Bloggende Doktoranden. Eine Bilanz zu Fragen und Antworten #wbhyp

3284010276_ebfa71b07e_zEin Dauerbrenner in Gesprächen über das wissenschaftliche Bloggen ist nach wie vor die Frage: „Was und wie dürfen Doktorandinnen und Doktoranden überhaupt bloggen?“. Viele Doktoranden sind im Rahmen von Forschungsprojekten angestellt, bei denen publiziert wird. Aber auch Doktoranden ohne Stelle sind auf Konferenzen präsent, stellen ihre Forschung vor und müssen darauf achten, was sie vor Abgabe der Dissertation publizieren. Besonders viele Fragen und Bedenken kommen jedoch beim Publizieren in Blogs auf.

Welche Bedenken und Vorbehalte existieren?

Über das Bloggen während des Promotionsstudiums hat Matthias Meiler einen Blogbeitrag verfasst, der seine Unsicherheit bezüglich der Publikation von noch nicht fertigen Gedanken zum Ausdruck bringt. Ebenso stellt er sich die Frage, wie groß das Risiko ist, Überlegungen zu bloggen, die womöglich in der Dissertation einen größeren Stellenwert einnehmen könnten, als zunächst gedacht.

Werfen unfertige Gedanken ein schlechtes Bild auf die Arbeit von Doktoranden? Oder greift jemand anders einen unfertigen Gedanken auf und entwickelt ihn einfach weiter? Wie und was können Doktoranden also bloggen, wenn doch das Mantra der Professoren lautet, es sei normal, dass sich die Struktur der Arbeit, die Fragestellung, die Überlegungen, etc. im Lauf des Promotionsstudium noch ändern? Woher weiß man, was man vorab verbloggen darf und was nicht?

Und wie sieht es mit Selbstplagiat aus? Dürfen Doktoranden vorab publizierte Texte mit in die Dissertation aufnehmen? Klaus Graf hat darauf eine sehr deutliche Antwort: „Ein Eigenplagiat ist kein Plagiat, da man das Ergebnis einer eigenen und nicht einer fremden Leistung verwertet. Sich selbst kann man nicht bestehlen.“ Doch denken die Prüfer am Ende genauso?

Was haben Doktoranden überhaupt vom wissenschaftlichen Bloggen?

Wie Mareike König in ihrem Blogbeitrag schreibt, kommen immer wieder Bedenken von Wissenschaftlern auf, die diese wissenschaftliche Schreibform noch nie ausprobiert haben. Vielmehr wird der Zeitmangel häufig als Gegenargument genannt. Gerade Doktoranden müssen zusehen, dass sie ihre Dissertation fertig stellen. Anne Baillot beispielsweise rät in ihrem Beitrag zu #wbhyp ihren Doktoranden daher vom regelmäßigen Bloggen ab. Aus welchem Grund sollten Doktoranden also Zeit opfern und sich dem wissenschaftlichen Bloggen zuwenden?

Hierzu hat Johannes Walschütz verschiedene Gründe genannt, weshalb das Bloggen für Doktoranden sinnvoll ist:

  • Es ist eine Möglichkeit, auf die eigene Forschung aufmerksam zu machen.
  • Die Publikation erfolgt schnell und die Beiträge sind gut auffindbar.
  • Es stellt eine sinnvolle Art der Ablenkung von der Arbeit an der Dissertation dar.
  • Das eigene Blog ist ein hervorragender Ort, um Schreib- und Publikationserfahrungen zu sammeln.
  • Bloggen hilft Gedanken zu strukturieren.

Neben der Werbung für die eigene Arbeit stellt also das Bloggen an sich den Grund für’s Bloggen dar. Durch das Schreiben im Blog muss die Arbeit dargestellt werden, was eine zusätzliche Beschäftigung mit der Thematik erfordert. Das Thema muss nicht „nur“ gedacht, sondern auch geschrieben werden. So hat Maxi Platz für das eigene Bloggen festgestellt, dass es „für Nachwuchswissenschaftler wirklich heilsam [ist], eigene Themen verständlich zu formulieren. Ist man dazu nicht in der Lage, hat man vielleicht etwas selbst nicht ganz verstanden und kann das so durchaus überprüfen.“

Neben dem Schreiben übt Bloggen auch das Loslassen. Einen Gedanken zu publizieren und ihn zur Debatte zu stellen, eine These öffentlich zu verteten und nicht mehr "noch einmal eine Nacht drüber schlafen", erfordert zu Beginn Überwindung. Zudem ist allen Doktoranden (zumindest in den Geistes- und Sozialwissenschaften) gemeinsam, dass sie einen irre langen Text schreiben. Alles wird vorher irgendwie irgendwo geübt, aber bei der Dissertation wird erwartet, dass es gleich so funktioniert.

Dieser Text beinhaltet dann eine jahrelange Reflexion, wobei man erst am Ende weiß, was und worüber genau man eigentlich schreibt. Aber das kann nicht der Grund sein, auf das Bloggen zu verzichten. Denn, nicht zu vergessen (und hier schon wieder das Mantra der Professoren): Das, was einem zu Beginn des Promotionsstudiums durch den Kopf geht und was in Form eines Blogartikels festgehalten wird, spiegelt mit Sicherheit nicht mehr die Position wider, die man während der Disputation hat. Blogartikel stellen also vor allem die einzelnen Arbeits- und Gedankenschritte während des Promotionsstudiums dar.

Wie bloggen andere Doktoranden?

Ein Blick auf die Blogs anderer Doktoranden macht deutlich, worüber diese so bloggen. Aber vor allem zeigt dieser Blick auch, dass andere Doktoranden bloggen und dass dies so einige tun. Eine ehemalige Doktorandin und zwei Doktoranden von de.hypotheses geben einen Einblick über ihr Bloggen und ihre Blogerfahrungen. Ein ganz herzlicher Dank gilt hier Johannes Waldschütz, Matthias Meiler und Maxi Platz, die auf meinen Mailaufruf an die Community von de.hypotheses Ende letzten Jahres geantwortet haben.

Matthias Meiler bloggt vor allem aus wissenschaftlichem Interesse, weil die Kommunikationsform Gegenstand seiner Dissertation ist (METABLOCK). In den Beiträgen verbloggt er Randüberlegungen, die in der Dissertation keinen Platz finden, aber dennoch von Interesse sind. Auf diese Weise könnten auch solche Randüberlegungen ausgearbeitet werden und einer Leserschaft präsentiert werden. „Aspekte, die diesen Stellenwert dennoch haben, neige ich im Blog nur zu nennen bzw. nur knapp auszuführen. In vielen Fällen geht das aber auch gar nicht anders, da ich zum jeweiligen Zeitpunkt mehr Fundiertes dazu noch gar nicht sagen kann oder auf Basis meines bisherigen Kenntnisstandes noch nicht sagen will.“ Außerdem: „Integrale Aspekte meiner Diss im Blog zu veröffentlichen, wäre der Kommunikationsform 'Weblog' auch gar nicht angemessen.“

Maxi Platz hat während ihres Promotionsstudium ebenfalls über Nebenaspekte ihrer Dissertation gebloggt (MinusEinsEbene). Rückblickend stellt sie fest, dass sie sehr unterschiedlich gebloggt hat und sich ihr Schreibstil im Lauf der Zeit auch sehr verändert hat. Auch wenn Artikel dabei waren, die nicht direkt mit dem Thema der Arbeit zusammenhingen, so hat sie zu interessanten Fragestellungen, die die Dissertation nur streifen und die in dieser keinen Platz mehr gefunden haben, oder über Gedankengänge der Arbeit geschrieben, aber ebenso über Problematiken, ohne dabei in die Tiefe zu gehen. Sie sagt: „Man muss vielen Bedenkenträgern vorhalten, dass nicht alles, was man in einer historischen oder archäologischen Dissertation schreibt, neu ist und einen wissenschaftlichen Fortschritt bedeutet. Vieles ist ein Referieren des Forschungsstandes oder das Einordnen von eigenen Ergebnissen in einen bestimmten Kontext. Aspekte des Forschungstandes bilden sehr schöne Themen, über die es sich lohnt zu bloggen.“ Bedenken als Doktorandin zu bloggen hatte sie nicht, im Gegenteil: „Ich glaube zudem, dass die meisten Bedenken, beim Bloggen wie im Leben, unnötig sind. Wenn man bestimmte Regeln beachtet, also Kernergebnisse nicht publiziert, Fachkollegen nicht beleidigt oder nicht über die letzte Party allzu detailliert berichtet, kann eigentlich nichts schief gehen.“

Johannes Waldschütz stellt heraus, dass natürlich auch der Zeitfaktor eine Rolle beim Bloggen spielt. Je nach Finanzierung des Promotionsstudiums steht unterschiedlich viel Zeit zur Verfügung, sodass die eigenen Zeitressourcen ebenfalls eine Auswirkung auf die Art und Weise des Bloggens haben. Rückblickend ist sein Fazit bisher, dass er nicht über seine Dissertation selbst bloggt, sondern für den Lehrstuhl an dem er arbeitet (Mittelalter am Oberrhein) oder er verfasst Gastbeiträge für andere Blogs. Wenn er über die Dissertation bloggen würde, könnte er sich eine Projektvorstellung, für ein breites Publikum aufbereitete Kapitel oder verschriftliche „Nebenprodukte“ vorstellen.

Was ist zu tun?

Da Promotionsordnungen alle etwas anderes besagen, sollte man die eigene Ordnung sehr gut lesen. Die Dissertation muss eine selbstständige Arbeit sein, aber zur Vorabpublikation werden völlig unterschiedliche Angaben gemacht. Am Fachbereich für Erziehungswissenschaft und Sozialwissenschaft der Westfälischen Wilhelms-Universität heißt es lediglich: „Kern der Promotion ist die eigene, selbstständige und originäre Forschungsleistung, die zum Erkenntnisfortschritt im jeweiligen Fach beiträgt.“ Das Adjektiv „originär“ können Doktoranden, Professoren und findige Prüfungsamtsmitarbeiter im Zweifelsfall sehr unterschiedlich interpretieren. Die Promotionsordnung der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Leipzig geht nur an einer Stelle auf Vorabpublikationen ein. „Beinhaltet die Dissertation wissenschaftliche Erkenntnisse, die der Doktorand vorab mit Koautoren in einer wissenschaftlichen Zeitschrift publiziert hat, so hat der Doktorand anzugeben, welcher Teil dieser Erkenntnisse bzw. dieser Publikation auf ihn zurückgeht. Die Gutachter haben die Plausibilität dieser Angaben zu überprüfen und können im Zweifel weitergehende Nachweise vom Doktoranden verlangen.“

Da das wissenschaftliche Bloggen noch relativ jung ist, haben sich noch nicht viele Prüfungsausschüsse mit diesem Thema beschäftigt. An dieser Stelle heißt es wohl: Solidarität unter den bloggenden Doktoranden und auf in ein aufrichtiges Gespräch mit dem Doktorvater oder der Doktormutter, die womöglich mehr wissen. Zudem ist so ein Gespräch die „sichere Seite“, um in der Disputation (oder danach) keine bösen Überraschungen zu erleben.

Und was nun?

Vorschlag: Einfach mal machen!

Maxi Platz erklärt beispielsweise, warum sie sich für das Bloggen entschieden hat: „Ich fand das Medium Blog spannend und wollte es ausprobieren. Ich wollte einfach bloggen und dachte, dass die Zeit der Dissertation sich dafür eignet. Was stimmt.“

Wer dann beim Bloggen die Quellen offenlegt und nicht aus der Dissertation copy-pastet (bzw. anders herum), kann eigentlich nicht viel falsch machen. Was, wenn man etwas bereits Gebloggtes in der Dissertation aufgreifen möchte? Auch Blogs sind zitierfähig.

Aber was genau dürfen Doktorandinnen und Doktoranden denn jetzt bloggen? Die eine wichtige Quelle oder der Kern der theoretischen Überlegungen gehören wohl weniger in das Blog. Stattdessen vielleicht zwei Vorschläge: Zum einen Dinge, die man eh tut, die aber nicht in die Dissertation aufgenommen werden, beispielsweise methodische Erfahrungen oder etwas zum Forschungsstand. Zum anderen alles „rund um das Thema“, beispielsweise Tagungsberichte, Rezensionen, Archivbesuche, Ausstellungen, Linklisten, Interviews, ... Aber genau genommen gibt es keinen Leitfaden zum „richtigen“ wissenschaftlichen Bloggen (generell oder speziell für Doktoranden), zumal die Themen und Disziplinen sehr unterschiedlich sind und sich die Forschungslandschaften sehr unterscheiden.

Kommentare und Rückmeldungen zu diesem Beitrag sind im Übrigen ausdrücklich erwünscht. Es wäre großartig, wenn das Phänomen „wissenschaftliches Bloggen von Doktorandinnen und Doktoranden“ weniger suspekt behandelt werden würde und sich mehr Forschende ins kalte Wasser stürzen würden. Eines ist klar: Diese Art wissenschaftlich zu publizieren und zu kommunizieren ist noch jung und irgendwer muss ja anfangen!

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Abbildung: X von Ben Murray, Lizenz CC BY-NC-SA 2.0

Quelle: http://dhdhi.hypotheses.org/2343

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Lebendige Musikgeschichte: Ein Besuch im Archiv des IMD

Im letzten Monat hatte ich die Gelegenheit, eine Woche lang im Archiv des Internationalen Musikinstituts Darmstadt (IMD) zu recherchieren. Das IMD ist vor allem dafür bekannt, dass es die Internationalen Ferienkurse für Neue Musik ausrichtet, die seit 1946 alle zwei Jahre in Darmstadt stattfinden und seit über 65 Jahren ein wichtiges Zentrum der zeitgenössischen Musikproduktion darstellen.1 Denken wir etwa an das Wirken von Boulez, Stockhausen, Nono, Cage und Adorno in den 1950er Jahren, so lässt sich mit Recht sagen: In Darmstadt wurde Musikgeschichte geschrieben. Und diese Geschichte wird im Archiv des IMD gründlich dokumentiert.

Internationales Musikinstitut Darmstadt (IMD)

Das IMD ist ruhig und recht unscheinbar am Rand der Innenstadt Darmstadts gelegen, gut erreichbar mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Die Bibliothek enthält eine beeindruckende Sammlung von (ca. 40.0000) Partituren und wissenschaftlichen Publikationen zur Musik des 20. und 21. Jahrhunderts. Das Archiv umfasst Zeitungsartikel, Fotos, Briefe (insbesondere von und an Wolfgang Steinecke), Programmhefte, Livemitschnitte von Vorträgen und Konzerten und viele weitere Dokumente zu den Darmstädter Ferienkursen und auch ganz allgemein zur (klassischen) Musik nach 1945. Anhand dieser Dokumente lassen sich eindrücklich Entwicklungen, Dynamiken und Konstellationen der Musikgeschichte nach 1945 nachvollziehen.

Im Rahmen meines Dissertationsprojekts (zur Idee des Fortschritts in der Musik in den 1950er Jahren) war die Pressesammlung von besonderem Interesse für mich. Hier verfügt das Archiv über eine beträchtliche und gut organisierte Zusammenstellung von Presseartikeln zu vielen wichtigen Komponisten des 20. Jahrhunderts sowie durchschnittlich einen Ordner pro Ferienkursjahrgang mit Artikeln aus unterschiedlichen deutschen (teils auch ausländischen) Zeitungen. Die chronologische Sortierung ist für einen Forscher äußerst ergiebig, denn sie bietet die Möglichkeit, die Schwerpunkte der einzelnen Jahre und die Entwicklungslinien in der Musikkritik über einen größeren Zeitraum herauszuarbeiten.

Besonders angetan war ich von dem groß angelegten Digitalisierungsprojekt (http://www.internationales-musikinstitut.de/archiv/digitalisierung.html), welches das IMD 2010 mit Unterstützung des Kulturfonds Frankfurt RheinMain in Angriff genommen hat. Bislang wurden Tondokumente, Briefe und Fotos digitalisiert, die nun in einer Datenbank vor Ort recherchier- und einsehbar sind. Eine Schlagwortsuche ermöglicht dabei das schnelle Auffinden von Dokumenten zu einem bestimmten Thema. So konnte ich zum Beispiel mit nur einem Klick eine Zusammenstellung aller Briefe aufrufen, in denen es um serielle Musik geht – eine Aufgabe, die ohne Digitalisierung mehrere Tage in Anspruch genommen hätte. Diese Datenbank soll zukünftig auch online verfügbar sein, sodass z.B. ein amerikanischer Musikwissenschaftler sich leicht über den Bestand des Archivs informieren kann, bevor er die weite Reise nach Darmstadt antritt. Dies erscheint mir insbesondere als eine gute Idee, da das Archiv unter Musikforschern eher weniger bekannt ist – was in einem gewissen Widerspruch steht zu seinem reichhaltigen und bedeutenden Bestand. Ein erklärtes Ziel des IMD bei dem Projekt ist auch die Ausbildung eines „Forschungsnetzwerkes zur Neuen Musik“ (Homepage), in Kooperation mit verschiedenen Universitäten. Während es auf Seiten der Komponisten, Musiker und Veranstalter schon ein elaboriertes Neue-Musik-Netzwerk gibt, ist das entsprechende Forschungsnetzwerk noch eher spärlich ausgebaut, daher kann man gespannt auf weitere Entwicklungen blicken.

Link zur Homepage des IMD: http://www.internationales-musikinstitut.de/

1Die Ferienkurse sind übrigens auch für Musikwissenschaftler offen und sehr lohnenswert, wie ich aus eigener Erfahrung bestätigen kann. Neben Vorträgen und Seminaren zu Kompositionstechniken, Ästhetik, Werkanalyse, Musikgeschichte etc. besteht die Möglichkeit, an einer musikjournalistischen „Schreibwerkstatt“ teilzunehmen.

Quelle: http://avantmusic.hypotheses.org/254

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Neue Perspektiven auf (anti-)koloniale Gewalt in Mythen, Erinnerung und Praxis. Claire Mauss-Copeaux analysiert einen zentralen Wendepunkt des algerischen Unabhängigkeitskriegs (1954-1962)

Rezension zu: Claire Mauss-Copeaux, Algérie 20 août 1955. Insurrection, répression, massacres. Paris 2011.

Wie kaum ein anderes Thema der Zeitgeschichte sorgt der zwischen 1954 und 1962 um die Unabhängigkeit Algeriens geführte Krieg bis heute in Frankreich immer wieder für breite und oftmals hoch emotional geführte Debatten. Seit der algerischen Unabhängigkeit 1962 schlugen die miteinander in Konflikt stehenden Erinnerungen und Deutungen der beteiligten Akteure bzw. ihrer (zum Teil selbsternannten) Repräsentanten immer wieder hohe Wogen, die u.a. als »Krieg der Erinnerungen« bezeichnet wurden. Obgleich die algerischen Aufstände vom 20. August 1955 seit jeher Gegenstand intensiver Kontroversen waren und als eines der Schlüsselereignisse dieses Krieges gelten, hat es – anders als etwa im Fall des Putschs vom 13. Mai 1958 – vergleichsweise lange gedauert, bis eine Monographie sich dieses Ereignisses und seiner unmittelbaren Folgen annahm. Claire Mauss-Copeaux hat diese Lücke gefüllt, und um es vorwegzunehmen: Das Ergebnis, zu dem sie, aufbauend auf einem umfangreichen Fundus algerischer und französischer Archivalien und Zeitzeugenberichte kommt, ist in mehrfacher Hinsicht beeindruckend und als solches nicht nur Spezialisten französischer Kolonialgeschichte als besonders lesenswert zu empfehlen.
Zum historischen Kontext: Weniger als ein Jahr nach dem Beginn der algerischen Rebellion am 1. November 1954 war die Befreiungsfront Front de Libération Nationale (F.L.N.) bereits massiv angeschlagen. Seit Beginn des Jahres 1955 hatte die französische Armee dank ihrer ebenso technischen wie zahlenmäßigen Überlegenheit und ausgestattet mit weitreichenden Vollmachten der Regierung in Paris zahlreiche führende Aktivisten verhaftet oder getötet. Die Kommunikation zwischen den verschiedenen Zweigen der Organisation war entweder gestört oder unterbrochen. In dieser Situation entschied sich der für die Region um Constantine (Le Constantinois) Verantwortliche des F.L.N. Zighoud Youcef dafür, einen breiten Aufstand zu organisieren, der am zweiten Jahrestag der französischen Absetzung des marokkanischen Königs mit großer Unterstützung der lokalen algerischen Bevölkerung in mehreren Orten des Constantinois stattfand. Ziel war es, das symbolträchtige Datum zu nutzen, um durch Angriffe auf Institutionen des kolonialen Systems internationale Aufmerksamkeit zu erregen und die allgemeine Mobilisierung für den F.L.N. voranzutreiben (84-89). Die Bilanz der Toten an diesem Tag betrug 123. Damals und bis in die jüngste Vergangenheit wurden insbesondere die angeblich in Form von Massakern umgekommenen 71 Toten europäischer Herkunft vielfach als Rechtfertigung für die anschließenden »Vergeltungsmaßnahmen« gegenüber der algerischen Bevölkerung in der gesamten Region angeführt (123-125).
In ihrem ersten Teil macht Mauss-Copeaux die zentrale Rolle der Gewalt für die Existenz und die Stabilisierung des kolonialen Staates in Algerien deutlich. Sie stellt fest, dass in über hundert Jahren kolonialer Unterdrückung Gewalt nicht das einzige Kommunikations- und Herrschaftsmedium der Franzosen in Algerien war. Ungeachtet dessen diente Gewalt während der gesamten französischen Besatzung in jedem Fall offener Revolte oder Infragestellung der kolonialen Hierarchie als letztes Mittel zum Erhalt des status quo (14). So wird verständlich, dass es in Algerien nach den ersten vereinzelten Anschlägen, die auf den 1. November 1954 folgten, nicht erst der massiven Aufstände des 20. August 1955 bedurfte, um das gesamte Land in einen Kriegszustand zu versetzen. Dafür hatten bereits zuvor die Anweisungen der Armeeführung (vor allem das seit dem 1. Juli 1955 auf ganz Algerien angewendete Prinzip der »kollektiven Verantwortung«) wie auch die Einsatzpraxis von Berufssoldaten und Wehrdienstleistenden gesorgt (Erschießungen von Gefangenen bzw. Verdächtigen z.T. mit anschließender öffentlicher Zurschaustellung der Leichen, Vergewaltigungen und Folter) (61-63).
Die Teile zwei und drei des Buchs rekonstruieren die Aufstände in den verschiedenen Orten des Constantinois. Besonders eingehend werden El Alia und Aïn Abid untersucht, da dort die meisten Zivilisten ums Leben kamen, wobei insbesondere die Angriffe auf private Häuser und die Morde an Frauen und Kindern das französische Entsetzen erregten. In der damaligen kolonialen Propaganda und zum Teil bis heute fungieren diese Morde als »massacre de réference« und Ausweis einer unmenschlichen Tyrannei des F.L.N. mit dem sich jede Form der Vergeltung rechtfertigen ließ (123).
Vor allem auf der Grundlage lokaler Quellen und den Berichten algerischer und europäischer Zeitzeugen gelingt es Mauss-Copeaux, eine neue Lesart des 20. August zu begründen. So gesteht sie zwar bei mindestens 42 der Morde den Tatbestand eines Massakers zu (126), entlarvt jedoch kursierende Horrorszenarien wie einen Mord mit einer Gabel und das Herausreißen eines Fötus aus dem Bauch einer Schwangeren als Gerüchte (158-159). Bezüglich der Verantwortung des F.L.N. für die Morde an europäischen Zivilisten gibt sich die Autorin skeptisch. Sie verweist darauf, dass der F.L.N. zumindest bis zu diesem Datum Angriffe auf europäische Zivilisten explizit verbot und es im Fall eines Schießbefehls auf Zivilisten an allen Orten des Aufstands zu Massakern hätte kommen müssen – nicht nur in El Alia und Aïn Abid. (91-93). Ohne den Anspruch zu erheben, eine vollständige Erklärung dieses »Rätsels« (134) liefern zu können, führt die Autorin die These an, dass die von Algeriern begangenen Massaker auf intensive lokale Spannungen zurückzuführen seien, die zwischen Algeriern und Europäern allgemein bestanden hätten, aber auch zwischen direkt involvierten Einzelpersonen. Hinzu seien situative Dynamiken gekommen, wie eine kurz zuvor erfolgte Denunziationen gegenüber den Kolonialbehörden, die Erschießung eines Algeriers durch einen Europäer auf offener Straße und der Umstand, dass die Häuser der europäischen Opfer unmittelbar neben den ursprünglich anvisierten Gebäuden lagen, die den kolonialen Staat repräsentierten. Auf der Basis dieser Argumentation erscheint es tatsächlich naheliegend, dass der Aufstand auf lokaler Ebene als Gelegenheit für individuelle Racheakte genutzt wurde (144).
Bis heute haben mehrere Überblickswerke französischer Historiker über den Algerienkrieg viele (zu einem großen Teil erfundene) Details der Morde an europäischen Zivilisten im Constantinois aufgeführt und die anschließenden Repressalien der Armee nur kursorisch behandelt. Ohne sie zu verschweigen, wurde der »Tod« von schätzungsweise 12 000 Algeriern oftmals vereinfacht als Konsequenz der vorherigen »Massaker« eingeordnet und damit abgehandelt (177-180). In dem vierten Teil ihrer Monographie zeigt Claire Mauss-Copeaux eindrucksvoll, dass auch diese Lesart revidiert oder zumindest ergänzt werden muss: Erst am 28. August 1955 wurde der eine Woche zuvor erteilte Befehl an die französischen Soldaten eine »schnelle und brutale Wiederherstellung der Ordnung« durchzuführen, dahingehend präzisiert, dass das Leben von Frauen und Kindern zu schonen sei (184-185). Bis dahin warfen Flugzeuge der französischen Armee über mehreren Dörfern des Constantinois Bomben und Napalm ab, Bodentruppen legten ganze Dörfer in Brand nachdem die Häuser zuvor von Panzerfahrzeugen unter schweren Beschuss genommen worden waren. Sogar ein Escorteur der Marine wurde eingesetzt, um das Umland der Küstenstadt Collo breitflächig zu bombardieren (190-192). Auf diese mehr oder weniger wahllos durchgeführten Aktionen kollektiver Bestrafung folgten planmäßige Verhaftungen und anschließende Massenerschießungen hunderter algerischer Männer und Jugendlicher, deren Leichen in Massengräbern verscharrt wurden. Angesichts der aktiven Verschleierung derartiger Verbrechen durch die französische Armee wird hier die Bedeutung des Zugangs der Oral History besonders deutlich: Nicht nur Archivmaterial und Fotos wurden systematisch zerstört (199). Auch die Körper der Hingerichteten sollten ausgelöscht werden. So wurden in Guelma nach einer Massenerschießung die Leichen algerischer »Verdächtiger« zur Unkenntlichmachung mehrfach von Kettenfahrzeugen überfahren und zerquetscht (220-225).
Dass die beschriebenen Exzesse des französischen Militärs vor allem Unbeteiligte treffen mussten und auch an Orten begangen wurden, an denen es keine Aufstände gegeben hatte, zeigt das ganze Ausmaß willkürlich eingesetzter Gewalt während des Kolonialkrieges. Entgegen einer bislang weit verbreiteten Interpretation sind die Aufstände des 20. August somit durchaus als Auslöser nicht aber als hinreichende Erklärung für die anschließenden Massaker zu verstehen. Deren systemischen Charakter macht nicht zuletzt der Umstand deutlich, dass die Regierung in Paris über das Vorgehen der Armee genauestens Bescheid wusste, aber weder eingriff noch Sanktionen verhängte (183-184). Claire Mauss-Copeaux hat hiermit ein für das differenzierte Verständnis des algerischen Unabhängigkeitskrieg essenzielles Werk vorgelegt. Dass die Autorin die Verwendung von Bezeichnungen der Gewalt durch die Akteure von damals und heute mehrfach diskutiert ohne jedoch selbst die Frage zu klären, was zum Beispiel unter »Massaker« verstanden werden soll, ist ihr in jedem Falle nachzusehen. Ihre durch Karten, Abbildungen und eine Vielzahl von Zitaten angereicherte Monographie hat nicht nur einen der entscheidenden Wendepunkte des algerischen Unabhängigkeitskrieges in ein neues Licht gerückt. Weit darüber hinaus werden auch Studien über koloniale Gewalt ebenso wie Oral History Projekte in diesem Buch Anknüpfungspunkte finden.

Bild: Buchcover, Editions Payot & Rivages,

Quelle: http://gewalt.hypotheses.org/659

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Ausstellungsbesprechung: “Ludwig der Bayer. Wir sind Kaiser!” (Bayerische Landesausstellung 2014, Regensburg)

Das offizielle Plakat der Bayerischen Landesausstellung 2014 (Quelle: HDBG)

Das offizielle Plakat der Bayerischen Landesausstellung 2014 (Quelle: Haus der Bayerischen Geschicht, fortan: HDBG)

Die Schlagzeile der BILD-Zeitung anlässlich der Wahl Benedikts XVI. 2006 war wohl eher gesamtdeutsch gemeint. Die Bayerische Landesausstellung 2014 lässt kaum einen Zweifel: Wenn ‚wir‘ im 14. Jahrhundert Kaiser waren, dann dürfen sich Nicht-Bayern davon kaum angesprochen fühlen. Und ob die Titelwahl durchgehend als ironische Bezugnahme auf die Schlagzeile von 2006 einzustufen ist, wie etwa die gleichnamige Sendung des ORF, bleibt zweifelhaft. Doch es wäre falsch, die Irritation über den Titel nicht zurückzustellen, denn eine bemerkenswerte historische Ausstellung wird einem in Regensburg zweifellos geboten. Sie ist in mancher Hinsicht ein Kontrastprogramm zu den Staufer- oder Wittelsbacher-Ausstellungen etwa im Mannheimer Reiss-Engelhorn-Museum. Insofern bietet das federführende Haus der Bayerischen Geschichte eine willkommene Abwechslung zu monumentalen Vorhaben der letzten Jahre. Die folgende Besprechung will sich einzig mit der Ausstellungsgestaltung und Konzeption beschäftigen, nicht aber mit dem Katalog samt zugehörigem Aufsatzteil1 oder dem separat erschienen wissenschaftlichen Begleitband2.

Innovative Gestaltung

Auf drei Standorte verteilt sich die Landesausstellung: die Minoritenkirche, St. Ulrich am Dom und den Domkreuzgang. Der erste Standort widmet sich ganz dem bajuwarischen Heroen auf dem Kaiserthron, in St. Ulrich erwartet den Besucher eine unorthodoxe Filmvorführung zur Geschichte des Regensburger Doms, der Kreuzgang ist selbst mittelalterliches Exponat.

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Die Anordnung der Ausstellungsebenen in der Minoritenkirche von Regensburg im Modell (Quelle: HDBG)

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Die Schlacht von Mühldorf als bewegtes Schattenspiel (Quelle: HDBG)

Doch auch das Ausstellungsdesign vermittelt eine Botschaft. Besonders deutlich wird dies in der Minoritenkirche: Auf fünf ansteigenden, in rot gehaltenen Ebenen folgt der Besucher dem als Aufstieg dargestellten Lebensweg Ludwigs vom kleinen Herzogssohn zum gebannten Ketzer und Kaiser. Ausdrücklich wird von den Ausstellungsmachern der Vergleich zum Computerspiel gezogen, immer sind Gegner benannt, die der Wittelsbacher am Ende eines Levels bezwungen hat. Dies mag für seinen Bruder und Friedrich den Schönen noch angehen, für diverse Päpste und den Gegenkönig Karl von Mähren geht das Konzept wohl nicht mehr auf. Statt einer abschließenden Station zum Nachleben werden auf jedem Level sogenannte Spiegelmodule installiert, verspiegelte Quader, die die Rezeption der jeweiligen Herrschaftsphase Ludwigs in den Augen der Nachwelt in fast postkartengroßen Reproduktionen zeigen. Einzelne inhaltliche Aspekte werden nicht nur mit Originalen und Reproduktionen, sondern auch mit cleveren Inszenierungen visualisiert: So zeigt nicht nur ein Wall von Lanzen und Hellebarden die Schlacht bei Mühldorf an, sondern ein an die Wand geworfenes Schattenspiel von Modellrittern bringt Bewegung in die Szenerie; und das Ganze wirkt keineswegs  so albern, wie es klingen mag. Wirklich gelungen ist die Inszenierung der Heiltumsweisung, die Ludwig 1330 in Regensburg vornehmen ließ. In innen verspiegelten Guckkästen werden Bilder der Reichsinsignien eingeblendet, wie in einem Diorama des 19. Jahrhunderts, zugleich kann der Betrachter über Kopfhörer eine beeindruckende Vertonung des unter Karl IV. für die Ostensiones geschaffenen Lanzenoffiziums hören. Auch das Schaffen der ludovicianischen Kanzlei mit ihren besonders eindrucksvollen Miniaturen innerhalb der Initialen wird geschickt und anschaulich präsentiert. Trotz gelegentlicher Bedenken bezüglich der Kongruenz von Form und Inhalt: Ästhetisch ist dieser Aufbau zweifellos mutig und in den Augen des Rezensenten insgesamt gelungen; auch wenn die Minoritenkirche bis auf die rekonstruierten Glasfenster nur eine Kulisse ist, so ist es doch eine ansprechende.

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Auf dem roten Teppich nach Rom. Der Aufstieg Ludwigs des Bayern, ein wenig glatter als in der historischen Realität. Blick von der untersten Ausstellungsebene in der Minoritenkirche von Regensburg (Quelle: HDBG)

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Ab in die Donau mit dem päpstlichen Boten! Christoph Süß illustriert episkopales Krisenmanagement in Interdiktsfragen (Quelle: HDBG)

Durch die Verfremdung des ansteigenden Fußbodens ergeben sich jedenfalls bemerkenswerte Perspektiven, denen man das geschulte Auge der Ausstellungsdesigner anmerkt. Nur beim Entwurf des Ausstellungslogos und der Plakate wird es eine Spur zu psychedelisch, aber das ist natürlich Geschmacksache.
Bei der zweiten Station der Ausstellung in St. Ulrich beim Dom wechselt der Protagonist: Sie besteht vor allem aus einem ca. 20-minütigen Film mit 3D-Effekten, bei denen Christoph Süß, der BR-Moderator und Kabarettist, in einer Monty-Python-artigen Collage Informationen zu Regensburg und seinem Dom präsentiert. Mit klarer dialektaler Grundierung und landestypischem Hintersinn moderiert und schauspielert Süß – teilweise in drei Rollen zugleich zu sehen – die Ereignisse der Jahre 1300 bis 1350, unterstützt von wirklich beeindruckenden 3D-Simulationen. Der Rezensent hat sich köstlich amüsiert, wenn auch die Hälfte der Gags ausgereicht hätte, um die Unterschiede zu pathosgeladenem ZDF-Geschichtsfernsehen à la „Die Deutschen“ zu markieren. Tatsächlich wurde gelegentlich die Grenze zum Klamauk hart gestreift, wenn nicht überschritten: Ein Faktum, das beim tendenziell älteren Publikum eher weniger gut ankam. Fraglich auch, wie viel ein fachlich nicht vorgebildeter Besucher inhaltlich mitnehmen konnte, wurde er doch nicht nur mit Informationen, sondern auch Kabaretteinlagen im Minutentakt bombardiert.
Die dritte Station war der Domkreuzgang, seit kurzem erst für Besucher erschlossen und in seiner Dichte an Kunstwerken höchst beeindruckend. Nicht immer war es für die Ausstellungsmacher hier einfach, den Bogen bis in die Zeit Ludwigs des Bayern zurückzuschlagen. Doch durch eine konzise Auswahl weniger Grabsteine und anderer Kunstwerke, die angemessen kontextualisiert wurden, konnte auch die letzte Station der Ausstellung überzeugen. Über alle drei Stationen verteilt fanden sich ansprechende Installationen der Museumspädagogen: Auf einer Waage ließen sich im Kreuzgang Sünden und Bußakte gegeneinander aufrechnen und gaben so einen anschaulichen Einblick in die Heilsökonomie. Moderne Steinmetzwerkzeuge illustrierten die Arbeitschritte vom rohen Fels zur geglätten Oberfläche in der Ulrichskirche. Der in Ausstellungen fast schon obligatorische Topfhelm zum Aufsetzen für Besucher macht das Sichtfeld eines Ritters in der Schlacht von Gammelsdorf sinnlich erfahrbar; am Abguss des Wachsiegels kann man riechen und es auch berühren. Das ist alles sehr gelungen, aber ohne Bauchschmerzen ist der Rezensent nicht durch die Ausstellung gegangen, wie im Folgenden gezeigt werden soll.

 

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1913 noch der Held von Gammelsdorf. Was aber ist Ludwig IV. im Jahr 2014? (Quelle: HDBG)

„Hingegen breitet sich der Ruhm des erlauchten Herrn Herzog Ludwigs ins Unermessliche aus…“ (Die Chronik Kaiser Ludwigs IV., Kap. 7)

Die Bayerische Landesausstellung will unterhalten, und sie will eine Geschichte erzählen. Die Unterhaltung gelingt, aber das angebotene Narrativ ist stellenweise bedenklich: Der Aufstieg Ludwigs aus angeblich kleinen Verhältnissen zum „Helden von Gammelsdorf“, dann zum römisch-deutschen König, dann zum Kaiser gegen den Papst bis hin zu seinem Tod, „unbesiegt“, wie uns die Begleittexte wissen lassen. Hier droht einerseits die Playstation-Metaphorik, andererseits eine überwunden geglaubte heroisierende und herrscherzentrierte Landesgeschichtsschreibung das Ruder an sich zu reißen. Große Männer machen bayrische Geschichte und schreiten siegreich von Level zu Level. Dazu passt die Absenz von Quellenkritik im Umgang mit den Ludwig positiv darstellenden Zitaten; dem fachlich nicht beschlagenen Besucher präsentieren sich diese Auszüge v.a. aus der Chronik Ludwigs IV. als historische Fakten.

Ausgerechnet in Bayern: Ein Mangel an Originalen

Auf den ersten Blick ist es entspannend, dass die Landesausstellung ihre Besucher nicht mit 500 Exponaten erschlägt, wie andere Veranstaltungen dieser Art. Insbesondere die Stauferausstellung in Mannheim 2010 war so reich an Originalen, dass selbst der interessierte Fachbesucher irgendwann innerlich abschaltete. Insofern versprach der Regensburger Ansatz eine Konzentration auf das Wesentliche. Mit Verwunderung stellt der Besucher dann aber fest, dass er sehr, sehr häufig – Urkunden ausgenommen – vor Reproduktionen, Gipsabgüssen und anderen Repliken der Originale steht. Im Extremfall erhöht sich also der Pulsschlag, meint man aus der Ferne die Kurfürstenfiguren vom Mainzer Kaufhaus zu entdecken – und zwar alle – und stürmt voller Begeisterung auf sie zu. Auf dem Weg schleicht sich schon die Frage ins Gehirn: Wie können diese schweren Sandsteinblöcke so locker im Raum drapiert werden? Aus der Nähe ist dann die etwas ernüchternde Antwort: Abgüsse aus Kunststoff, datiert auf 1980. Nun kann man Repliken im Einzelfall akzeptieren, wenn die Originale kaum transportabel sind wie die genannten Mainzer Kurfürstenfiguren oder mutmaßlich besonders empfindlich wie die Koblenzer Handschrift über „Kaiser Heinrichs Romfahrt“. Unbefriedigend ist es, wenn Originale aus Münchener Beständen, wie etwa die Madonna aus dem dortigen Anger-Kloster oder das Stifterrelief aus der Lorenzkapelle im Alten Hof zu München nur als Abgüsse vorhanden sind. Es ist die Häufung an Repliken, die hier irritiert: Niemand kann erwarten, dass die Reichsinsignien der Schatzkammer der Wiener Hofburg entleihbar sind. Aber so sehr auf innovatives Ausstellungsdesign zu setzen, darf nicht den vielfach zu bemerkenden Verzicht auf die Faszination des Originals bedeuten. Am dritten Ausstellungsort, dem Domkreuzgang, wird eindrucksvoll deutlich, was in der Minoritenkirche zu kurz kommt.

Eine Landesausstellung zwischen Inszenierung und Identitätsbildung

Ludwig der Bayer hat endlich seine erste, nur ihm gewidmete große Ausstellung bekommen. In Sachen Ausstellungsdesign ist sie bemerkenswert innovativ, vom technischen Niveau der Präsentation sicher die eindrucksvollste Mittelalterausstellung der letzten Jahre, die den neuen Standard definiert. Sie zeigt, dass Multimedia mehr ist als Schwenkfahrten über 3D-Animationen historischer Gebäude, und sie hat den Mut, etwa in dem Film mit Christoph Süß die Erwartungen bierernster Geschichtsvermittlung zu unterlaufen (man sollte allerdings den Humor von Monty Python mögen). Gelegentlich lassen die Ausstellungsmacher die Zügel in dieser Hinsicht etwas locker, und wenn beim Bild der Nürnberger Heiltumsweisung die dargestellten Kleriker wie animierte Comicfiguren Augenbrauen lüpfen, blinzeln, runde Münder machen – dann fühlt man sich wie bei Herrn Müller-Lüdenscheid in der Badewanne. Doch macht nur der keine Fehler, der nichts wagt: Diese Monita sind verzeihlich, denn die Verantwortlichen haben sich wirklich auf ihr Publikum einzustellen versucht; diese in verschiedenster Hinsicht besucherfreundliche Konzeption ist nicht genug zu loben. Bedauerlich ist die Entscheidung, sich vielfach mit Repliken statt Originalen zufriedenzugeben; in dieser Hinsicht mögen künftige Ausstellungen dem Regensburger Vorbild bitte nicht folgen. Erst recht nicht gilt dies für die bedenkliche und keineswegs avantgardistische Heroisierungstendenz des Kaisers aus dem Hause Wittelsbach. In ihrem Bemühen um Stärkung regionaler Identitäten ist die Landesausstellung in Regensburg der Stuttgarter Stauferausstellung von 1977 näher als manch andere Veranstaltung der letzten Jahre: Eine Präsentation kritischer Wissenschaft, gar die Dekonstruktion von Mythen kommt zu kurz. Den päpstlichen Spottnamen Bavarus zum Ehrentitel umzudeuten ist kein Vorgehen des 14., erstaunlicherweise aber des 21. Jahrhunderts. Insofern ist die historische Figur Ludwig IV. noch lange nicht auserzählt, und sein Infarkttod auf der Jagd 1347, eine gewisse Konstante der bayerischen Geschichte, wohl kein Game over, sondern ein Beginn von vorn, ein zweites, drittes, viertes Leben nicht nur als Held von Gammelsdorf. Wenn man im Titel der Landeausstellung aber einen wirklich mutigen Gegenpunkt zum Papa emeritus aus Regensburg hätte setzen mögen: Wir sind Ketzer. Obwohl auch das nicht mehr gilt, denn am Ende der Ausstellung informiert ein Schreiben von Kardinal Wetter an einen besorgten Heimatverein, dass die Exkommunizierung Ludwigs mit dessen Tod erloschen sei. Das mag tröstlich für manch modernen Beobachter sein, dem Wittelsbacher hat es nicht mehr geholfen.

  1. Wolf, Peter u.a. (Hgg.), Ludwig der Bayer. Wir sind Kaiser! Katalog zur Bayerischen Landesausstellung 2014, Regensburg, Minoritenkirche – St. Ulrich am Dom – Domkreuzgang, 16. Mai bis 2. November 2014, Regensburg 2014
  2. Seibert, Hubertus (Hg.), Ludwig der Bayer (1314-1347): Reich und Herrschaft im Wandel, Regensburg 2014

Quelle: http://mittelalter.hypotheses.org/4497

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Earth System Governance Konferenz 2014

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Vom 1.-3. Juli 2014 fand die “Earth System Governance Conference 2014: Access and Allocation in the Anthropocene” an der University of East Anglia in Norwich (England) statt. Umweltprobleme wie zum Beispiel Klimawandel, Biodiversitätsverlust, Wasserqualität und Bodenerosion machen es notwendig, die Beziehung zwischen Mensch und Natur zu überdenken, um ein nachhaltige Entwicklung auf lokaler, regionaler, nationaler und globaler Ebene zu ermöglichen. Dies erfordert jedoch neue Strategien und Transformationsansätze.

Vor diesem Hintergrund entstand bereits 2009 das Earth System Governance Projekt. Earth System Governance wird definiert als “interrelated system of formal and informal rules, rule-making mechanisms and actor-networks at all levels of human society (from local to global) that are set up to steer societies towards preventing, mitigating, and adapting to global and local environmental change and earth system transformation, within the normative context of sustainable development”. Earth System Governance beleuchtet fünf Hauptthemen: „agency“ (wer ist verantwortlich bzw. wer agiert und wie?), “adaptiveness“ (Anpassungsfähigkeit von Governance-Systemen), „accountability“ (demokratische Qualität des Governance-Systems) und „access und allocation“ (Gerechtigkeit und Fairness).

Schwerpunkte der Konferenz 2014 waren insbesondere die Themen Zugang zu und Verteilung von Ressourcen sowie transformative Wege zur Nachhaltigkeit. Die Konferenz brachte in verschiedenen Diskussionsrunden und Vorträgen über 200 Experten aus Wissenschaft und Praxis aus allen Kontinenten zusammen. Vorgestellt und diskutiert wurden neue Ansätze und Forschungsprojekte zu innovativem Lernen, Umweltgerechtigkeit, Resilienz, der Rolle verschiedener Akteure und Klimawandel.

Insbesondere junge ForscherInnen kamen bei der Konferenz auf Ihre Kosten: in einem eintägigen „Early Career Researcher Workshop“ wurden transdisziplinäre Forschungsansätze, Konzepte der transformativen Wege zu Nachhaltigkeit und die besondere Rolle und Bedeutung junger ForscherInnen diskutiert. Auch hatte ich im Rahmen der Konferenz selbst die Möglichkeit, ein eigenes Forschungsprojekt zum Thema umweltbezogene Gesundheit und die Rolle von Jugendlichen in der Entwicklung lokaler Risikokommunikationsprogramme am Beispiel von Mexiko vorzustellen.

Sponsoren und Partner der Konferenz waren die University of East Anglia, Earth System Governance, Tyndall Centre for Climate Change Research, Future Earth Research for Global Sustainability, United Nations University, UNU-IAS, Environmental Change Institute, University of Oxford, Post 2015 Project on Sustainability Transformation beyond 2015, PBL Netherlands Environmental Assessment Agency und COST. Die nächste Earth System Governance Konferenz wird 2015 in Canberra, Australien, stattfinden.

 

Quelle: http://nachhaltig.hypotheses.org/276

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Buchbesprechung Fabrice Flipo: Nature et politique

arton233Seminar mit Fabrice Flipo an der EHESS Paris

Zusammen mit dem Forschungsnetzwerk RT21 der Association Française de Sociologie organisierte Anahita Grisoni am 27.6. ein Seminar mit Fabrice Flipo zur Vorstellung und Diskussion seines im Januar 2014 erschienenen Buches “Nature et politique. Contribution à une anthropologie de la modernité et de la globalisation”

Flipo macht in seinem Buch vier für die politischen Ökologie grundlegende Themenbereiche aus: das Recht, soziale Bewegungen, die Ökonomie und die Religion bzw. Remystifikation. Durch all diese Bereiche zieht sich eine Grundfrage: haben die “grüne” Politik und insbesondere ökologische Sozialbewegungen die Tendenz, die Belange des Menschen gegenüber denen der Natur zurückzustellen? Bezogen auf die vier Bereiche ergeben sich daraus Fragen wie: Ist zu befürchten, dass ein strengeres Umweltrecht die Menschenrechte beschneidet? Wie nah sind ökologische Bewegungen faschistischen und völkischen Ideologien? Was bedeutet es, eine Ökologie auf Werten, nicht auf Interessen aufbauen zu wollen – wie viel Freiheit steckt im Markt? Und: Laufen wir Gefahr, die Errungenschaften der Aufklärung durch ein quasi-religiöses Verhältnis zur Natur zu verlieren?

Flipo nimmt bei seinen Untersuchungen einerseits Bezug auf die großen ideengeschichtlichen und politischen Leitgedanken, über die die einzelnen Bewegungen sich definieren oder gegen die sie sich wenden und anhand derer sie sich dem politisch rechten oder linken Lager, den “Aufklärern” oder den “Mystifizierern” zuordnen lassen. Andererseits wird deutlich, dass ein wesentliches Merkmal ökologischer Bewegungen darin besteht, sich genau diesen Einteilungen und Grenzziehungen zu entziehen. Ein Grund hierfür liegt in der skeptischen Haltung gegenüber Machtstrukturen und der entsprechenden Weigerung, dauerhaft in diese Strukturen einzuwandern. Einen anderen Grund sieht Flipo in dem Umstand, dass es in Frankreich nahezu keinen Dialog zwischen politischen und sozialen Akteuren und der akademischen Welt gibt, viele der akademischen Darstellungen der politischen Ökologie stark verzerrt und z.T. diffamierend sind und deshalb kaum ein fruchtbarer Austausch zwischen den Akteuren und einer theoretischen Formulierung ihrer Anliegen entsteht.

Flipo gelingt eine sehr umfassende Darstellung des Themenbereichs, wobei der Fokus klar auf der Verbindung von Praxis und Theorie, von Verhalten der Sozialbewegung und ideengeschichtlicher Einordnung und Beurteilung liegt, und weniger auf der Frage, was genau unter einem Recht der Natur, einer ökologischen Ökonomie etc. zu verstehen wäre. Für den deutschen Leser ist das Buch nicht zuletzt deshalb interessant, da dieser Fokus und die Ergebnisse, die daraus resultieren – u.a. der starke Gegensatz zwischen ökologischer Sozialbewegung und etablierter Politik – kleinere und größere Unterschiede zur deutschen ökologischen Bewegung sowie zur hiesigen grünen Politik und zu deren Selbstverständnis vor Augen führen.

Quelle: http://nachhaltig.hypotheses.org/172

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Lifeblog zum Workshop »Stadt-Land-Fluss: Gewalt, Raum und Soziale Ordnung»

Bettina Engels & Henrik Lebuhn:
Stadt//Raum//Protest

Engels und Lebuhn interessieren sich ihrem Beitrag für die Praxis der Besetzung öffentlicher Plätze in Städten als Handlungsrepertoire von Protestbewegungen. Der Vortrag beginnt mit einer Diskussion der Besonderheiten städtischer Räume, in Abgrenzung zu ländlichen Räumen, die dazu führen, dass die Stadt als Protestort interessant wird. Städtische unterscheiden sich von ländlichen Räumen durch Größe, Dichte und Heterogenität. Charakteristisch für Städte ist die Entstehung einer anonymen Öffentlichkeit, die ein Publikum für Protest darstellt. Deshalb ziehen auch ländliche Protestbewegung in der Regel irgendwann in die Stadt. Darüber hinaus sind Städte in ihrer ökonomischen Reproduktionslogik besonders in kapitalistische Dynamiken eingebunden. Augenblicklich gibt es zwar in der Stadtforschung eine Diskussion, ob die Unterscheidung Stadt-Land angesichts wachsender Vernetzung urbaner und ruraler Räume noch haltbar ist. Doch geraten dabei, so Engels und Lebuhn, die Besonderheiten städtischer Öffentlichkeit aus dem Blick.

Struktureller Hintergrund gegenwärtiger Protestdynamiken ist die »Rückkehr« von Strukturanpassungs- und Austeritätspolitiken in den Globalen Norden, nachdem in den 1980er/90er  Jahren diese vor allem als ein Problem des Globalen Südens galten. Empirisch sind ein Viertel aller Protestereignisse sind Platzbesetzungen. Die zentrale Logik dieser Besetzungen ist Störung. Angesichts der sich ausbreitenden ökonomischen und politischen Krise wird diese Störung aber gleichzeitig zu einem Akt der Selbstinszenierung der Protestierenden als Bürger mit Rechten. Interessant ist, dass ländliche Proteste stärker mit der materiellen Störung durch Platzbesetzungen arbeiten,  indem beispielsweise eine Straße  oder ein Bergwerk besetzt wird. Dahingegen liegt die Störung städtischer Proteste stärker in der symbolischen Dimension, insbesondere der Verweis auf das Rechtssystem. Interessant ist, dass die Bedeutung in der Regel nicht nur über die Stadt, sondern auch über den nationalen Kontext hinausgeht, wenn es etwa um EU-Asylrecht oder die wirtschaftliche Ordnung der Welt geht.

Mit Blick auf die Akteure ist eine interessante Frage, ob sich durch diese neue Protestbewegung das Selbstverständnis und die Selbstbeschreibung der Akteure ändert. Entstehen aus den Massenprotesten neue Strukturen sozialer Organisation? Aus Spanien etwa gibt es Berichte über neue aktivistische Netzwerke, die aus der Protestbewegung entstanden sind. Verschiebt sich das Gewicht zwischen verschiedenen Akteuren, etwa zwischen klassischen Gewerkschaften, die oft nicht oder kaum an den Protesten teilnehmen, und anderen? Kommt es zu einer Politisierung bisher wenig politisierter Gruppen?

Im Anschluß an den Vortrag wurde unter anderem diskutiert, inwiefern bei diesen Bewegungen, insbesondere mit Blick auf die Frage der Aneignung von Rechten, der Unterschied zwischen OECD und Nicht-OECD-Welt relevant ist, das heißt, ob die Rechte tatsächlich wieder-angeeignet werden oder ob sie praktisch noch gar nicht etabliert sind. Auch wurde die Frage gestellt, wie sich eigentlich genau die Verbindung zwischen den verschiedenen Protestphänomenen in der Welt rekonstruieren lässt. Mehrfach wurde auf die Bedeutung gewaltaffiner und -kompetenter Akteure hingewiesen, deren Handeln nicht in erster Linie an politischen Polarisierungen (Anti-Autorität, Kapitalismuskritik, ect.) orientiert ist, wie etwa Hooligans oder Fußball-Ultras, die z. B. in Ägypten , der Türkei oder der Ukraine eine wichtige Rolle spielten. Angeregt wurde, beider weiteren Ausarbeitung des Themas die Raumkategorie weitere aufzufalten, etwa indem man nach der genauen Funktion des Ort des Protests in der Stadt fragt, also konzeptuellen Unterschiede zwischen einem Ort wie dem Oranienplatz in Berlin und dem Tahir in Kairo in den Blick holt.

 

Mathilde Darley:
The Good, the Bad and the Ugly Migrant? Zwischen Seelsorgern und Polizisten. Feldforschung in einer deutschen Abschiebehaft

In einem empirisch sehr dichten Vortrag rekonstruiert Mathilde Darley die Produktion professioneller Rollen in einer deutschen Abschiebehaft, in der christliche und seit kurzer Zeit auch jüdische und muslimische Seelsorger die einzigen nicht-polizeilichen Akteure sind. Im Zentrum steht die Spannung zwischen Sicherheitslogik und Menschlichkeitslogik an einem Ort der Einsperrung. Die Besonderheit dieser Konstellation besteht darin, dass in der Abschiebehaft drei Akteursgruppen – Polizisten, Inhaftierte und Seelsorger – mit nicht nur verschiedenen sondern sogar entgegengesetzten Interessen in einem geschlossenen Raum alltäglich interagieren müssen. Handlungsrepertoire und Selbstbeschreibung der Seelsorger geht weit über die seelsorgerische Betreuung hinaus. Sie verstehen sich als politische Akteure, die sich an diesem Ort für die Menschenrechte einsetzen. Dabei beziehen sie sich gleichzeitig auf die religiöse wie auch auf die rechtliche Ordnung, um ihr Handeln – bisweilen im Graubereich des Erlaubten – zu legitimieren.

Die wechselseitige Abgrenzung zwischen Seelsorgern und Polizisten spielt in der täglichen Interaktion eine zentrale Rolle. Polizisten erleben Seelsorger als zu weich und von den Gefangenen instrumentalisiert, während Polizisten aus Sicht der Seelsorger als zu wenig emphatisch oder gar unmenschlich erscheinen. Im Gegensatz zu dieser Wahrnehmung von Polarität zeigte die Forschung jedoch nicht nur Opposition zwischen beiden Berufsgruppen, sondern auch deren Komplimentarität oder gar Komplizenschaft. Indem Seelsorger für eine größere Ausgeglichenheit und Ruhe der Inhaftierten sorgen, erleichtern sie die Arbeit der Polizisten und tragen auf ihre Weise zum Projekt der Abschiebehaft bei. Auch die steigende Anerkennung der Seelsorger-Expertise trägt zu diesem langsamen Verschwimmen der Grenzen zwischen beiden Seiten bei. In der Interaktion zwischen Seelsorgern und Polizisten koexistieren also Kooperation und Konkurrenz in paradoxer Weise. Darley argumentiert, dass es zur Formierung paradoxer moral communities kommt. 

In der Diskussion wird nach dem Standpunkt der MigrantInnen gefragt. Darley erklärte, dass ihr Zugang zu diesem schwierigen Feld über eine Arbeit als Praktikantin der Seelsorge zustande kam, was die Perspektive auf diese Fragestellung einschränkte. In der Community der Inhaftierten wurde durchaus zwischen besonders glaubwürdigen oder unterstützenden und allen anderen unterschieden. Diese Informationen wurden im Sinne eines kollektiven Wissens von Erfahrenen an neu Hinzugekommene weitergereicht. Aus Sicht der Migranten ist die wichtigste Funktion der Seelsorger die Rechtsberatung, weshalb sie unabhängig von tatsächlicher religiöser Orientierung für alle eine wichtige Rolle spielen. Auch in den beobachteten Interaktionen bleibt die religiöse Dimension eher unsichtbar. Selbst die Einladung in den Gottesdienst argumentiert oft  Darley erklärte auch, dass die lange Arbeit auf der Seite der Seelsorge im zweiten Teil der Forschung den Zugang zur polizeilichen Seite der Abschiebehaft erschwerte. Darüber hinaus wurde nach Haftbedingungen gefragt und erklärt, dass diese, was die Regularien betrifft, im Vergleich zur Strafhaft eher großzügig sind, dies aber nicht unbedingt zur Verbesserung der Lebenssituation der Inhaftierten beiträgt. Beispielsweise sind die Besuchszeiten von 9 bis 19 Uhr, dennoch erhalten nur wenige Inhaftierte Besuch, weil sie keine familiären oder sonstigen Beziehungen vor Ort haben. Auch gibt es eine Bibliothek, doch sind die meisten Bücher auf deutsch.

 

Michael Esch:
Gewalt, Geschichte, Topographie. Hooliganistische Kommunikationspraktiken in Polen 

Michael Esch diskutierte in seinem Vortrag die kommunikative Dimension hooliganistischer (Gewalt-)Praktiken in Polen. Als Historiker bezieht er sich dabei auf Dokumente, insbesondere Websiten, Youtube-Videos und Kommentare vor allem aber Graffitis. Zunächst erklärte er die Geschichte des Begriffs, der Anfang des 20. Jahrhunderts zunächst in England auftauchte und dann schnell in Rußland populär wurde und dort zur Bezeichnung von Männern aus Unterschichten diente, die sich in den städtischen Zentren des Bürgertums im öffentlichen Raum aufhielten und dort für diese Orte nicht vorgesehene Verhaltensweisen an den Tag legten: Pöbeln, Spucken, Pinkeln, ect.

Im Zentrum des Vortrages steht die selbstrefentielle Logik hooliganistischer Aktionen. So gehört zum Ehrenkodex nicht nur ein Kooperationsverbot mit der Polizei – die auch nicht zum eigenen Schutz angerufen werden darf –, sondern auch der Ausschluss Dritter in (verabredeten) Kämpfen, indem beispielsweise für die Schlägereien abgelegene Orte gewählt werden. Vor diesem Hintergrund argumentiert Esch auch, dass obwohl in der öffentlichen Wahrnehmung Hooliganismus und Rechtsradikalismus oft zusammengedacht oder vermischt werden, zwischen beiden eine Spannung besteht. Diese drückt sich beispielsweise darin aus, dass rechte Aktivisten immer wieder zur Vereinigung der verschiedenen hooliganistischen Bewegungen gegen den gemeinsamen Feind aufrufen, was mit den hooliganistischen Ritualen nicht zu vereinbaren ist. 

Mit Blick auf die Frage der Räumlichkeit interessant ist, dass es in Städten mit zwei Clubs und damit zwei Hooligan Bewegungen zu einer performativen Aufteilung der Stadt kommt. Graffitis im öffentlichen Raum spielen dabei eine zentrale Rolle. Das setzen von Graffitis sowie das Zerstören »feindlicher« Graffitis gehören hier zum festen Handlungsrepertoire. Dabei sind die Graffitis bisweilen so codiert, dass sie für Uninformierte gar nicht als Hooligan-Zeichen identifizierbar sind. Diese Codierung, so Esch, unterstützt das zuvor gemachte Argument der Selbstreferentialität hooliganistischer Kämpfe.

In der Diskussion wird die Frage nach der Verbindung von Hooliganismus und organisierter Kriminalität gefragt, die auch die Selbstbezeichnung von Hooligan-Clubs als »Firma« nahelegt. Esch erklärt, dass es diese Beziehung in bestimmten Fällen vermutlich gibt, dies aber nicht im Zentrum seiner Forschung steht. Diskutiert wird auch die Frage, inwiefern Feldforschung und Interviews diese Forschung noch vertieft werden könnte. Esch erklärt, dass der Zugang zu diesem Feld zum einen durch eine starke Altersgrenze (Mitte dreißig) limitiert ist und dass die meisten Clubs inzwischen in der Interaktion der mit der Öffentlichkeit sehr geschickt sind und versuchen, in Interviews »ihre« Version der Dinge darstellen. In der Diskussion erklärt Esch außerdem, dass die Beschäftigung mit dem Hooliganismus auch durch die Frage motiviert ist, wie es historisch dazu gekommen ist, dass in bestimmten Milieus Hooligans heute als die »letzten Rebellen« gelten. 

 

Sabine von Löwis:
Phantomgrenzen in der Ukraine

Sabine von Löwis berichtet aus ihrer Arbeit im Rahmen des Forschungsprojekts Phantomgrenzen in Ostmitteleuropa. Ausgangspunkt des Phantomgrenzen-Projektes ist die Beobachtung, dass an manchen Orten historische Grenzen sich beispielsweise in Wahlergebnissen widerspiegeln. Sie selbst hat dieses Phänomen anhand zweier Dörfer gleichen namens am Fluß Zbruc untersucht, der sie einst in einen polnischen und einen sowjetischen Teil teilte, und die heute vollständig in der Ukraine liegen. Sie stellt vor, wie sich die Persistenz dieser Grenze in verschiedenen Erinnerungskulturen, in differenten Selbstbeschreibungen und bestimmten Aspekten des Alltagshandeln, wie des Kirchgangs, sowie verschiedenen Wirtschaftsstrukturen in den Landwirtschaft zeigt. Dennoch wird die Grenze im Alltag aber auch immer wieder aufgehoben oder umgangen. Von Löwis schlussfolgert, dass diese Grenzen im politischen Zentrum des Landes eine viel größere Rolle spielen als an der politischen Peripherie. 

In der Diskussion wurde nach der Bedeutung der religiösen Teilung des Dorfes gefragt. Von Löwis erläutert, dass beide Dörfern orthodox sind, der Ritus also der selbe ist, jedoch zu unterschiedlichen Patriarchaten gehören. Vor der Wiedereröffnung der griechisch-katholischen Kirche besuchten beide Dorfteile die ukrainisch-orthodoxe Kirche Moskauer Patriarchats im anderen Dorfteil. Allerdings ist die griechisch-katholische Kirche durch eine Geschichte der Unterdrückung geprägt, die zum einen zu starker Identifizierung und Abgrenzung führt, die zum anderen im historischen Verlauf jedoch auch eine Schwächung der Kirche durch Mitgliederverlust hervorgerufen hat. Am Ende der Diskussion hebt von Löwis noch einmal hervor, dass die besondere Relevanz dieses Themas auch darin besteht, dass, wie gegenwärtige politische Entwicklungen in der Ukraine zeigen, Phantomgrenzen unter Umständen auch wieder zu offiziell markierten Grenzen werden können.

 

 André Bank:
Grenzüberschreitende Netzwerke in Syrien

Ausgangspunkt der Überlegungen von André Bank ist die von Politik und Öffentlichkeit immer wieder formulierte Angst vor einem durch den syrischen Bürgerkrieg ausgelösten »regionalen Flächenbrand«. Interessant ist, dass trotz unübersehbarer regionaler Auswirkungen dieses Konfliktes dieser Flächenbrand bis heute ausgeblieben ist. Banks vorläufige These lautet, dass gerade die vielfältigen grenzüberschreitenden sozialen Netzwerke und deren nur partielle Verselbständigung in paradoxer Weise zu einer Stabilisierung der Nachbarkontexte geführt hat.

Bisherige Forschungen zu grenzüberschreitenden Dynamiken in Kriegskontexten stellen vor allem auf sogenannte regionale Konfliktkomplexe ab, die durch militärische (Kämpfer, Waffen), politische (Eliten), ökonomische und soziale (Identitätsgruppen, Flüchtlinge) Netzwerke entstehen. Allerdings werden hier einseitig kriegsökonomische Netzwerke fokussiert; vor allem werden reverse effects, also die Auswirkungen dieser Netzwerke nicht auf das ursprüngliche Konfliktland, sondern auf die angrenzenden Kontexte, vernachlässigt. 

In Syrien selbst begann die Krise  Dar’a im März 2011. Hintergrund ist die Krise der lokalen Ökonomie kombiniert mit den ermutigenden Effekten der Beobachtung des Arabischen Frühlings. Interessant ist, dass alle frühen Proteste in rurbanen und grenznahen Räumen ereignen. Da die politische Organisation des syrischen Staates eine Formierung oppositioneller Netzwerke in nationalem Rahmen verhindert hatte, fand die Ausbreitung des Konfliktes im Sinne eines Hinzukommens weiterer lokaler Proteste statt, die eine gemeinsam Identität durch den Verweis auf den Arabischen Frühling bezieht. Es gibt also einen scale shift, der von der lokalem direkt auf die regionale Ebene springt und die nationale auslässt.

Verflechtungen ergaben sich zwischen Nordjordanien und Syrien relativ schnell: sozial durch die Aktivierung von Familienstrukturen im Zuge von Flüchtlingsbewegungen, durch daraus sich ergebende demographische Verschiebungen und identitäre Diskurse; militärisch durch die logistische Bedeutung Nordjordaniens für die Versorgung mit Kämpfern und Waffen. Dennoch haben sich diese Netzwerke nicht so vernachlässigt, dass sie selbst zu einem Konfliktfaktor in Jordanien werden würden; der jordanische Geheimdienst scheint hier auch eindämmend zu wirken.

Aus diesen Beobachtungen ergeben sich eine ganze Reihe konzeptionell-methodischer Fragen: Wie lässt sich die »Bedeutung« der Netzwerke, das heißt ihr Gewicht, ihr Einfluss, ect. konzeptuell besser fassen?  Wie lassen sich die empirischen Dynamiken besser untersuchen?

In der Diskussion wurde darauf hingewiesen, dass es wichtig wäre, zwischen Krieg und Bürgerkrieg zu unterscheiden, denn überraschend ist die Grenzüberschreitung ja nur beim Bürgerkrieg. In diesem Sinne ist auch etwas unklar, was mit »Flächenbrand« eigentlich gemeint ist. Bank argumentiert, dass in Syrien zwar kein zwischenstaatlicher Krieg vorliegt, durch die Transnationalisierung der Gewaltakteure jedoch auch kein klassischer Bürgerkrieg.

 

Sabine Kurtenbach:

Stadt und Land – Partizipation und Kontrolle von Jugendlichen in Nachkriegsgesellschaften

Das Projekt geht von der These aus, dass Jugendliche, die im Krieg aufgewachsen sind und daher Gewalterfahrung haben, in der Nachkriegszeit eine besonders hohe Gewaltneigung haben. Diese Gewaltneigung wird durch den Zerfall sozialer Netzwerke noch verstärkt. Zusätzlich weisen Nachkriegsgesellschaften ein hohes Maß an Volatilität auf: Unsicherheit in der Politik, strukturelle Veränderung wie z.B. Urbanisierung.

Empirische Forschung in zwei Ländern (Guatemala, Kambodscha) hat allerdings gezeigt, dass die Beteiligung von Jugendlichen an Gewalt in Nachkriegssituationen weitaus weniger stark war, als die Ausgangshypothese nahelegen würde. In beiden Ländern war Nachkriegsgewalt durchaus vorhanden, doch Jugendliche finden sich darin nur punktuell – in Guatemala vor allem in Gangs.

 

Kriegs- und Nachkriegsgesellschaft in tiefgreifender Veränderung…

 

Empirie

 

Konzepte Nachkrieg

 

 

 

Quelle: http://gewalt.hypotheses.org/412

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Tagungsbericht: Orden in der Krise – Möglichkeiten und Grenzen religiöser Lebenswelten in der Vormoderne

Veranstalter: Doktoranden des Fachbereichs Geschichtswissenschaft an der Universität Tübingen, Seminar für Neuere Geschichte Datum: 6.–7.9.2013 Ort: Eberhard Karls Universität Tübingen Am 5. und am 6. September fand an der Eberhard Karls Universität Tübingen der Doktoranden-Workshop „Orden in der Krise – Möglichkeiten und Grenzen religiöser Lebenswelten in der Vormoderne“ statt. Gefördert wurde die Veranstaltung vom Zukunftskonzept der Universität Tübingen und vom Universitätsbund Tübingen e. V. Der Workshop zielte darauf ab zu erörtern, inwieweit sich „Krise“ als heuristische und analytische Kategorie für die Ordensforschung der Vormoderne […]

Quelle: http://ordensgeschichte.hypotheses.org/6599

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»Ordnungen der Gewalt heute«: Bericht vom 24. Workshop des AK »Gewaltordnungen«

Am Freitag, 22. November 2013, fand unter dem Titel »Taking stock: Ordnungen der Gewalt heute« der 24. Workshop des interdisziplinären Arbeitskreises »Gewaltordnungen« in der Deutschen Vereinigung für Politikwissenschaft (DVPW) in Berlin statt. Zwölf Jahre nach Gründung des Arbeitskreises durch Julia Eckert (Sozialanthropologie, Universität Bern) und Klaus Schlichte (Politikwissenschaft, Universität Bremen) stand die Frage nach der gegenwärtigen Bedeutung des Konzepts »Gewaltordnungen« im Zentrum. Dieser wurde in einer Reihe empirischer und theoretischer Beiträge nachgegangen.

Den Auftakt bildete ein Vortrag von Lars Ostermeier (Kriminologie, TU Berlin) und Robert Pelzer (Kriminologie, Universität Hamburg) über Polizeieinsätze am 1. Mai in Berlin-Kreuzberg. Grundlage der Überlegungen war eine Studie über den Einsatz im Jahr 2009, die die beiden Vortragenden im Auftrag des Berliner Senats durchgeführt hatten. Anhand von Akten und Interviews rekonstruierten sie die Akteursstruktur und typische Interaktionen und stellte diese in den Kontext früher und folgender Einsätze. Sie arbeiteten heraus, dass sich die Dynamik dieses Ereignisses nicht allein aus der Opposition von Polizeikräften und DemonstrantInnen erklärt; vielmehr seien inzwischen “Dritte” zu einem konstitutiven Bestandteil der sozialen Dynamik der Maidemonstrationen geworden. Entscheidend hierfür war die Einrichtung des gleichzeitig stattfindenden Maifestes, die darauf zielte, den Raum für gewaltsame Interaktionen einzuschränken, indem man mit einer Volksfestatmosphäre Familien, Touristen und Schaulustige anzieht. Ostermeier und Pelzer machen außerdem deutlich, wie wichtig nicht nur polizeiliche Strategien (Einkesselung und Containment vs. “beweissichere Festnahme”) sondern auch die personelle Zusammensetzung der Einsatzkräfte (Bundespolizei vs. Berliner Polizei) für die Dynamik der Ereignisse sind. Die Im Zentrum der Problematisierung von Ostermeier und Pelzer stand das Spannungsfeld von Legalität und Legitimität, von dem dieses polizeiliche Handlungsfeld gekennzeichnet ist: Denn das operative Ziel dieser Einsätze oszilliert zwischen der Durchsetzung des verfassungsrechtlich verbrieften Demonstrationsrechts einerseits und der Verteidigung staatlicher Ordnung oszilliert andererseits. Hinzu kommt, dass in den Interaktionen zwischen Polizisten und Demonstranten die Eigenlogik von Gewaltdynamiken dominiert und zumindest situativ der Rechtsrahmen fürbpolizeiliches Handeln in den Hintergrund tritt.

LITERATUR:
Ostermeier, Lars. & Pelzer, Rorbert. (2011). Die Kontrolle von Polizeigewalt und das Problem der Legitimität des polizeilichen Gewalteinsatzes am Beispiel des 1. Mai 2009 in Berlin Kreuzberg. In: Kriminologisches Journal  43, H. 3. 186-205

Im nachfolgenden Vortrag stellte Daniel Bultmann (Soziologie, Humboldt-Universität zu Berlin)  seine jüngst abgeschlossene Promotion zu Machttechniken in bewaffneten Gruppen in Kambodscha vor. Am Anfang der Arbeit stand die Frage, wie sich die große Variabilität in den Techniken zur Erzeugung von Disziplin und Gehorsam erklären lassen. Der Vortrag zeigte, wie das Bourdieu’sche Konzept des Habitus für eine Rekonstruktion von Gewaltordnungen nutzbar gemacht werden kann. Grundlage der Arbeit ist eine einjährige Feldforschung im Land, während der Bultmann 86 Interviews führte, die er anschließend habitushermeneutisch analysierte. Anhand dieses Materials identifizierte er verschiedene Habitus innerhalb verschiedener militärischer Ränge, die – so das zentrale Argument des Vortrags – entscheidend für die Herausbildung verschiedener Machttechniken waren. Ein Beispiel hierfür ist der intellektuelle Anführer, der nach abgeschlossener universitärer Ausbildung aufgrund der politischen Umstände in die bewaffnete Gruppe kam, selbst nur im Ausnahmefall zur Waffe greift und gegenüber seinen Untergebenen paternalistische Überlegenheit kultiviert. Ein anderes ist der “strongman”, dem seine Fähigkeiten als Kämpfer zum sozialen und militärischen Aufstieg verholfen hat. Bedeutsam sind diese Unterschiede nicht nur während des Krieges, sondern auch danach. Denn der Habitus und das damit verbundenen Kapital entscheiden über die Chancen in der Nachkriegsgesellschaft.

Silke Oldenburg (Ethnologie, Universität Bayreuth) berichtete über noch laufende medienethnologische Forschungen in Ruanda. Ausgangspunkt für die Forschung ist die Beobachtung, dass die Medienlandschaft in der postgenozidären ruandischen Gesellschaft von großen Spannungen geprägt ist: Das Land versteht sich als eine aufstrebende afrikanische Informations- und Kommunikationstechnologie-Gesellschaft (“ITC-Society”) und will sich als “Singapur Afrikas” profilieren. Gleichzeitig jedoch unterliegt die Arbeit von Medien strengster staatlicher Kontrolle und insbesondere politischer Journalismus ist nur unter großen persönlichen Risiken möglich (entsprechend liegt das Land im Ranking der Organisation Reporter ohne Grenzen auf Rang 161 von 179 Staaten). Motiviert sind diese Einschränkungen journalistischen Arbeitens nicht zuletzt durch die Erfahrung des Genozids von 1994, bei dem die mediale Mobilisierung von Tätern eine zentrale Rolle spielte. Im Zentrum von Oldenburgs Interesse steht diese Spannung zwischen liberaler medialer Öffnung nach Außen und repressiver Pressepolitik im Inneren sowie das Zusammenspiel von Politiken, Techniken und Selbsttechniken, die dem Funktionieren dieses Systems zugrunde liegen.

Anschließend stellte Michael Riekenberg (Geschichte, Universität Leipzig) die gewalttheoretischen Überlegungen des in der deutschen Gewaltforschung bisher kaum rezipierten französischen Autors Georges Bataille (1897-1962) vor. Letzteren beschäftigte zum einen die Frage, wie angesichts der Sprachlosigkeit, die Gewalt erzeugt, ein Schreiben über die Gewalt überhaupt möglich ist. Zum anderen widmete er sich aber auch explizit dem Verhältnis von Gewalt und Ordnung. In Batailles Denken verbindet sich Gewalt notwendiger Weise mit einem Überschreiten von Ordnung, denn sie stellt ein Moment der Ekstase dar. Bataille, der stark von den anthropologischen Arbeiten seiner Zeit beeinflußt war, überträgt Elemente der Gabentheorie Marcel Mauss’ auf gewaltsame Interaktionen und konzipiert letztere als Formen der Reziprozität, in denen sich der Mensch “verschwendet”. Hintergrund dieser Konzeption sind Batailles anthropologische Überlegungen, in deren Zentrum der Mensch als sterbliches und deshalb letztlich fundamental einsames Wesen steht. Diese Einsamkeit, so Bataille, könne nur situativ, in Momenten der Ekstase überwunden werden. Gewalt stellt – neben Sexualität – einen solch ekstatischen Moment dar. Im Gegensatz zu den vor allem im politischen Denken dominanten Ansätzen konzipiert Bataille Gewalt also nicht als ein Mittel, das bestimmten Zwecken dient – beispielsweise der Herstellung, Aufrechterhaltung oder Veränderung einer sozialen Ordnung – , sondern als ein charakteristisches Moment menschlicher Existenz.

LITERATUR:
Riekenberg, Michael (Hg.). 2012. Zur Gewaltsoziologie von Georges Bataille, Leipzig: Leipziger Universitätsverlag.

Im Zentrum der Abschlussdiskussion standen Herausforderungen und Perspektiven sozialwissenschaftlicher Forschung zu Gewaltordnungen. Ausgangspunkt hierfür waren zwei Texte: zum einen der inzwischen Kanonische Aufsatz “Soziologie der Gewalt” von Trutz von Trotha (1997); zum anderen Auszüge aus dem im nächsten Frühjahr erscheinenden Band Gewalttheorien zur Einführung von Teresa Koloma Beck und Klaus Schlichte. Letztere eröffneten die Diskussion mit einer Vorstellung des Konzepts des Buches. Im Zentrum der anschließenden Diskussion stand zum einen die Frage nach der Bedeutung einer anthropologischen Fundierung von Gewalttheorie und empirischer Gewaltforschung. Ausgangspunkt hierfür war die Kontroverse um die insbesondere für die jüngere Gewaltsoziologie einflußreichen Überlegungen des Soziologen Heinrich Popitz, der “Verletzungsoffenheit” und “Verletzungsmächtigkeit” des Menschen als anthropologische Grundlangen von Gewalt konzipiert hatte. In diesem Kontext wurde in der Diskussion darüber hinaus die Frage nach der Bedeutung des Körpers in der Gewalttheorie wie auch in empirischen Forschungen zu Gewalt aufgeworfen und diskutiert, inwiefern Erkenntnisse aus sozialwissenschaftlichen Teilgebieten, die sich schon länger mit dem Körper beschäftigen (insbesondere feministische Sozialtheorien, disability, queer oder racism studies) für die Gewaltforschung nutzbar gemacht werden könnten. Schließlich ging es auch um die Frage, in welcher Weise die politischen und ethischen Positionen der Forschenden selbst in der Forschung zu Gewaltphänomenen vorkommen (sollten).

LITERATUR:
Koloma Beck, Teresa, and Klaus Schlichte. 2014. Gewalttheorien zur Einführung. Hamburg: Junius. (erscheint im April)
Popitz, Heinrich. 1992. Phänomene der Macht. Autorität. Herrschaft, Gewalt, Technik. Tübingen: Mohr.
Trotha, Trutz von. 1997. “Soziologie der Gewalt.” In Soziologie der Gewalt, hrg. v. Trutz von Trotha. Opladen: Westdeutscher Verlag (= Sonderheft 37 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie). 9-56.

Quelle: http://gewalt.hypotheses.org/202

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Eine “Revolution des Blicks”: das Deutsch-Französische Album über den Ersten Weltkrieg ist online

Das Deutsche Historische Institut Paris und die Mission 100. Jahrestag 1914-1918 (Mission du centenaire) bieten ab November 2013 gemeinsam ein „deutsch-französisches Album über den Krieg“ an. Alle 14 Tage wird es Dokumente zum ersten Weltkrieg zu entdecken geben, die von einem deutschen und einem französischen Historiker in ihrem jeweiligen Kontext in den beiden Sprachen erläutert werden. Das Album möchte den individuellen Erlebnissen und Erinnerungen der einstigen Feinde 100 Jahre nach diesem Konflikt ein gemeinsamer Blick auf den Ersten Weltkrieg hinzufügen.

Die vorgestellten Dokumente wie Plakate, Fotos, Grafiken, Karikaturen und Postkarten sind in der Mehrzahl bisher nicht veröffentlicht. Sie rekonstruieren die damalige spezifische visuelle Kultur und machen damit die bildliche Revolution deutlich, die der Erste Weltkrieg für beide Länder bedeutete. Vom Foto, das Präsident Poincaré im Juli 1914 in St. Petersburg zeigt, über die Bilder der ersten Kämpfe, von den typischen französischen Soldatenhelmen über die grafische Ästhetik der Kriegspropaganda eröffnet sich dem Betrachter, begleitet durch die Erläuterungen der Spezialisten, ein neuer Blick auf den Krieg.

Die Dokumente stammen aus der Zusammenarbeit mit sechs deutschen und französischen Partnerinstitutionen: Das Deutsche Historische Museum in Berlin, die Bibliothek für Zeitgeschichte in Stuttgart, die Staatsbibliothek zu Berlin, die französische Nationalbibliothek (Bibliothèque nationale de France, BNF), die nationale Universitätsbibliothek in Strassburg (Bibliothèque nationale universitaire de Strasbourg, BNU) und die Bibliothek zur internationalen zeitgenössischen Dokumentation (Bibliothèque de documentation internationale contemporaine, BDIC).

> Website und weitere Informationen

Quelle: http://dhdhi.hypotheses.org/2067

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