defensive drängte und auch Enthüllungen wie die über die geheime und illegale Aufrüstung der Reichswehr ohne großes Echo ließ. 

Die Rechten dagegen zogen eine völlig andere Lehre aus dem Debakel. Für sie spielte der Anfang des Krieges bald nur noch aus Legitimationsgründen eine Rolle: Man wollte unbedingt den Kriegsschuldparagraphen des Versailler Vertrags widerlegen, der dessen Kern und Achse darstellte. Viel wichtiger aber erschien es, die Ergebnisse des Krieges zu revidieren und ihn dann noch einmal, dieses Mal aber "richtig", auszufechten. Es ging schlichtweg darum, das Ergebnis des Ersten Weltkriegs dadurch ungeschehen zu machen, dass man einen weiteren Konflikt siegreich beendete. 

Kuno von Westarp
Um dies tun zu können, sah man diverse Dinge als notwendig an. Diese konstitutierten gewissermaßen den Kern der gesamten Rechten, über den sie sich einig war (in den Alternativen waren die Unterschiede deutlich drastischer). Dazu gehörten:

1) Ablehnung der pluralistischen Gesellschaft. Eine Gesellschaft mit dem, was man heute als Menschen- und Bürgerrechte ansieht (freie Meinungsäußerung, politische Mitbestimmung, etc.) wurde als einer der Kerngründe für den Verfall der Moral an der Heimatfront ausgemacht. Stattdessen strebten die Rechten Formen autoritärer Regierungen an, ob dies nun eine Rückkehr zu einer ständisch gegliederten Gesellschaft war (Konservative) oder die Errichtung einer Diktatur und einer radikal egalitären, aber ihrer Rechte beraubten "Volksgemeinschaft" (NSDAP) - die Demokratie galt allen als Wurzel des Übels. 

2) Notwendigkeit von Propaganda. Die Propaganda des Kaiserreichs im Ersten Weltkrieg war in den Augen der Rechten nicht in der Lage gewesen, die notwendige Mobilisierung zu gewährleisten. Dem liegt ein wahrer Kern zugrunde; die kaiserliche Propagandamaschinerie war ihren alliierten Gegenstücken tatsächlich kreativ deutlich unterlegen gewesen. Die Rechte sah es als von Anfang an, auch in Friedenszeiten, notwendig, die öffentliche Meinung kontrollierter Propaganda zu unterwerfen und so den Pazifismus auszutreiben.  

3) Totale Mobilisierung. Anstatt den Staat als ein im Kern ziviles Instrumentarium beizubehalten, sollten sämtliche Organe dem Kriegseinsatz unterworfen werden. Dies war die Vorstufe dessen, was die Nationalsozialisten später als "Totaler Krieg" bezeichnen (aber gleichwohl nicht vollständig umsetzen) würden. 

4) Bruch des Völkerrechts. Das Völkerrecht wurde als ernsthaftes Hindernis betrachtet. Dies schloss sowohl Vorstellungen wie "Neutralität" von Ländern mit ein, deren Ressourcen oder strategischer Lage man sich bemächtigen wollte als auch die Einhaltung von Genfer Konvention und Hager Landkriegsordnung. Für die Rechten war klar, dass ein zukünftiger Krieg ohne diese "Zivilisationskrankheiten" auskommen müsste. 

5) Vermeidung eines Zweifrontkriegs. Der gleichzeitige Kampf gegen Frankreich/England und Russland wurde als eine Hauptursache der schlussendlichen Niederlage betrachtet. Es schien daher notwendig, Frankreich/England als "härteste Nuss" in einem zukünftigen Konflikt außen vor zu halten, während man aus Brest-Litowsk die Schlussfolgerung zog, Russland leicht bezwingen zu können. Der spätere Verlauf des Zweiten Weltkriegs zeigte, wie irrig die Annahme war, dass sich die strategische Situation Russlands und Frankreichs seit 1914 effektiv nicht verändert habe. 

Verhandlungen in München, 1938
Diese Gedanken lagen dem Kern der Weltkriegsrezeption zugrunde. In ihrer Gesamtheit lesen die Konservativen und Rechtsextremen aus diesen Punkten eine Handlungsanweisung heraus. Anstatt ihre Energie ähnlich den Linken in die Vermeidung eines künftigen Krieges zu investieren, ist ihre Absicht, die Kriegsziele, wie sie sich im Ersten Weltkrieg (und, im Falle der Alldeutschen, schon deutlich zuvor) herausgebildet hatten, durch einen erneuten Konflikt durchzusetzen, welcher dieses Mal unter Vermeidung der Fehler des Ersten Weltkriegs durchgeführt werden sollte. 

Es ist wohl Konsens zu sagen, dass sich in der Weimarer Republik zwar weder das linke noch das rechte Narrativ vollständig durchsetzen konnten; gleichwohl war die Vorstellung einer Revision des Versailler Vertrags wesentlich zu attraktiv für viele Deutsche, war ihre Verachtung für alles Östliche zu groß, als dass sie eine große Widerstandskraft gegen diese Vorstellungen hätten aufbringen können oder wollen. Während also keinesfalls große Begeisterung über den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs folgte, weil man eine Wiederholung des Ersten befürchtete, so stellte sich diese Begeisterung - und mit ihr eine nachträgliche Legitimierung des rechten Narrativs - nach den "Blitzsiegen" der Jahre 1939 und 1940 ein, die sämtliche Befürchtungen als falsche und überängstliche Panikmache zu denunzieren schienen. 

Straße in Berlin, 1945
Erst als der Zweite Weltkrieg sich für die Deutschen selbst zu einer immer größeren und deutlicheren Horrorvorstellung entwickelte, fand endlich, mit über 30 Jahren Verspätung, der moralische Bankrott jener Eliten statt, die ihre falschen Schlüsse bereits aus dem Ersten Weltkrieg gezogen hatten. Krieg als Mittel der Politik und eine Verachtung für parteipolitischen Parlamentarismus wichen einer tief verinnerlichten Aversion gegen das militärische Interventionen und autoritären Regierungsstilen. Hätten  die Deutschen und ihre Eliten diese Schlüsse bereits 1918/19 gezogen, so wäre den Deutschen wie der Welt viel Leid erspart geblieben. 


Quelle: http://geschichts-blog.blogspot.com/2014/03/der-wahn-vom-wiederholen-der-geschichte.html

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Vom “Zeitalter der Extreme” zum “Jahrhundert der Chancen”

Ekkehard Klausa beim Montagsradio

Der englische Historiker Eric Hobsbawm (1917-2012) hat in den 1990er Jahren zwei Formeln geprägt, um das zerrissene 20. Jahrhundert zu beschreiben: “das Zeitalter der Extreme” und “das kurze 20. Jahrhundert”. Was genau wird mit diesen Formeln beschrieben? Ist die Rede vom “Zeitalter der Extreme” – 20 Jahre nach der Veröffentlichung von Hobsbawms “The Age of Extremes” – überholt? Mit welchen Begriffen lässt sich das 20. Jahrhundert alternativ fassen?

Mit diesen Fragen beginnt und endet das erste MONTAGSRADIO des “Supergedenkjahres” 2014, das auf der 7. Geschichtsmesse in Suhl aufgezeichnet wurde. Im Gespräch mit dem Juristen, Soziologen und Journalisten Dr. Ekkehard Klausa diskutieren Miriam Menzel und Patrick Stegemann darüber hinaus die Bedeutung des 20. Jahrhunderts für nationale und europäische Gründungsmythen und wagen eine Prognose für das 21. Jahrhundert als “Jahrhundert der Chancen”.

Ekkehard Klausa ist u.a. an der Gedenkstätte Deutscher Widerstand und der Freien Universität Berlin tätig. In der Reihe “MONTAGSRADIO – Vor Ort in Suhl”, gefördert von der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, werden im Februar und März 2014 drei weitere Gespräche zu diesen Themen veröffentlicht:

Mit der Medienwissenschaftlerin Dr. Anja Hawlitschek und der BStU-Mitarbeiterin Franziska Scheffler sprechen wir über die Digitalisierung der historisch-politischen Bildung in Form von Geocaching, Serious Games, E-Learning-Umgebungen und Co.

Mit dem Regisseur und Schauspieler Stefan Weinert sprechen wir über seinen mittlerweile preisgekrönten Dokumentarfilm “Die Familie”.

Mit Dr. Thomas Schleper, Leiter des Projektverbunds “1914 – Mitten in Europa”, diskutieren wir über neue Zugänge zur “Urkatastrophe” des 20. Jahrhunderts, die Vielfalt der europäischen Erinnerung an den Ersten Weltkrieg und Möglichkeiten der Synthese.

 

Für einen schnellen Überblick: die Timeline zum Gespräch mit Ekkehard Klausa

00:25 Zum Begriff „Zeitalter der Extreme“

03:10 Die europäische Dimension des „Zeitalters der Extreme“

05:12 Die Verrohung des Geistes am Beginn des „Zeitalters der Extreme“

08:45 Ist das „Zeitalter der Extreme“ vorbei?

12:50 Erinnerung an das “Zeitalter der Extreme”: Mahnung und geistige Integration

15:45 Nationale Gründungsmythen und europäische Erinnerungskultur

18:15 1989/90 & 2004: Happy End des “Zeitalters der Extreme”?

22:00 Alternativen zur Formel “Zeitalter der Extreme”

24:36 Prognose: Das 21. Jahrhundert als “Jahrhundert der Chancen”

26:30 Die “Gedenkstätte Deutscher Widerstand” im Supergedenkjahr 2014

28:30 Der MONTAGSRADIO-Fragebogen

 

Foto: Ekkehard Klausa zu Gast im MONTAGSRADIO (Kooperative Berlin)

Quelle: http://www.montagsradio.de/2014/02/14/vom-zeitalter-der-extreme-zum-jahrhundert-der-chancen/

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aventinus nova Nr. 46 [28.12.2013]: Überlegungen zu Entschädigung und Würdigung jüdischer Veteranen der Roten Armee in Deutschland

Während die Veteranen des „Großen Vaterländischen Krieges“ in der Erinnerungskultur des heutigen Russlands eine prominente Rolle spielen, werden sie im Gedenken an den Zweiten Weltkrieg oder die Shoah in Deutschland nur am Rande berücksichtigt. http://bit.ly/Jy2cdu

Quelle: http://www.einsichten-online.de/2013/12/4847/

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Irische Geschichte, Teil 7: The Troubles, 1968-1974

Von Stefan Sasse

Teil 1 findet sich hier. In ihm wurde beschrieben, wie Irland seit der Personalunion mit der englischen Krone eine wechselhafte Beziehung mit England unterhielt und vor allem durch seine inneren Konflikte gespalten war, die entlang der Konfessionsgrenzen und Besitzverhältnisse verliefen. In Teil 2 wurde deutlich gemacht, wie die Politik der britischen Regierung und des Parlaments eine immer stärkere Wechselwirkung mit Irland entwickelten, in dem sich eine nationalistische Bewegung zu bilden begann und stets an Boden gewann. Als Großbritannien sich für die Selbstverwaltung Irlands, die Home Rule, entschied, hatten die Devolutionisten, die die totale Unabhängigkeit wollten, bereits deutlich an Boden gewonnen. Teil 3 beschrieb die zunehmende Gewaltbereitschaft zwischen den Unionisten in Ulster und den Nationalisten im Rest des Landes und die Konflikte um die Home Rule und wie diese Konflikte durch den Ersten Weltkrieg erst vertagt und dann verschärft wurden. In Teil 4 wurde gezeigt, wie die Iren den bewaffneten Kampf gegen die Briten aufnahmen und bereits in diesen Tagen der inner-irische Konflikt zu einer Art verdeckten Bürgerkrieg wurde. Auch die irische Nationalbewegung spaltete sich über das Ergebnis des Konflikts - die Teilung Irlands und den Dominion-Staus - und begann den bewaffneten Kampf gegeneinander. In Teil 5 haben wir gesehen, wie die Spaltung in offenen Bürgerkrieg ausartete, der letztlich mit der Niederlage der Radikalen und dem Tod vieler Moderater endete. Profitiert hat vor allem Großbritannien, das die Unabhängigkeit Nordirlands als Ganzes sichern konnte. Viele strukturelle Probleme blieben jedoch in beiden Ländern bestehen und noch ungelöst. Teil 6 beschrieb die Etablierung der beiden irischen Staaten und ihren Weg durch die Wirren der 1930er und 1940er Jahre. Besonders die latente Unruhe in Nordirland und der Versuch einer Modernisierung der irischen Wirtschaftspolitik wurden dabei aufgezeigt. 

Bürgerrechts-Mural in der Bogside, Derry
Zu Beginn der 1960er Jahre war Nordirland weitgehend ruhig geworden. Abgesehen von periodisch auftretenden Unruhen besonders an der Grenze, die allerdings nie eskalierten, geschah nichts mehr. Das Land war entlang der Konfessionsgrenzen stark territorial segregiert; nicht nur ballten sich Katholiken und Protestanten im Westen und Osten des Landes; die ländlichen Regionen waren eher katholisch, die städtischen eher protestantisch geprägt. Auch innerhalb der Städte gab es klar voneinander abgetrennte Wohnviertel, die fast ausschließlich von einer bestimmten Konfessionsgruppe bewohnt wurden. Dazu kam, dass die Gruppen sich selbst schon fast als Ethnien wahrnahmen und auch entsprechend bewerteten; so waren viele Protestanten davon überzeugt, dass nur Protestanten Iren sein konnten und dass die Katholiken gewissermaßen einer minderwertigeren Rasse angehörten, ähnlich amerikanischen Vorurteilen gegenüber der afro-amerikanischen Bevölkerung. Diese Sicht der Dinge fand auf katholischer Seite durchaus ihre Entsprechung.


Trotz allem war die Lage zu Beginn des Jahrzehnts bis etwa zu seiner Mitte relativ ruhig. Dann allerdings explodierte der stets latent vorhandene Konflikt in einer Reihe von provokativen Aktionen, die durch die beginnende Bürgerrechtsbewegung der Katholiken in Nordirland hervorgerufen wurde. Die Bürgerrechtsbewegung benannte dabei einige real existierende Benachteiligungen der Katholiken in Nordirland. Dazu gehörte eine Diskriminierung bei der Einstellung (ganz besonders im Öffentlichen Dienst, aber auch anderswo), was sogar mit Dokumenten belegt werden konnte; ein diskriminierendes Wahlrecht, das auf dem Stand des 19. Jahrhunderts zurückgeblieben schien und nur "Haushaltsvorständen" eine Stimme gab; die Zuweisung von Sozialleistungen auf Basis der Konfession; die Diskriminierung beim Zuschnitt der Wahlbezirke, die Protestanten wesentlich größere Repräsentation im Parlament gab ("Gerrymandering") und vieles mehr.

Erinnerung an den Marsch auf Derry 1968
Die Aufmerksamkeit, die die Bürgerrechtsbewegung erzielte beunruhigte viele Loyalisten (wie sich die königstreuen Protestanten in Nordirland in Abgrenzung zu der friedlichen Bürgerrechtsbewegung und der terroristischen IRA nannten), was 1966 weder durch die Sprengung der Nelson-Säule in Dublin durch die IRA noch durch zahlreiche Osteraufstands-Gedenkmärsche zum 50. Jahrestags des Aufstands 1916 verbessert wurde. Die Gemüter auf beiden Seiten erhitzten sich, und obwohl die nordirische IRA schlecht bewaffnet und organisiert und kaum zu Aktionen in der Lage war, versuchte sie mit aller Macht den gegenteiligen Eindruck zu erwecken - ein Propagandaschachzug, den aufzugreifen den Loyalisten sehr gelegen kam, die ihrerseits noch im selben Jahr die "Ulster Volunteer Force" als paramilitärischen Verband wiedergründeten, die seinerzeit im Bürgerkrieg gegen die IRA gekämpft hatte. 

Damit war die Bühne bereitet, und die nächsten drei Jahre sahen eine rasant steigende Zahl von Gewalttaten der UVF gegen Katholiken und, in geringerem Umfang, der IRA gegen Protestanten. Die Lage wurde dadurch nicht besser, dass die nordirische Polizei (RUC) wohl nicht unbegründet im Verdacht stand, die UVF zu decken und ihre Angriffe nicht zu verhindern, dafür umso härter gegen die IRA vorzugehen. Diese Konfliktlinie führte 1968 zu einer ersten Explosion. Die Bürgerrechtsbewegung plante einen großen Marsch nach Derry (nachdem bereits vorher andere Märsche abgehalten worden waren), den die RUC verhindern wollte. Polizisten kettelten die friedlichen katholischen Demonstranten ein und schlugen sie brutal zusammen. Der Zwischenfall wurde von anwesenden Kamerateams gefilmt und ging um die Welt; das Resultat waren zweitätige Unruhen in Derry und Umgebung.

Mural für die UVF, Belfast
Dasselbe Spiel wiederholte sich, als eine neu gegründete Studentengruppe - People's Democracy - einen viertägigen Marsch von Belfast nach Derry unternahm. Polizei und UVF-Schläger attackierten sie wiederholt, einmal sogar mit Eisenstangen, Pflastersteinen und Flaschen bewaffnet, und griffen sie in Derry erneut an. Einige Einwohner Derrys bauten Barrikaden und verwehrten der Polizei Zugang zu ihren Vierteln; im Anschluss wurde das "freie Derry" proklamiert. Die Zustände wurden bürgerkriegsähnlich. Im Frühjahr 1969 beschlossen die Loyalisten, die Regierung, die ihnen nicht entschlossen genug gegen die Katholiken vorging, zum Rücktritt zu zwingen. Mit insgesamt sechs Bombenanschlägen in Dublin, die zweitweise Strom und Wasser abschalteten und die der IRA in die Schuhe geschoben wurden. Der Plan ging auf, und Premierminister O'Neill trat im April 1969 zurück. 

Derry blieb weiterhin das Zentrum der Auseinandersetzung. Nachdem die RUC bei Hausdurchsuchungen durch exzessive Gewalt gegen Zivilisten sogar für Todesopfer sorgte, goss die neue Regierung noch Öl auf die Flammen, indem sie der loyalistischen Gruppe "Apprentice Boys" erlaubte, eine Demonstration entlang der Grenze zum katholischen Bogside-Viertel in Derry abzuhalten. Innerhalb kürzester Zeit bekämpften sich beide Seiten und die RUC griff ein und nutzte Tränengas, Wasserkanonen und gepanzerte Fahrzeuge um die Streithähne zu trennen. Die Straßenkämpfe dauerten fast zwei Tage. Als Antwort darauf protestierten die Katholiken vor RUC-Basen und blockierten einige, was zu erneuten Kämpfen führte. Die Panzerfahrzeuge der RUC schossen in Derry mit Maschinengewehren auf die Apartmenthäuser der Katholiken und erschossen einen neunjährigen Jungen. 

Katholisches Banner in Derry
Inmitten dieser Gewalt und Chaos hielt der irische Ministerpräsident Jack Lynch eine Rede, in der die Handlungen der RUC einseitig verurteilte, die UNO aufrief eine Friedenstruppe zu schicke und erklärte, dass "Irland nicht länger tatenlos zusehen" könne. Die einzige Lösung, die er sehe, sei die Wiedervereinigung. Die irische Armee errichtete Feldlazerette direkt an der nordirischen Grenze, um verletzte Katholiken zu versorgen. Er gab sogar einen geheimen Befehl an die Armee, die gewaltsame Evakuierung des katholischen Nordirland zu planen - was erst 30 Jahre später bekannt wurde. Die Straßenkämpfe in Derry einstweilen wurden druch das direkt Eingreifen der britischen Armee, die Truppen in Nordirland stationierte, zum Erliegen gebracht. Neun Menschen waren tot, über 750 verletzt (davon 133 mit Schusswunden), 400 Häuser und Geschäfte zerstört. 

Keine der beiden Seiten war unschuldig am Ausbrechen des Konflikts, aber der Löwenanteil der Schuld liegt sicher bei der nordirischen Seite. Nicht nur sah man den gegenseitigen Provokationen der protestantischen Loyalisten und der katholischen Nationalisten tatenlos zu, man ergriff auch noch Partei für die Loyalisten. Auch das Eintreffen der Armee, der die Katholiken zuerst mehr vertrauten als der RUC, besserte die Lage nicht, da die Armeeführung diplomatisch nicht sonderlich bewandert war und die Beziehungen zu den Katholiken schnell einfroren. Für einen kurzen Moment jedoch legte sich wieder etwas Ruhe über das Land. 

Protestantisches Graffitti in Belfast
1970 flammte der Konflikt dann mit voller Härte wieder auf, denn die IRA hatte ihre anfängliche organisatorische Schwäche gegenüber der UVF aufgeholt. In Derry, das immer noch Zentrum des Konflikts war, waren viele Teile der Stadt für die britischen Behörden effektiv No-Go-Areas, in die selbst mit 1-Tonnen-Panzerfahrzeugen nicht mehr eindringen konnten. Innerhalb dieser Bezirke hatten sich zwei verfeindete IRA-Strömungen eingenistet, die "Official IRA", die gewissermaßen der politische Arm der irischen IRA war und gewaltsame Auseinandersetzungen ablehnte, und die "Provisional IRA", die den bewaffneten Kampf als einzige Lösung sah. In der Praxis jedoch bekämpften beide IRA-Organisationen die Loyalisten und die Briten - und sich selbst. 

Zwischen 1970 und 1972, den blutigsten Jahren des Konflikts, brach die Gewalt in Schusswechseln immer wieder aus, nicht nur in Derry, sondern auch Belfast und anderen Städten. Ein gewichtiger Grund für diesen Ausbruch war mit Sicherheit der Aufstieg der Provisional IRA und ihrem Fokus auf bewaffnetem Kampf. Die protestantischen Terroroganisationen zahlten in gleicher Münze zurück, was eine Spirale gegenseitiger Morde in Gang setzte. Eine weitere, wenngleich weniger gewichtige Rolle spielte die Strategie der Behörden, die oft ebenfalls auf Gewalt setzten, mit dem Bruch von illegalen Besetzungen oder den überdimensionierten Angriffen auf vermutete Verstecke der IRA, die praktisch zwingend Kollateralschäden bedeuteten. Die Provisional IRA schob ihren Fokus auf den Kampf gegen die britischen Truppen, was angesichts der professionellen Bewaffnung und geringen Toleranz der einen und der irischen Unterstützung auf der anderen Seite ebenfalls einen gewaltigen Anstieg in der Gewaltspirale bedeutete.

Polizeikontrolle in Belfast
Im Juni 1973 begann sich die Lage wieder etwas abzukühlen, als im so genannten "Sunningdale Agreeement" die Republik Irland und die britische Regierung darin übereinkamen, dass Nordirland künftig auch katholisch-unionistische Kräfte mit einbeziehen würde. Die Lebenszeit dieses Abkommens allerdings war kurz: die protestantischen Radikalen akzeptierten es überhaupt nicht, und durch die IRA ging ein tiefer Graben, der die Bewegung spaltete und zu Bruderkämpfen führte. Das Abkommen scheiterte 1974, nachdem das "Ulster Worker Council" (UWC) einen Generalstreik ausrief, der auch vom britischen MI5 massiv unterstützt wurde, der mit dieser Einmischung die regierende Labour-Regierung unter Harold Wilson stürzen wollte. Der Streik wurde von massiven Bombenattentaten begleitet, deren Ursprung bis heuten icht geklärt ist. Die Katholiken traten aus den Sunningdale-Gremien aus.

Literaturhinweise:
Richard English - Armed Struggle - The history of the IRA 
 

Bildnachweise: 
Bürgerrechts-Mural - Kenneth Allen (CC-BY-SA 2.0)
Gedenkstein -  Kenneth Allen (CC-BY-SA 2.0)
UVF Mural - Sitomon (CC-BY-SA 2.0)
Banner -  Fribbler (GNU 1.2)
Graffitti - George Louis (GNU 1.2)
Polizeikontrolle -  George Louis (GNU 1.2)

Quelle: http://geschichts-blog.blogspot.com/2013/12/irische-geschichte-teil-7-troubles-1968.html

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aventinus recensio Nr. 40 [30.11.2013]: Tobias Brinkmann: Migration und Transnationalität (=Perspektiven deutsch-jüdischer Geschichte Bd. 3), Paderborn 2012. ISBN 978-3-506-77164-3 [=Skriptum 2 (2012) Nr. 2 — Unveränd. Nachdruck]

Tobias Brinkmann, Associate Professor of Jewish Studies and History an der Universität von Pennsylvania, legt mit seiner Monographie „Migration und Transnationalität“ eine Studie über die transnationale Verflechtung der jüdischen Diaspora von 1800 bis heute vor. http://bit.ly/19fezSk

Quelle: http://www.einsichten-online.de/2013/11/4798/

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aventinus nova Nr. 45 [11.10.2013]: Papst Johannes Paul II. als Außenpolitiker im polnischen Konflikt zwischen Regierung und Arbeiterschaft 1980-1983 [=historia scribere 5 (2013), S. 31-44]

In Polen löste die Wahl Wojtylas in der katholischen Bevölkerung Begeisterung aus, verbunden mit großen Hoffnungen auf das neue kirchliche Oberhaupt. Mit der Wahl eines Polen zum Papst gewann die Bevölkerung nun eine gewichtige Stimme für ihr Bestreben. http://bit.ly/1ccnWFX

Quelle: http://www.einsichten-online.de/2013/10/4728/

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aventinus recensio Nr. 39 [30.09.2013]: Vom Scheitern der Demokratie — Die Pfalz am Ende der Weimarer Republik, hrsg. v. Gerhard Nestler / Stefan Schaupp / Hannes Ziegler, Karlsruhe 2010 [=Skriptum 1 (2011) 2]

Nach knapp 80 Jahren beschäftigt das Ende der ersten deutschen Republik die Historikerzunft noch immer. Einer der neuesten Beiträge des letzten Jahres ist ein Sammelband über das Scheitern der Republik in der bayerischen Pfalz. http://bit.ly/16CXw1k

Quelle: http://www.einsichten-online.de/2013/09/4708/

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Irische Geschichte, Teil 6: Etablierung zweier Irland

Von Stefan Sasse

Teil 1 findet sich hier. In ihm wurde beschrieben, wie Irland seit der Personalunion mit der englischen Krone eine wechselhafte Beziehung mit England unterhielt und vor allem durch seine inneren Konflikte gespalten war, die entlang der Konfessionsgrenzen und Besitzverhältnisse verliefen. In Teil 2 wurde deutlich gemacht, wie die Politik der britischen Regierung und des Parlaments eine immer stärkere Wechselwirkung mit Irland entwickelten, in dem sich eine nationalistische Bewegung zu bilden begann und stets an Boden gewann. Als Großbritannien sich für die Selbstverwaltung Irlands, die Home Rule, entschied, hatten die Devolutionisten, die die totale Unabhängigkeit wollten, bereits deutlich an Boden gewonnen. Teil 3 beschrieb die zunehmende Gewaltbereitschaft zwischen den Unionisten in Ulster und den Nationalisten im Rest des Landes und die Konflikte um die Home Rule und wie diese Konflikte durch den Ersten Weltkrieg erst vertagt und dann verschärft wurden. In Teil 4 wurde gezeigt, wie die Iren den bewaffneten Kampf gegen die Briten aufnahmen und bereits in diesen Tagen der inner-irische Konflikt zu einer Art verdeckten Bürgerkrieg wurde. Auch die irische Nationalbewegung spaltete sich über das Ergebnis des Konflikts - die Teilung Irlands und den Dominion-Staus - und begann den bewaffneten Kampf gegeneinander. In Teil 5 haben wir gesehen, wie die Spaltung in offenen Bürgerkrieg ausartete, der letztlich mit der Niederlage der Radikalen und dem Tod vieler Moderater endete. Profitiert hat vor allem Großbritannien, das die Unabhängigkeit Nordirlands als Ganzes sichern konnte. Viele strukturelle Probleme blieben jedoch in beiden Ländern bestehen und noch ungelöst.

Eamonn de Valera
Um die Wirren des Bürgerkriegs endlich hinter sich zu lassen, beschloss die nun regierende Fianna Fàil, die IRA zu legalisieren und einen Schlussstrich zu ziehen, indem man Amnesien für politische Gewalttaten der Vergangenheit aussprach. Die Wahlen von 1932 gewann Fianna Fàil entscheidend gegen ihre Gegner der Gründerpartei Cumann na nGaedheal, indem sie von deren laissez-faire-Politik abrückte und stattdessen ein staatlich gesteuertes Industrialisierungsprogramm, die Schaffung von Jobs und die Errichtung eines sozialen Netzes propagierte. Sie forderte außerdem die vollständige Unabhängigkeit vom britischen Empire, anstatt im bisherigen Dominion-Status zu verbleiben. Bis weit ins 20. Jahrhundert ist die Fianna Fàil die natürliche Regierungspartei Irlands geblieben.

In den 1930er Jahren erwuchs ihr jedoch Konkurrenz am rechten Rand. Die "Army Comrades Associaton", die sich bald als "National Guard" taufte und deren Anhänger wegen ihrer Uniformierung "Blauhemden" genannt wurden, versuchten zwar nicht, die Macht auf parlamentarischem Wege zu erobern (wie es Hitlers Nationalsozialisten 1933 tun würden), sondern orientierten sich mehr am Vorbild von Mussolinis italienischen Schwarzhemden. Gleichwohl gefährdeten sie die innere Sicherheit, weil sie sich beständig mit der IRA Scharmützel und offene Straßenschlachten lieferten, was gleichzeitig einen ohnehin vorhandenen Linksruck der IRA beförderte, die man bald nur noch als linksextrimistische Terrororganisation beschreiben konnte (eine Entwicklung, die in Nordirland bereits vorher verlaufen war). Als die Blauhemden 1933 in einer Nachahmung von Mussolinis "Marsch auf Rom" einen erfolglosen Angriff auf die Dáil unternommen, wurde die Organisation von Präsident de Valera verboten. Das Gespenst einer faschistischen Machtübernahme zerstob damit in Irland genausoschnell wie in Großbritannien, wo Mosley mit seiner faschistischen Partei ein ähnlich unrühmliches Ende fand.

Abzeichen der Blauhemden
Es zeigte sich bald, dass de Valeras entschiedenes Durchgreifen gegen die Blauhemden auch den anderen inneren Unruheherd begünstigte. Nachdem die IRA nun vor allem gegen Repräsentanten des Systems vorging und diese ermorderte, erließ de Valera 1936 auch ein Verbot der IRA, das 1939 mit drakonischen Maßnahmen verschärft und durchgesetzt wurde. Die irische Politik löste sich damit endgültig von der bewaffneten Durchsetzung und bewegte sich ab sofort auf verfassungsrechtlicheren Pfaden. Dazu passte, dass de Valera dem Land 1937 eine neue Verfassung gab. Sie wurde mit einfachem Plebiszit bestätigt und schaffte viele der früheren Provisorien ab, darunter auch die Titel der Regierungsorgane (Präsident statt Governor-General, Government statt Exeucutive Council, etc.). Eine Republik war das Land aber offiziell immer noch nicht, sondern Königreich im Vereinigten Königreich Großbritanniens.

Das sollte sich bald ändern, denn der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs schuf für Großbritannien eine Reihe wesentlich dringenderer Probleme als die irische Politik. Irland erklärte sich für neutral - was viele im Land als wichtigen Schritt zur echten Unabhängigkeit empfanden - arbeitete aber im Geheimen mit den Alliierten zusammen, was so weit ging, dass Pläne für den Fall einer deutschen Invasion ausgearbeitet wurden. In diesem Fall (von der Wehrmacht mit üblich deutscher Kreativität "Fall Grün" getauft) wäre die irische Armee alliiertem Kommando unterstellt worden. Dies stellte für Irland sicher, dass die siegreichen Alliierten das Land nicht als Feind betrachten würden. Die IRA dagegen sah die Ereignisse als Chance, die Briten aus Nordirland zu vertreiben und begann eine neue Terrorkampagne. Sie plante sogar, die Nazis um Hilfe zu bitten, wozu es freilich nie kam. De Valera griff hart durch, internierte alle bekannten IRA-Anführer und hängte diverse Terroristen. Die kurze IRA-Terrorwelle kam damit schnell wieder zum Erliegen, ohne große Auswirkungen zu haben.

Sitzungssaal des Dàil
1949 erklärte Irland sich endgültig zur Republik, was nach den geltenden Regularien des Commonwealth einen automatischen Ausschluss zur Folge hatte (da man ja das Oberhaupt der Krone von England nicht anerkannte). Dies war kein Ausschlussgrund; Indien etwa, das 1947 seine Unabhängigkeit als Republik erklärt hatte, trat danach wieder ein. Irland tat dies jedoch nicht, und die britische Regierung erklärte öffentlich, das Land fortan als Ausland zu betrachten. Erst 1962 jedoch wurde in Irland auch formell die englische Krone als Staatsoberhaupt abgelöst und die vakante Repräsentanz im britischen Parlament aufgegeben.

Die irische Wirtschaftspolitik hoher Schutzzölle und des Versuchs des Aufbaus eigener Industrie unter de Valera scheiterte in diesen Jahren jedoch. Obwohl Irland aus dem Zweiten Weltkrieg dank seiner Neutralität mit wesentlich besserer Wirtschaftslage herausgegangen war, stagnierte die Wirtschaft stark, während der Rest Europas einen Aufschwung erlebte. Dies führte 1958 zum Regierungswechsel. De Valera, der seit rund 20 Jahren Regierungschef gewesen war, wurde abgelöst, und mit ihm seine Wirtschaftspolitik. Irland senkte radikal die Zölle, investierte in Infrastruktur und erlebte bald hohe Wachstumsraten, die es an den europäischen Standard aufschließen ließen und die das Land verkrüppelnde Emigrationsraten deutlich senkten.

Charles de Gaulle
Auf der internationalen Bühne spielte Irland im Kalten Krieg praktisch keine Rolle. Ohne Zugehörigkeit zu einem der beiden Blöcke, aber mit starken Bindungen an die angelsächsische Welt verwehrte ihr die UdSSR bis 1955 die Anerkennung in der UNO. Danach war das große außenpolitische Projekt Irlands die Aufnahme in die Europäische Union, von der man sich - gerade dank der begonnenen Freihandelspolitik der niedrigen Zölle - deutliche Wachstumsimpulse erhoffte. Das Land wurde aber zur Geisel Frankreichs eigener Großmachtpolitik unter Charles de Gaulles in jener Zeit, der die geplante Aufnahme Großbritanniens aus machtpolitischen Gründen mit seinem Veto blockierte. Auch Irlands Aufnahme fiel unter dieses Veto, da die Insel wegen ihrer starken Anbindungen zur britischen Wirtschaft wirtschaftlich kaum von Großbriannien zu trennen war.

Eine der wichtigsten Reformen, die Irland in dieser Zeit vornahm, war die Schulgeldfreiheit. Sie gehörte in das größere Bündel der Infrastrukturmaßnahmen, war aber wesentlich mit dafür verantwortlich, dass die Gesellschaft den Sprung von der Agrargesellschaft zur Industriegesellschaft schaffte. Breiten Schichten wurde erstmals der Zugang zu höherer Bildung ermöglicht, was gleichzeitig für eine Bewegung der Bevölkerung sorgte. Viele Menschen begannen vom Land in die Stadt zu ziehen, und das soziale Klima liberalisierte sich (wenngleich die starke katholische Ausrichtung des Landes es im europäischen Vergleich immer noch illiberal erscheinen lässt, besonders in Fragen wie der Abtreibung).

Parade des Orange Order
In der Zwischenzeit hatte Nordirland seine eigenen Probleme. Die weit reichende Diskriminierung der katholischen Minderheit durch die wirtschaftliche Elite der Protestanten fand praktisch eine Insitutionalisierung; zahlreiche Gesetze benachteiligten die Katholiken und schlossen sie von Staatsämtern aus. Gleichzeitig wurde durch Wahlmanipulation ihre Bedeutung verringert. Protestantische Opposition gegen die Ulster Unionist Party konnte keine große Bedeutung erreichen, weil sie zersplittert und über ihre Ziele uneins war.


Effektiv befand sich Nordirland von 1925 bis 1965 unter einer kontinuierlichen und ruhigen Kontrolle der Unionisten, die allerdings immer wieder von gewaltsamen Zusammenstößen zwischen Katholiken und Protestanten kurz erschüttert wurde. Der schlimmste Zusammenstoß dieser Art fand 1935 statt, als der Orange Order bei einem Umzug von seiner Route abwich und durch ein katholisches Viertel zog. Erwartungsgemäß kam es zu einem Ausbruch von Gewalt mit neun Toten und zahlreichen Verletzten, der von der Regierung als Vorwand für Repressalien gegen die Katholiken genutzt wurde. Insgesamt blieb Nordirland ein Pulverfass, das kontinuierlich nicht explodierte. Die Unionisten schienen die Situation im Griff zu haben.

Parlament in Belfast
Ein Wandel wurde schließlich von innerhalb der Ulster Unionist Party erreicht, als Viscount Brookeborough von Terence O'Neill als Premierminister abgelöst wurde. Letzterer kam 1963 an die Macht, als auch die Republik Irland einen wirtschaftlichen Aufschwung erlebte. Der gemeinsame Weg zur Industrialisierung verbesserte die Beziehungen der beiden Irlands, und O'Neill bemühte sich sehr darum, die Beziehungen zwischen Katholiken und Protestanten zu verbessern. Radikale innerhalb Nordirlands selbst arbeiteten jedoch von beiden Seiten gegen ihn: weder der Orange Order noch die IRA hatten ernsthaftes Interesse an Frieden, und auch innerhalb der Partei selbst gab es heftige Kritik. Regierungsmitglieder wurden auf Versammlungen tätlich angegriffen. Doch all diese Unruhe war nichts gegen den Ärger, der ab 1969 über Nordirland hereinbrechen sollte.


Literaturhinweise: 
Richard English - Armed Struggle - The history of the IRA 
T. R. Dwyer - Michael Collins
Michael Collins (DVD, Spielfilm)
The Wind that shakes the Barley (DVD, Spielfilm) 
Bildnachweise: 
Eamonn de Valera - National Photo Collection (gemeinfrei)
Blauhemd-Abzeichen - Thomas Gun (gemeinfrei)
Sitzungssaal - Tommy Kavanagh (CC-BY-SA 3.0)
Charles de Gaulle - Office of War Information (gemeinfrei)
Parade - Helenalex (CC-BY-SA 3.0)
Parlament - LukeM212 (CC-BY-SA 2.0)

Quelle: http://geschichts-blog.blogspot.com/2013/09/irische-geschichte-teil-6-etablierung.html

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Ohne Worte: Der Mittelfinger des Spitzenkandidaten. Zur Gegenwart einer körpergeschichtlichen Praxis der Provokation

Foto: Süddeutsche Zeitung Magazin 2013

Auf dem Cover des Magazins der „Süddeutschen Zeitung“ prangt der Spitzenkandidat der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands und streckt dem Betrachter seinen Mittelfinger entgegen. Anlass zu der Geste war die provokative Suggestiv-Frage: „Pannen-Peer, Problem-Peer, Peerlusconi – um nette Spitznamen müssen Sie sich keine Sorgen machen, oder?“1Peer Steinbrück hatte sein Einverständnis zu einem „Interview ohne Worte“ gegeben und Fragen mit Gesten beantwortet — eine typische Magazin-Idee. Das als „Antwort“ auf die zitierte Frage entstandene Foto ist in jenem strengen Schwarz-Weiß gehalten, das normalerweise geeignet wäre, den in dieselben Farben gekleideten Kandidaten in das staatstragende Licht einer Foto-Historisierung zu entrücken. Sein Fingerzeig bewirkte das Gegenteil.

Schon die ersten Kommentare in der Halböffentlichkeit der sozialen Netzwerke zeugten von Erregung. Die obszöne Geste sei „eines Staatsmannes nicht würdig“, schrieb ein Kommentator. Steinbrück habe sein ohnehin berüchtigtes „cholerisches Naturell“ damit abermals unter Beweis gestellt, kommentierte ein anderer. „Steinbrücks Stinkefinger hat die Wahl entschieden“ – zu seinen Ungunsten, prophezeite gar die Zeitung „Die Welt“. Im Internet verbreitete sich das Bild mit der dem Medium eigenen Geschwindigkeit. Nachahmungstäter, darunter der Musikproduzent Tim Renner, fotografierten sich in eben jener “Rowdy-Pose” (“Stuttgarter Zeitung”). Montagen zeigen Steinbrück als E.T., den Außerirdischen mit dem Leuchtfinger, oder reduzierten die ohnehin schon wenig kontroverse Bundestagswahl 2013 auf eine zwischen zwei hohlen Gesten, dem erigierten Finger des Herausforderers und dem fromm wirkenden Merkel’schen Wai:

Sogar die ferne “New York Times” berichtete, traute sich aber nicht, das corpus delicti abzubilden und wich stattdessen auf ein Bild des Steinbrück’schen Zeigefingers aus. Dazu zitierte die NYT den deutschen Minister Philipp Rösler (FDP), der die „gesture“ für „unworthy“ befand. In der puritanisch geprägten Öffentlichkeit der USA ist die phallische Geste weit stärker tabuisiert als hierzulande. Warum aber provoziert die schlichte Handbewegung so sehr? Und in welche Traditionen schreibt sich Steinbrück hier ein? Die Körpergeschichte plädiert seit langem dafür, auch Haltungen und Gesten dieselbe Aufmerksamkeit wie Texten zu schenken. Die Steinbrück’sche Pose scheint ein Paradebeispiel für den Ausdruck einer langen körpergeschichtlichen Tradition der Pop- und Protestgeschichte in der unmittelbaren politischen Gegenwart.

In der universalen Gebärdensprache zur Herabwürdigung von Personen steht die Geste für die wenig freundlichen Worte “f*ck you” und ist daher volkstümlich auch als “Stinkefinger” bekannt. Der wohl bekannteste pophistorische Fall eines öffentlich vorgezeigten Fingers in der Popgeschichte ist der des Country-Sängers Johnny Cash. Gemeinsam mit Carl Perkins, Sleepy LaBeef und nicht zuletzt Elvis Presley war Cash in den fünfziger Jahren im Sun-Studio des Produzenten Sam Phillips bekannt geworden. Wie andere „Classic Rocker“ durchlitt er nach der kurzen Blütezeit des Rock’n’Roll eine weniger erfolgreiche Phase, in der er sich vom Rythm&Blues und Rockabilly auf Country-Musik umorientierte. Nachdem das Establishment der Country-Musik in Nashville ihn Jahre lang als Außenseiter behandelt hatte, “bedankte” sich Cash 1996 nach seinem mit einem Grammy gekrönten Come-Back mit einer ganzseitigen Anzeige im Billboard-Magazine. Darauf ist ein bei seinem berühmten Konzert im Gefängnis von St. Quentin entstandenes Foto zu sehen, dass ihn mit wutentbranntem Gesichtsausdruck und ausgestrecktem Mittelfinger zeigt. Dazu setze sein Management den bitter-ironischen Kommentar: „American Recordings and Johnny Cash would like to acknowledge the Nashville music establishment and country radio for your support.”

Ein aufmerksamkeitsökonomischer PR-Gag seines neuen Produzenten Rick Rubin, den man wohl nur vor dem Hintergrund der Prüderie der amerikanischen Gesellschaft versteht, die Four-Letter-Words mehr zu fürchten scheint, als den Privatbesitz von Schusswaffen. Einige Jahre später folgte der Country-Musiker Willie Nelson nach — indem auch er den Mittelfinger reckte. Als die Bekleidungskette „Urban Outfitters“ unlängst die Fotos von Cash und Nelson auf T-Shirts druckte, kam es zu einem Streit – um das Copyright.

Tatsächlich gehörte die Pose schon länger zum Pop. Der Sex Pistols-Musiker Johnny Rotten hatte sie als typische Handbewegung des Punk bekannt gemacht. Der Gestus gehörte bald zum Standard-Repertoire der Provokations-Kultur und prangte auf Schallplatten- und Fanzine-Covern.

Dass er aber bis heute keineswegs normal ist, bewies erst im Jahr 2012 die Sängerin M.I.A. Als sie gemeinsam mit der 53-jährigen Pop-Ikone Madonna beim Super Bowl in Indianapolis auftrat, zeigte M.I.A. einem Kamera-Mann ihren Finger und erntete dafür prompt einen Sturm der Entrüstung. Der Fernsehsender verpixelte das Bild nachträglich in einem Akt der Zensur und entschuldigte sich bei den Zuschauern, weil es nicht ganz gelang, „die unpassende Geste zu verdecken“. Da half es wenig, dass sich M.I.A. entschuldigend auf die lange Tradition des Punk berief: In den USA ist die sexualisierte Handbewegung noch nicht vorzeigbar.

In Deutschland mag sich dies nun ändern.

„In Gesten und Körperhaltungen, aber auch im Erfahren des Körpers und im Umgang mit ihm kommen [..] Verstehensweisen zum Ausdruck; sie sind geradezu in ihm eingeschrieben“, schreibt Hartmut Rosa.2 Derart verkörpertes Wissen, so der Soziologe im Anschluss an Taylor und Bourdieu, präge unseren Habitus. Inkriminierte Gesten und Körperpraktiken, das lässt sich anhand von vormals als obszön gebrandmarkten Tänzen wie dem Twist studieren, werden meist dann enttabuisiert, wenn sie von prominenten Personen der Zeitgeschichte medienwirksam inszeniert werden. Es mag zunächst schwer fallen, eine habituelle Linie von Johnny Rotten und Johnny Cash über M.I.A. zu Peer Steinbrück zu ziehen. Aus zeithistorischer Perspektive muss man aber wohl oder übel davon ausgehen, dass der deutsche Politiker seinen Körper mit einer einzigen Geste in eine lange popgeschichtliche Tradition eingeschrieben hat. Damit dürfte über kurz oder lang ein weiteres Tabu fallen, das jahrzehntelang zur Provokation taugte. What’s next?

  1. Süddeutsche Zeitung Magazin Nr. 37 vom 13. Dezember 2013.
  2. Hartmut Rosa: Identität und kulturelle Praxis.  Politische Philosophie nach Charles Taylor, Frankfurt/Main, New York: Campus 1998, S. 147.

Quelle: http://pophistory.hypotheses.org/991

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aventinus visio Nr. 6 [23.08.2013]: Zur Sache, Schätzchen (1968) – der spielerische Bruch bürgerlicher Konventionen

Jugendliches Lebensgefühl, Unzufriedenheit und Rebellion — mit diesen drei Schlagworten wird meist die Grundthematik von May Spils’ Spielfilm ‘Zur Sache, Schätzchen’ aus dem Jahr 1968 umschrieben: eine Filmkomödie, die das Lebensgefühl junger Menschen in den 1960er-Jahren ausdrücke. http://bit.ly/17RnxFi

Quelle: http://www.einsichten-online.de/2013/08/4661/

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