Tagungsbericht: Editionsreihen von Regierungsakten im internationalen Vergleich

Unter dem vielsagenden Titel „Zwischen Unverzichtbarkeit und Ungewissheit: Editionsreihen von Regierungsakten im internationalen Vergleich“ fand am 22. Oktober 2013 am Österreichischen Staatsarchiv in Wien ein Workshop statt, zu dem dieses zusammen mit dem Institut für Neuzeit- und Zeitgeschichtsforschung (INZ) der Österreichischen Akademie der Wissenschaften eingeladen hatte. Ziel der Veranstaltung war vor allem die Bestandsaufnahme und Bewusstseinsbildung zu Stand und Perspektiven der Regierungsakteneditionen in Österreich, wozu auch der Vergleich mit derartigen Unternehmen in Deutschland und der Schweiz beitragen sollte.

Das Programm der Veranstaltung finden Sie hier.

Protokolle des österreichischen Ministerrates 1848-1867, Bd. 2/4

Protokolle des österreichischen Ministerrates 1848-1867, Bd. 2/4

Nach Begrüßungsworten vom Direktor des INZ, Michael Gehler, wurde die Tagung mit einem Impulsreferat von Waltraud Heindl eröffnet. Die pensionierte Universitätsprofessorin, bekannt unter anderem für ihre Forschungen zur Geschichte der Bürokratie in Österreich1 und des Frauenstudiums, war auch lange Zeit Mitarbeiterin an der Edition der Ministerratsprotokolle der Habsburgermonarchie. Sie begann mit der Feststellung, Editionen seien „das ungeliebte Kind“ unter den wissenschaftlichen Großprojekten. Politische Ansprüche, die sich auf eine einseitig ökonomisch verstandene „Anwendbarkeit“ richteten, und organisatorische Paradigmen, die jede langfristige Bindung von Mitteln zu vermeiden suchten, hätten schon die Vorstellung von Langzeitvorhaben den Entscheidungsträgern „unbegreiflich“ gemacht. Demgegenüber stellte sie die kritische Textedition als wissenschaftliche Tradition heraus, die aus dem Historismus des 19. Jahrhunderts komme – einer Zeit, in der die Historie eine Leitwissenschaft der europäischen Gesellschaften und das allgemeine Bewusstsein der Gebildeten in weit höherem Maße historisch geprägt gewesen sei als gegenwärtig. Die damals entwickelten Standards und Methoden seien allerdings keineswegs ausschließlich für die Geschichtswissenschaft, sondern für den gesamten Bereich der Geistes-, Kultur- und Rechtswissenschaften gültig geblieben. Die Edition strebe einerseits danach, aus einer schwer zugänglichen Quelle einen leicht und zuverlässig abrufbaren „Wiedergebrauchstext“ zu machen, andererseits sei ein bloßer Abdruck keine Edition, sondern als unverzichtbarer Bestandteil gehöre zu dieser auch die wissenschaftliche Aufbereitung durch kritische Textgestaltung, Regestierung, Kommentierung und Einleitung. Das Vorgehen habe dabei nicht dem Ermessen zu unterliegen, sondern an Richtlinien gebunden zu sein, die im voraus festgelegt und auch den Benutzern deutlich gemacht werden. Dementsprechend, so Heindl, seien „nur die besten Historikerinnen und Historiker gut genug, um editorisch tätig zu sein“. Im Übrigen würden auch der cultural und der linguistic turn in der Geschichtswissenschaft das Bedürfnis nach solide ausgeführten Texteditionen keineswegs reduzieren, sondern im Gegenteil erhöhen – schließlich könne niemand Texte dekonstruieren, wenn keine zur Verfügung stehen. Sie schloss mit einem Plaidoyer erstens dafür, den Entscheidungsträgern in politischen Ämtern und Förderinstitutionen den Wert von Editionen verständlich zu machen, und zweitens dafür, auch an den Universitäten wieder mehr die Fähigkeiten in der Lehre zu berücksichtigen, die EditorInnen bräuchten.

Im Folgenden wurden zwei deutsche, ein schweizerisches und drei österreichische Großvorhaben jeweils von ihren Mitarbeiterinnen oder Mitarbeitern vorgestellt. Bärbel Holtz, Leiterin des Akademievorhabens „Preußen als Kulturstaat“ an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, sprach über die von 1994 bis 2003 durchgeführte Edition der Protokolle des Preußischen Staatsministeriums. Hier war eine durchgehende Überlieferung über mehr als ein Jahrhundert (1817–1934/38) zu bearbeiten, wobei die Vorgaben des Fördergebers – die Finanzierung erfolgte aus dem Akademienprogramm – von Beginn an klarstellten, dass eine limitierte Projektzeit einzuhalten und eine Volltextedition jedenfalls ausgeschlossen war. Zentral für die Lösung dieser Aufgabe war ein Editionskonzept, das eine Mischung aus überwiegend standardisierter regestenförmiger Wiedergabe und der Übernahme einzelner besonders signifikanter Ausdrücke aus dem Originalwortlaut vorsah. Dank dieser kompakten Präsentationsweise nimmt ein Protokoll in der Regel nur eine Druckseite ein. Der wissenschaftliche Wert liegt daneben aber auch in einem sehr eingehend gestalteten Anmerkungsapparat, der möglichst umfassend auf bezügliche Akten sämtlicher Ministerien verweist, und in den kommentierten Registern, wobei vor allem das Personenregister geradezu eine Prosopographie der bis dahin schlecht erforschten preußischen Beamtenschaft wurde und inzwischen gerne als solche benutzt wird. Die 12 Bände in insgesamt 17 Teilbänden sind heute vollständig und unentgeltlich online zugänglich.

Hanns Jürgen Küsters, Professor an der Universität Bonn und Hauptabteilungsleiter Wissenschaftliche Dienste bei der Konrad-Adenauer-Stiftung, berichtete über die lange, aber keineswegs geradlinige Geschichte der Edition der „Dokumente zur Deutschlandpolitik“. Er hob hervor, wie unmittelbar dieses Unternehmen nicht nur in seiner Entstehung, sondern auch in Detailentscheidungen über Zielsetzungen und Editionsplan von konkreten politischen Darstellungs- und Legitimationsinteressen abhängig war und ist – ein Umstand, der zu einer (so Küsters wörtlich) „verkorksten“ Reiheneinteilung und Erscheinungsfolge der Bände geführt habe. Die Arbeitsgruppe unterstand direkt dem Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen, später dem Bundesinnenministerium; andere Ministerien zeigten sich freilich nicht immer kooperativ bei der Bereitstellung amtlicher Schriftstücke. Küsters ging auch auf die großen Probleme der Auswahl der Dokumente ein, zumal auch ausländische Bestände nach Möglichkeit herangezogen werden; das „Zauberwort ‚Schlüsseldokumente‘ “, meinte er augenzwinkernd, stehe zwar in jedem Antrag und Projektbericht, eine Definition sei ihm aber noch nicht untergekommen.

Ursina Bentele präsentierte die Edition „Diplomatische Dokumente der Schweiz“. In den 1970er Jahren zunächst als interuniversitäre Initiative entstanden, ist sie heute ein Unternehmen der Schweizerischen Akademie für Geistes- und Sozialwissenschaften. Die erste Reihe mit 15 Bänden zum Zeitraum 1848–1945 ist abgeschlossen; die Edition der Dokumente ab 1945 erfolgt parallel in Form der Datenbank DODIS und gedruckter Bände, in die freilich nur ein Teil der in der Datenbank bearbeiteten Stücke im Volltext eingeht – die Bücher erhalten so die Funktion von „Wegweisern“ zur Datensammlung. Die Forschungsleistung der Editionsgruppe, so Bentele, bestehe aber auch noch unter diesen Umständen zu einem beträchtlichen Teil in der Reduktion des verfügbaren Materials auf die präsentierte Auswahl: Für einen Band, der drei Jahre Schweizer Außenpolitik abdeckt, würden etwa 600 Laufmeter Akten oder rund 1,5 Millionen Schriftstücke gesichtet.

Screenshot eines Rechercheergebnisses aus DODIS

Screenshot eines Rechercheergebnisses aus DODIS

Von österreichischer Seite wurde zunächst die Edition der Ministerratsprotokolle der Habsburgermonarchie von Stefan Malfèr und Thomas Kletečka vorgestellt. Als Gemeinschaftsunternehmen österreichischer und ungarischer HistorikerInnen nahm sie ihren Anfang in den späten 1960er Jahren; die erste Serie, enthaltend die Ministerratsprotokolle der Jahre 1848 bis 1867, ist heute mit insgesamt 26 Bänden nahezu abgeschlossen, die letzten zwei sind bereits in Vorbereitung. Ähnlich steht es um die in Ungarn edierten Protokolle des gemeinsamen österreichisch-ungarischen Ministerrats von 1867 bis 1918. Die dritte Serie mit den Protokollen des „cisleithanischen“ Ministerrats aus der Zeit der Doppelmonarchie ist auf lediglich elf Bände kalkuliert, weil ein erheblicher Teil der Vorlagen beim Brand des Wiener Justizpalastes am 15. Juli 1927 zerstört oder beschädigt wurde. Malfèr hob hervor, dass der hohe Standard – er bekannte sich insbesondere zur Volltextedition und zum ausführlichen wissenschaftlichen Kommentar einschließlich Verweisen auf Bezugsakten und Forschungsliteratur – zwar für die lange Bearbeitungsdauer mitverantwortlich sei, die immer wieder der Verteidigung bedurft habe, aber auch ein entscheidendes Kriterium für den Wert und die sehr positive Aufnahme der Edition in Fachkreisen. Die wissenschaftliche Aufarbeitung liefere unvermeidlich auch bereits erste Ergebnisse hinsichtlich einer Interpretation des Regierungshandelns, in diesem Fall etwa für eine Neubewertung der Leistungen und Versäumnisse des „Neoabsolutismus“ der 1850er Jahre oder des Oktoberdiploms von 1860. Die Arbeit der Gruppe verstehe sich damit auch als Beitrag zu einer von ideologischen Verzerrungen und Ressentiments „entrümpelten Erinnerungskultur“ zur Habsburgermonarchie, so Kletečka.

Gertrude Enderle-Burcel überschrieb den von ihr gemeinsam mit Hanns Haas und Alexandra Neubauer-Czettl vorgetragenen Bericht über die Ministerratsprotokoll-Edition zur Republik Österreich bewusst provokativ mit „Blick zurück im Zorn“. Bei Beginn des Unternehmens in den 1970er Jahren habe zwar seitens des Bundeskanzlers Bruno Kreisky und der Wissenschaftsministerin Hertha Firnberg ein klares politisches Bekenntnis zur Notwendigkeit der Bearbeitung bestanden, die Finanzierung und Ausstattung der Arbeitsgruppe sei jedoch von Beginn an unzulänglich gewesen, und dies habe sich im Laufe der Zeit nur noch verschärft. Nie habe es mehr als einen festen Dienstposten für das Vorhaben gegeben; die zwischen Bundeskanzleramt und Wissenschaftsministerium geteilte Zuständigkeit habe es beiden Behörden immer wieder erleichtert, sich aus der Verantwortung zu stehlen. Die Basisfinanzierung wurde schließlich nach jenem desaströsen Regierungsbeschluss von Oktober 2010, der zur Einstellung jeglicher Förderung des Bundes für außeruniversitäre Forschung führte, gestrichen. Derzeit gebe es noch eine Finanzierung durch die Gemeinde Wien in Form jährlicher (!) Förderverträge sowie eine Projektfinanzierung des Bundeskanzleramtes für die Digitalisierung und Transkription der Unterlagen. Dabei handle es sich – was im Grunde selbstverständlich sein müsste – um Quellen von höchster Wichtigkeit und großer Aussagekraft, deren Bearbeitung allerdings hohe Ansprüche stelle, da auch die Originalmitschriften zu berücksichtigen sind, in denen vieles enthalten ist, was in die Reinschriften keine Aufnahme fand. Diese Mitschriften freilich sind in Gabelsberger Kurzschrift aufgezeichnet worden, die heute nur noch von wenigen ExpertInnen gelesen wird. Die Zukunft des Unternehmens sei derzeit höchst ungewiss; nach den 23 erschienenen Bänden wären noch 29 weitere nötig, um auch nur die Erste Republik abzuschließen, eine zweite Reihe zur Zweiten Republik steht noch in den Anfängen.

Etwas versöhnlicher klang die Präsentation der „Außenpolitischen Dokumente der Republik Österreich“ durch Klaus Koch, Walter Rauscher und Elisabeth Vyslonzil. Dieses Gegenstück zu den „Diplomatischen Dokumenten der Schweiz“ wurde um 1990 – lange nach dem Einsetzen ähnlicher Projekte in vielen anderen europäischen Staaten2 – angestoßen. Der von Beginn an schlanke Editionsplan, der für den gesamten Zeitraum der Ersten Republik 12 Bände vorsah, ist durchgehalten worden; acht Bände sind erschienen, zwei im Druck, die letzten beiden in Vorbereitung.

Der durch diese Präsentationen geschaffene Überblick zeigte zwar, dass auch in Deutschland und der Schweiz für langfristige Editionsprojekte der Himmel nicht immer voller Geigen hängt, dass aber doch die Situation in Österreich besonders unbefriedigend ist. Während die preußischen Staatsministeriumsprotokolle von fünf Promovierten bearbeitet wurden und DODIS acht wissenschaftliche MitarbeiterInnen beschäftigt, kann keine der genannten österreichischen Unternehmungen darauf zurückblicken, jemals mehr als drei Dienstposten besessen zu haben. Fördermodelle mit zehn- oder zwölfjähriger Laufzeit gibt es in Österreich schlichtweg nicht. Ein Großteil der Finanzierung erfolgte in allen drei Fällen über Jahrzehnte hinweg in Form aneinandergereihter dreijähriger Projekte, bei jeweils neuer Beantragung und Begutachtung. Die Zukunft aller drei Editionen ist völlig offen; für keine gibt es derzeit eine Finanzierung über das Jahr 2014 hinaus.

Den Abschluss der Veranstaltung bildete eine Podiumsdiskussion mit Vertreterinnen des Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (Geschäftsführerin Dorothea Sturn), der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (Brigitte Mazohl, Präsidentin der Philosophisch-historischen Klasse) und des Österreichischen Staatsarchivs (Gertrude Enderle-Burcel) sowie einer Beamtin des Wissenschaftsministeriums (Ursula Brustmann), die freilich bereits eingangs erklärte, nicht für die politische Ebene des Ressorts sprechen zu können, sondern nur den Standpunkt der dortigen FachbeamtInnen zu repräsentieren. Als Leitfragen wurden ausgegeben: „Wie kann politisches Interesse für Editionen gefördert werden? Welche Wünsche der Öffentlichkeit an Editionen sind zu berücksichtigen? Wie kann die nötige Finanzierung eingeworben und verstetigt werden?“

Ein niederschmetternd einmütiger Befund war zunächst der, dass es um das politische Interesse für Wissenschaft im Allgemeinen, Geisteswissenschaften im Besonderen und speziell für Editionen in Österreich derzeit schlecht bestellt respektive dieses überhaupt nicht vorhanden sei. Hinsichtlich der derzeit laufenden Verhandlungen über eine Regierungsbildung nach den Nationalratswahlen im September wurden zudem von mehreren Seiten Befürchtungen laut, dass eine Zusammenlegung des Wissenschaftsministeriums mit anderen Ressorts, vielleicht auch eine Trennung der Universitäts- von den Forschungsagenden zu befürchten sei. Dass von Seiten der Wissenschaft mehr Arbeit zur Bewusstseinsbildung nötig sei, blieb angesichts dessen unbestritten. Dazu wurden von verschiedenen Seiten Vorschläge vorgebracht, teils organisatorischer Natur – Vernetzung laufender Editionsvorhaben zu einer Plattform zwecks gegenseitiger Information und koordinierter Medien- und Lobbyarbeit (Mazohl; von vielen Seiten begrüßt) –, teils inhaltlicher Art, etwa die Idee einer Betonung des Werts von Staatsakteneditionen als Instrument der Demokratieerziehung (Küsters). Manches war wohl auch eher sarkastisch gemeint, etwa die Frage von Waltraud Heindl, ob es zielführend sei, die Namen politischer Entscheidungsträger ähnlich groß und sichtbar außen auf Editionsbände zu schreiben, wie die Namen der Bürgermeister auf Wiener Gemeindewohnbauten stehen.

Gedenktafel Bieler Hof

“Ediert aus den Mitteln der Republik Österreich in den Jahren 2017–2020 unter der Bundeskanzlerin X und dem Bundesminister für Wissenschaft Y”? (Photo: Bauinschrift des Bieler-Hofes in Wien 21. Quelle: Wikimedia Commons/Herbert Josl)

In institutioneller Hinsicht waren sich die Diskutierenden einig, dass die bestehenden Fördermodalitäten des FWF (als inzwischen nahezu einzig verbliebener Agentur zur Förderung der Geisteswissenschaften in Österreich) für langfristige Editionsprojekte wenig geeignet sind. Ob es Aufgabe des FWF sei, eine derartige Förderschiene in sein Programm aufzunehmen3, war hingegen umstritten. Von manchen wurde dies mit Nachdruck gewünscht, die FWF-Vertreterin sah eine solche Ausweitung der Tätigkeit angesichts der aktuellen Ressourcenausstattung des Fonds jedoch für die absehbare Zukunft als nicht diskutabel an4. Als Trägerinstitution größerer Vorhaben sahen fast alle, angesichts der weiterhin sehr ungünstigen Bedingungen für die Schaffung neuer außeruniversitärer Forschungseinrichtungen, in erster Linie die Akademie der Wissenschaften gefragt. Nach den Worten ihrer Vertreterin wäre diese dazu gerne bereit – entsprechende Budgetmittel vorausgesetzt, womit natürlich wieder die politische Ebene angesprochen war.

Diskutiert wurde auch, inwiefern sich die Rahmenbedingungen auf editorische Tätigkeit selbst auswirken müssten. Von außen ist immer wieder der bloße Abdruck von Texten ohne wissenschaftlichen Apparat empfohlen, nicht selten auch gefordert worden, wie etliche Anwesenden berichten konnten. Allen Teilnehmenden der Veranstaltung war jedoch klar, dass hierin keine Lösung liegen kann, sondern gerade die wissenschaftliche Aufarbeitung den Mehrwert der editorischen Arbeit ausmacht: Indexierung schafft erst die Möglichkeit einer Benutzung zu vorgegebenen Themen, der Nachweis der bisherigen Literatur führt an den Forschungsstand heran und Verweise auf weitere Akten ermöglichen weiterführende Forschung. Ein Textabdruck oder auch eine Sammlung von Digitalisaten ohne alles dieses ist dagegen ein unbenutzbarer Datenwust. Dies müsste freilich auch außerhalb von Fachkreisen klar gemacht werden. Gertrude Enderle-Burcel gab unerquickliche Anekdoten aus ihren Verhandlungen mit Beamten des Bundeskanzleramts zum Besten: Es sei von ihren Gesprächspartnern als unverständlich bezeichnet worden, wie jemand ein oder gar zwei Jahre an einem Editionsband „herumnudeln“ könne; es sei nach den Kosten pro Seite, ja nach Kosten pro Anmerkung gefragt worden; schließlich erscheine die (bereits erwähnte) Finanzierung für die Digitalisierung und Transkription der Protokolle zwar ihr und ihren KollegInnen als Vorarbeit für eine Edition, dem Fördergeber jedoch anscheinend als abschließende Erledigung des Anliegens. Selbst die Anlage eines Registers sei für überflüssig befunden worden, denn wenn die Transkripte online verfügbar seien, gebe es ja die Möglichkeit der Volltextsuche – in ungefähr 13.000 Seiten …

Die neuen technischen Möglichkeiten der Bearbeitung und Präsentation wurden von allen als unverzichtbar eingestuft, etliche Stimmen riefen allerdings nach einer differenzierten Abwägung von Kosten und Nutzen. Auf Online-Präsenz ganz zu verzichten und nur auf gedruckte Editionsbände hinzuarbeiten, wurde allgemein als weder wissenschaftlich vertretbar noch gegenüber einem außerwissenschaftlichen Publikum entgegenkommend abgelehnt. Hingegen wurde darauf verwiesen, dass Online-Editionen, gerade solche in Datenbankform, vor allem erweiterte Zugangs- und Suchmöglichkeiten brächten, nicht jedoch die von uninformierter Seite häufig vermutete Kostenreduktion; im Gegenteil, spätestens bei der Absicht einer langfristigen Nutzung auf Jahrzehnte hinaus sei mit viel höheren Kosten zu rechnen. Gerade die lange Nutzungsdauer ist jedoch ein besonderes Merkmal von Editionen; Bände der „Monumenta Germaniae Historica“ oder der „Acta Borussica“ aus dem 19. Jahrhundert werden heute noch geläufig zitiert. Dies wurde mehrfach als gewichtiges Argument für den Druck gewertet, dessen Langzeit-Speicherfähigkeit von keinem elektronischen Medium ohne vielfache Datenmigration erreicht wird. Die meisten Diskussionsbeiträge liefen darauf hinaus, dass sich Kombinationslösungen empfehlen, bei denen die Kapazität, Zugänglichkeit und Suchmöglichkeiten einer Online-Edition mit den Speichereigenschaften einer parallelen Druckausgabe verbunden werden. Selbst bei dem in dieser Hinsicht zukunftsweisend erscheinenden DODIS-Projekt steht „die Abschaffung des gedruckten Bandes nicht zur Debatte“ (Bentele).

Gibt es ein Fazit, das auch für die Belange unseres weit kleiner definierten Eichstätter Editionsprojekts zur Zentralgewalt anwendbar wäre? Deutlich wurde durch die Veranstaltung zunächst, dass Editionen keineswegs bloße Kärrnerarbeit sind, sondern geisteswissenschaftliche Grundlagenforschung, die eine vielfache Weiternutzung ermöglicht. Dass dies außerhalb enger Fachzirkel den Wenigsten klar zu sein scheint, ist ein wesentliches Problem, und es steht allen an Editionen beteiligten ForscherInnen gut an, jede Gelegenheit zur Bewusstseinsbildung zu ergreifen. Überaus klar wurde auch, dass Editionen hohe Ansprüche an eine gediegene und konsequente Bearbeitung stellen und dementsprechend Schwerarbeit sind. Letzteres wussten wir bei der Zentralgewalt-Edition schon; Ersteres auch, aber das Workshop bestärkt uns darin, den Blick stets darauf gerichtet zu halten, dass unsere Produktion nicht nach der Zahl der Dokumente bewertet wird, die wir abgetippt haben, sondern nach der zielführenden Auswahl derselben und der Güte der Bearbeitung. Jene Standards in Textgestaltung, Erschließung und Präsentation, die sich bei einem solchen Erfahrungsaustausch als unverzichtbar und unhintergehbar über die verschiedensten Projekte hinweg erweisen, sind auch in unserer Edition zu berücksichtigen. Aber davon wird an anderer Stelle mehr zu schreiben sein.

  1. HEINDL, Waltraud: Gehorsame Rebellen. Bürokratie und Beamte in Österreich 1780 bis 1848 (Studien zu Politik und Verwaltung 36), Wien – Köln – Graz 1990; HEINDL, Waltraud: Josephinische Mandarine. Bürokratie und Beamte in Österreich 1848–1918, Wien 2013.
  2. Ein solches Verspätungsempfinden im internationalen Vergleich hatte Ursina Bentele bereits als Motivation für die 1972 erfolgte Initiative zu den „Diplomatischen Dokumenten der Schweiz“ angesprochen, was von Klaus Koch mit ironischem Lächeln aufgegriffen wurde.
  3. Dies war 2007/08 unter dem Programmtitel NIKE bereits geplant, fiel jedoch der Wirtschaftskrise und den daraus folgenden Budgetkürzungen zum Opfer.
  4. Dorothea Sturn verwies hierbei darauf, dass etwa der Schweizerische Nationalfonds, pro Kopf der Bevölkerung gerechnet, über viermal so viele Mittel verfüge wie der FWF.

Quelle: http://achtundvierzig.hypotheses.org/385

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Nachlese: Vorträge am 26. und 27. Juni 2013 in Speyer und Rastatt

Wie zuvor angekündigt, haben die beiden Projektmitarbeiter Thomas Stockinger und Tobias Hirschmüller bei zwei Veranstaltungen aus ihren Forschungen im Rahmen des Projekts berichtet. Dabei sprach Thomas Stockinger zum Thema „Ministerien aus dem Nichts. Die Einrichtung der Provisorischen Zentralgewalt“ und Tobias Hirschmüller über „Erzherzog Johann als Reichsverweser 1848/49“.

Vortragsabend im Stadtarchiv Speyer am 26. Juni 2013

Der erste der beiden Abende, den die Hambach-Gesellschaft gemeinsam mit dem Stadtarchiv Speyer veranstaltete, fand am 26. Juni ab 18.30 in den Räumlichkeiten des Letzteren statt. Nach einer kurzen Begrüßung durch Archivdirektor Dr. Joachim Kemper sprach Projektleiter Prof. Karsten Ruppert einleitend über den historischen Stellenwert der Provisorischen Zentralgewalt als erster Regierung (im heutigen Sinne des Wortes) für Deutschland sowie über die Ziele und Tätigkeiten unseres Projekts. Auf die beiden Vorträge folgte eine offene Diskussion, in der unter anderem die Erfolgschancen der Zentralgewalt und die Absichten der Mehrheit in der Frankfurter Nationalversammlung bei ihrer Einsetzung vertieft besprochen wurden.

Ein weiterer Bericht über den Abend findet sich auf der Facebook-Seite des Stadtarchivs. Zudem hat sich Dr. Kemper dankenswerter Weise bereit gefunden, die Powerpoint-Folien zum Vortrag „Ministerien aus dem Nichts“ online zugänglich zu machen.

Der zweite Abend fand am 27. Juni, gleichfalls ab 18.30 Uhr, in den historischen Räumen des Rastätter Schlosses statt, wo die Erinnerungsstätte für die Freiheitsbewegungen in der deutschen Geschichte untergebracht ist. Wie die Leiterin der Erinnerungsstätte, Dr. Elisabeth Thalhofer, in ihren einleitenden Worten festhielt, fehlte nur ein Tag auf den 165. Jahrestag des Datums, an dem die Frankfurter Nationalversammlung das Gesetz zur Einsetzung der Provisorischen Zentralgewalt beschloss. Im Anschluss an die Vorträge kam es auch hier zu einer angeregten Diskussion, die von Dr. Clemens Rehm, Abteilungsleiter Fachprogramme und Bildungsarbeit im Landesarchiv Baden-Württemberg, in seiner Eigenschaft als Geschäftsführer des Fördervereins der Erinnerungsstätte moderiert wurde. Der Förderverein hatte auch den anschließenden kleinen Umtrunk organisiert, bei dem die Gespräche fortgesetzt wurden. Bereits vor Beginn des Programms hatten die beiden Besucher aus Eichstätt es sich angelegen sein lassen, die Dauerausstellung der Erinnerungsstätte zu besichtigen, und dabei unter anderem den Kabinettstisch bewundert, an dem das Gesamtreichsministerium damals seine Sitzungen hielt.

Nochmaliger Dank den Veranstaltern und Gastgebern für die Ermöglichung dieser Vorstellung unserer Forschungen! Da der Zuspruch beträchtlich war, ist an ähnliche Präsentationen durch die weiteren Mitglieder des Projekts im kommenden Jahr gedacht.

Quelle: http://achtundvierzig.hypotheses.org/277

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Robert von Mohl: Der Linksausleger im Reichsministerium – alles andere als ein Demokrat

Die Frankfurter Nationalversammlung wurde schon von zeitgenössischen Beobachtern – selten in freundlicher Absicht – als „Professorenparlament“ bezeichnet; freilich nur teilweise zu Recht, denn Hochschullehrer machten gerade etwas mehr als 8 % der Abgeordneten aus[1], wenn auch einige von diesen „politischen Professoren“ eine herausragende Stellung einnahmen[2]. Unter die Minister der Provisorischen Zentralgewalt gelangte nur ein universitärer Gelehrter von Rang: der gebürtige Württemberger Robert von Mohl[3], der zum Zeitpunkt seiner Wahl zum Abgeordneten für Mergentheim Ordinarius der Staatswissenschaften an der Universität Heidelberg war.

Robert von Mohl im Jahr 1848

Mohl, der aus einer alten württembergischen Juristen- und Beamtenfamilie stammte, hatte zuvor mehr als zwei Jahrzehnte an der Universität Tübingen unterrichtet und war dort auch der Universitätsbibliothek vorgestanden, bevor er sich durch regierungskritische Äußerungen im Zuge seiner Bewerbung um ein Mandat in der Württembergischen Abgeordnetenkammer den Zorn seiner Vorgesetzten zuzog und 1845 einer demütigenden Strafversetzung nur durch Austritt aus dem Staatsdienst entgehen konnte. Diese Ereignisse brachten ihn zumindest vorübergehend in den Ruf eines „Märtyrers“ der oppositionellen Politik und dürften wohl auch seiner Wahl in die Nationalversammlung durchaus förderlich gewesen sein.

Als Gelehrter war Mohl durch Werke über Staatsrecht und Polizeiwissenschaft hervorgetreten, die rasch breite Anerkennung fanden. Er hatte sich damit einen prominenten Rang unter den Theoretikern des Rechtsstaats und des Repräsentativsystems gesichert. Nach eigener Einschätzung ein „Altliberaler“[4], blieb er fest im monarchischen Konstitutionalismus verankert und rang in seinen Schriften lange um die Vereinbarkeit des monarchischen Prinzips mit einem von den „Mittelständen“, die seiner Ansicht nach „die ganze materielle und geistige Kraft der Völker in sich vereinigen“[5], getragenen Parlamentarismus. Seine Begriffe von „Rechtsstaat“ und „Gemeinwohl“ schlossen allerdings auch eine aktive Verantwortung des Staates für das materielle Wohlergehen der Bevölkerung ein, so dass Mohl mit einigem Recht zu den Vorläufern einer staatlichen Sozialpolitik gerechnet werden kann[6].

Ungeachtet dieses Interesses an einer Lösung der „sozialen Frage“ zur Aufrechterhaltung der staatlichen und gesellschaftlichen Ordnung war der liberale Theoretiker und Politiker Mohl „nichts weniger als ein Demokrat“[7]. Seiner Abneigung gegen die „Aristokratie“ stand ein mindestens ebenso tiefes Misstrauen gegen die „Prolotarier“ (sic) gegenüber, das ihn vor dem Gedanken einer ausschließlichen Volkssouveränität zurückschrecken und selbst in einer allzu großen Stärkung des parlamentarischen Einflusses gegenüber der Monarchie die Gefahr erblicken ließ, dass „der rohen Gewalt der physischen Mehrzahl ein allzubedeutender Spielraum gegeben“ würde[8]. Auf dem Höhepunkt revolutionärer Unruhe im Frühjahr 1848 widmete er sich der Abfassung einer – letztlich nicht veröffentlichten – Flugschrift „An die Arbeiter!“, in der er vor der Forderung nach einer Republik warnte, welche eine für Deutschland ungeeignete Staatsform sei und nur zu Bürgerkrieg und Elend führen könne[9]. Auch mit dem Gedanken des allgemeinen Männerwahlrechts fand er sich 1848 nur widerwillig ab, kehrte aber rasch zu seiner früheren schroff ablehnenden Meinung zurück; noch 1867 konnte er sich von dessen Einführung im Norddeutschen Bund nichts anderes als die verheerendsten Auswirkungen erwarten, weil es „weit ab von der einzig richtigen Ordnung eines Wahlsystemes“ liege, „nämlich der Auffassung der Betheiligung an dem activen Wahlrechte als eines den dazu Befähigten zu ertheilenden Auftrages“[10].

Innerhalb des südwestdeutschen Liberalismus war Mohl mit diesen Ansichten eher auf dem rechten Flügel positioniert; nach den Maßstäben der Frankfurter Nationalversammlung gehörte er hingegen zum „Linken Centrum“. Seine Fraktion war erst der „Württemberger Hof“, dann dessen rechte Abspaltung, der „Augsburger Hof“ (bekanntlich wurden die Gruppierungen unter den Abgeordneten nach den Gasthäusern benannt, in denen sie sich zu versammeln pflegten). Bei der Bildung des ersten Ministeriums der Provisorischen Zentralgewalt im August 1848 strebten nun die vom Reichsverweser zuerst ernannten Minister, namentlich Anton von Schmerling und Johann Gustav Heckscher, nach einer Verbreiterung der parlamentarischen Basis des Kabinetts, das überwiegend aus Vertretern des „Rechten Centrums“ gebildet wurde. Nach schwierigen Verhandlungen fanden sich Mohl als Justizminister und seine beiden Fraktionskollegen Johannes Baptista Fallati und Christian Widenmann als Unterstaatssekretäre zum Eintritt in das Ministerium bereit.

Die Vorbehalte hinsichtlich dieser Zusammenarbeit waren freilich auf beiden Seiten nicht leicht auszuräumen. Schmerling hielt später in seinen „Denkwürdigkeiten“ fest, dass das „sogenannte linke Centrum“ sich aus seiner Sicht „allerdings schon sehr zur Linken neigte (…) und deshalb mußte man sich begreiflicherweise den Mann, den man aus dieser Fraction des Hauses in das Ministerium berufen wollte, sehr genau ansehen“. Mohl selbst wäre nicht Schmerlings erste Wahl gewesen und wurde von diesem im Rückblick auf die gemeinsame Regierungsarbeit der Verfehlung geziehen, „neben allen Vorzügen auch alle unleidlichen Eigenschaften eines Schwaben, wie insbesondere unglaublichen Eigensinn und Rechthaberei im reichen Maße“ besessen zu haben, „so daß es beständig erhebliche Anstrengungen kostete, um ihn von seinen mitunter extravaganten Ideen abzubringen“[11]. Auch Mohl selbst bezeichnete sich und seine beiden Fraktionskollegen als „das am weitesten links gehende Element des Ministeriums“ und hoffte „als solches Gutes zu wirken“[12]; freilich ging er zugleich davon aus, dass dieses Kabinett „nicht lange halten“ und die Beteiligten danach „auf lange politisch todt“ sein würden[13]. Tatsächlich sollte er freilich trotz wiederholter Spannungen mit seinen Kollegen und mehrerer Rücktrittsangebote bis zum endgültigen Ende des letzten auf eine parlamentarische Mehrheit gestützten Kabinetts im Mai 1849 seinem Ressort vorstehen.

Das Justizministerium war selbst im Verhältnis zu anderen Posten in der Provisorischen Zentralgewalt eine Stellung mit sehr eingeschränkten Wirkungsmöglichkeiten. Schmerling hielt es im Grunde für überflüssig und behauptete, es sei nur eingerichtet worden, weil in der Nationalversammlung und der Öffentlichkeit „so überschwängliche Anschauungen von der Bedeutung Deutschlands und daher auch seiner Regierung“ herrschten, dass die allenfalls nötigen insgesamt drei Minister als für das notwendige Ansehen der Zentralgewalt nicht hinreichend erschienen wären[14]. Mohl selbst nannte sein Ressort insofern „ein Ministerium in partibus, als es keinerlei Behörden, sei es gerichtlicher, sei es andrer Art, unter sich hatte, ihm keine Ernennungen zustanden, ihm jedes Exekutionsmittel fehlte“[15]. Dennoch entfalteten er und sein Unterstaatssekretär Widenmann eine nicht ganz unbedeutende Tätigkeit einerseits im Umgang mit Rechtsfällen, die bisher der Bundesgerichtsbarkeit unterstanden wären – wozu Streitfälle zwischen deutschen Staaten, aber auch Beschwerden von Individuen gegen die Einzelstaaten wegen Rechtsverweigerung zählten –, andererseits in der Vorbereitung und Begutachtung von Gesetzesentwürfen und Staatsverträgen. Gerade in der schwierigen Frage, wie der Verkehr zwischen Zentralgewalt und staatlichen Regierungen zu regeln sei, und in jener der Publikation und Durchsetzung der „Reichsgesetze“ in den Staaten dürften viele der zentralen Texte von Mohl aufgesetzt worden sein. Widenmann übernahm die Verantwortung für die Vorbereitung einiger komplexer Gesetze zu (etwas) weniger kontroversen Materien; namentlich der unter seiner Leitung ausgearbeitete Entwurf eines allgemeinen Handelsgesetzbuches für Deutschland gelangte zwar wegen der Auflösung der Nationalversammlung nicht mehr zur Beschlussfassung, wurde aber in vielen Punkten zum Vorbild für die spätere Regelung dieser Frage im Deutschen Bund[16].

Vielleicht die auffallendste Initiative Mohls war das Gesetz zur Aufhebung der „Spielbanken“ (wie man damals Spielkasinos nannte). Es handelte sich um eine langjährige Forderung von Teilen der Linken, begründet mit ganz ähnlichen humanitären und volkswirtschaftlichen Überlegungen zum Schutz vor Ausbeutung der Spielsucht, wie sie noch heute Forderungen nach Beschränkung des Glücksspiels zugrunde liegen. Die Debatte über entsprechende Petitionen in der Nationalversammlung am 8. Januar 1849 hätte aber wohl zu keinem Ergebnis geführt, wenn nicht Mohl als einzig anwesender Minister aus einem – wie er selbst später einräumte – unüberlegten Impuls das Wort ergriffen und entschieden für eine Aufhebung gesprochen hätte. Der Aufforderung aus der Versammlung, einen Antrag einzubringen, kam er durch Niederschrift eines einzigen Satzes nach, auf dessen Grundlage noch in derselben Sitzung ein Gesetzesbeschluss erfolgte[17]. Die Bestürzung unter seinen Ministerkollegen war danach groß, denn von etlichen staatlichen Regierungen, die selbst aus dem Betrieb solcher Etablissements oder der Verpachtung von Konzessionen Gewinne bezogen, war Widerstand zu erwarten. Anstatt das Rücktrittsangebot Mohls anzunehmen, bedeutete man ihm allerdings, er habe nun für die Ausführung des Beschlusses selbst zu sorgen. Einigermaßen überraschend waren die Ergebnisse, denn es kam zu einem der wenigen unleugbaren Erfolge der Zentralgewalt bei der Durchsetzung von Beschlüssen der Nationalversammlung: Die meisten Staaten fügten sich dem neuen Gesetz, obzwar einige recht unverschämte Entschädigungsforderungen erhoben. Hartnäckig widersetzte sich allein das winzige Hessen-Homburg, das sich auf die Bad Homburger Spielbank existentiell angewiesen wähnte. Die Folge war die einzige von der Zentralgewalt vorgenommene Bundesexekution gegen einen renitenten Einzelstaat: Österreichische Truppen aus der Garnison der Bundesfestung Mainz wurden nach Homburg beordert und erzwangen die Einstellung des Spielbetriebs[18].

In der Schlussphase der Nationalversammlung nach der Ablehnung der Reichsverfassung durch Preußen trat der Gegensatz zwischen Mohl und seinen Kollegen wieder scharf zutage, da er entschiedener als diese dafür eintrat, dass die Zentralgewalt auf deren Durchsetzung auch gegen den Willen der größten deutschen Einzelregierung hinwirken sollte. Die Weigerung des Reichsverwesers verurteilte er heftig und brachte getrennt von den übrigen noch anwesenden Ministern, wenn auch nur wenige Tage vor ihnen, seine endgültige Demission ein[19]. Wie einige andere Mitglieder der Regierung suchte er danach zunächst die Abgeschiedenheit und verbrachte mit seiner Familie einige Monate auf einem Landsitz in Mehlem bei Bonn.

Ein gewisses Maß an Eigenwilligkeit spricht sowohl aus den Selbstdarstellungen Mohls als auch übereinstimmend aus den Einschätzungen seiner Person durch andere. Die von Schmerling gerügte „Rechthaberei“ mag freilich auch aus dem Grund wahrgenommen worden sein, weil die politischen Anschauungen beider Männer recht weit auseinanderlagen. Die höhere Wertung von prinzipiengeleitetem gegenüber taktisch kalkulierendem Handeln war immerhin dem erklärten Selbstverständnis fast aller politischen Akteure gerade im Revolutionsjahr gemeinsam; was aber bei geteilten Zielen als Standhaftigkeit oder Prinzipientreue honoriert wurde, konnte von Beobachtern mit weiter entferntem Standpunkt leicht als Phantasterei, Extravaganz oder eben „Rechthaberei“ abgewertet werden. Mohl zeigte immerhin auch ein ausgeprägtes Gefühl für Anpassung an sich verändernde Gegebenheiten, das ihm nicht zuletzt erlaubte, nach dem Ende der härtesten Reaktionsphase wieder in der badischen Politik aktiv zu werden und seine Wahlheimat in den 1860er Jahren sogar bei der Bundesversammlung zu vertreten. Nach der Reichsgründung wurde er noch in hohem Alter– durch das ihm selbst so suspekte allgemeine Männerwahlrecht – in den Reichstag gewählt und starb als Abgeordneter desselben 1875 in Berlin.

Mohl hinterließ einen überaus reichen schriftlichen Nachlass, von dem Teile bereits bald nach seinem Tod aufgrund einer testamentarischen Verfügung der Tübinger Universitätsbibliothek übergeben wurden. Ein weiterer größerer Bestand, die sogenannten „Moser-Mohl’schen Familienpapiere“, wurde in den 1920er Jahren von Mohls Sohn, dem Diplomaten Ottmar von Mohl, an die Württembergische Landesbibliothek verkauft. Heute verbergen sich hinter einer einzigen Handschriftensignatur (Cod. hist. 506) etliche Laufmeter Papiere, von denen der größte Teil aus Familienkorrespondenzen besteht. Über die Frankfurter Zeit Mohls geben vor allem seine Briefe an seine Frau Pauline, geborene Becher, in Heidelberg sowie an seinen Bruder, den in Paris lebenden Orientalisten Julius Mohl, wertvolle Aufschlüsse, weshalb einige dieser Stücke auch in unsere Protokolledition als ergänzende Quellen Eingang finden werden. Die Briefe waren offenbar fast vollständig aufgehoben, familienintern sorgsam verwahrt und genauestens sortiert worden – die in die hunderte gehenden Schreiben an Pauline Mohl sind etwa gruppenweise in Bogen mit der Beschriftung „Papa an Mama“ und der Angabe des jeweiligen Anlasses der vorübergehenden Trennung der Eheleute eingeschlagen. So findet sich zwischen diversen Bildungs- und Forschungsreisen Mohls eben auch seine Frankfurter Parlaments- und Ministeriumszeit hier eingereiht.

[1] BEST, Heinrich: Die Männer von Bildung und Besitz. Struktur und Handeln parlamentarischer Führungsgruppen in Deutschland und Frankreich 1848/49 (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien 90), Düsseldorf 1990, 59.

[2] Vgl. etwa ENGEHAUSEN, Frank – KOHNLE, Armin (Hrsg.): Gelehrte in der Revolution. Heidelberger Abgeordnete in der deutschen Nationalversammlung 1848/49. Georg Gottfried Gervinus – Robert von Mohl – Gustav Höfken – Karl Mittermeier – Karl Theodor Welcker – Karl Hagen – Christian Kapp, Ubstadt-Weiher 1998.

[3] Die maßgebliche Darstellung zu Leben und Werk ist weiterhin die Biographie von ANGERMANN, Erich: Robert von Mohl 1799–1875. Leben und Werk eines altliberalen Staatsgelehrten (Politica. Abhandlungen und Texte zur politischen Wissenschaft 8), Neuwied 1962. Seinen Aktivitäten in der Revolution 1848/49 wird darin jedoch verhältnismäßig wenig Raum gewidmet.

[4] Vgl. NORDBLOM, Pia: Robert von Mohl, in: ENGEHAUSEN – KOHNLE (Hrsg.), Gelehrte, 41–67, hier 41.

[5] MOHL, Robert von: Das Staatsrecht des Königreiches Württemberg, 2 Bde., Tübingen, 2. Auflage 1840, Bd. 1, 534. In der ersten Auflage 1829 findet sich die Passage nicht. – Vgl. URBAN, Nikolaus: Robert von Mohl: Konstitutionelle Monarchie, Repräsentativsystem und Staatswissenschaften, in: FREITAG, Sabine (Hrsg.): Die Achtundvierziger. Lebensbilder aus der deutschen Revolution 1848/49, München 1998, 113–125, 316–318, hier 116f.

[6] STÖCKER, Birgit: Die Gemeinwohltheorie Robert von Mohls als ein früher Ansatz des sozialen Rechtsstaatsprinzips (tuduv-Studien – Reihe Politikwissenschaften 53), München 1992.

[7] MANN, Bernhard: Reichsminister Robert von Mohl und seine Wähler 1848/49. Neunzehn Briefe aus der deutschen Nationalversammlung, in: Zeitschrift für Württembergische Landesgeschichte 30 (1971) 327–381, hier 328.

[8] MOHL, Staatsrecht, Bd. 1, 534.

[9] ANGERMANN, Erich: Republikanismus, amerikanisches Vorbild und soziale Frage 1848. Eine unveröffentlichte Flugschrift Robert Mohls, in: Die Welt als Geschichte. Eine Zeitschrift für Universalgeschichte 21 (1961) 185–193.

[10] Vgl. seine diesbezüglichen Ausführungen in MOHL, Robert von: Staatsrecht, Völkerrecht und Politik, Bd. 3, Tübingen 1869, 715–724; Wiederabdruck bei BEYME, Klaus von (Hrsg.): Robert von Mohl. Politische Schriften. Eine Auswahl (Klassiker der Politik 3), Köln – Opladen 1966, 265–275. Das Zitat ebd. 265.

[11] Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien, Nachlass Bienerth-Schmerling, Denkwürdigkeiten Kt. 3, Fasz. 1, fol. 30r–v. Das nicht viel vorteilhaftere Urteil Mohls über Schmerling ist nachzulesen in seinen Erinnerungen: KERLER, Dietrich (Hrsg.): Lebens-Erinnerungen von Robert von Mohl 1799–1875, 2 Bde., Stuttgart – Leipzig 1902; Bd. 2, 81–83.

[12] Offener Brief an seine Wähler vom 9. August 1848, abgedruckt bei MANN, Mohl, 340f.

[13] Württembergische Landesbibliothek Stuttgart, Cod. hist. 4o 506/III, Fasz. 20b, Nr. 5, Robert von Mohl an seinen Bruder Julius Mohl, 9. August 1848.

[14] Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien, Nachlass Bienerth-Schmerling, Denkwürdigkeiten Kt. 3, Fasz. 1, fol. 25r.

[15] KERLER (Hrsg.), Lebens-Erinnerungen Mohl, Bd. 2, 94.

[16] BAUMS, Theodor (Hrsg.): Entwurf eines allgemeinen Handelsgesetzbuches für Deutschland (1848/49). Text und Materialien (Abhandlungen aus dem gesamten Bürgerlichen Recht, Handelsrecht und Wirtschaftsrecht. Beihefte der Zeitschrift für das gesamte Handelsrecht und Wirtschaftsrecht 54), Heidelberg 1982.

[17] Franz WIGARD (Hrsg.), Stenographischer Bericht über die Verhandlungen der deutschen constituirenden Nationalversammlung zu Frankfurt am Main, Bd. 6, Frankfurt am Main 1849, 4480–4493; vgl. die eigene Darstellung Mohls bei KERLER (Hrsg.), Lebens-Erinnerungen Mohl, Bd. 2, 96f.

[18] Freilich erst im zweiten Anlauf. Zunächst war es den Spielpächtern durch eine Einladung an die Offiziere noch gelungen, die Exekutionstruppen von der Ausführung ihrer Befehle abzubringen; dies rief allerdings den Reichsverweser persönlich auf den Plan, der im Sinne seiner paternalistischen Vorstellungen von Sozialpolitik die Schließung befürwortete. Auf seinen scharfen Verweis hin kamen die Offiziere der fraglichen Einheiten schließlich ihrem Auftrag nach.

[19] Württembergische Landesbibliothek Stuttgart, Cod. hist. 4o 506/III, Fasz. 16b, Nr. 2b: Entwurf eines Rücktrittsschreibens, datiert 14. Mai 1849.

Quelle: http://achtundvierzig.hypotheses.org/160

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So what was the “Provisional Central Power” – and why should anyone take an interest?

Protokoll der 180. Sitzung des Gesamtreichsministeriums

Minutes of the 180th session of the cabinet of the Provisional Central Power. November 19, 1849

While this blog is – and will remain – predominantly in German, it may be helpful to potential readers from other countries to provide an English-language version of our project’s mission statement, as previously published in German in this post:

When revolutions are over, the aspects most likely to be remembered are those that contrast most starkly with everyday political life: barricades and fighting in the streets. This is certainly true for the Revolutions of 1848–49 in the collective memory of the German public. There is also some awareness that the revolution eventually led to the election of a National Assembly, which convened at Frankfurt. The installation of a provisional executive branch for the as yet nonexistent “German Empire”, however, is a different story: there is more or less no memory of this first parliamentary government for  Germany in its entirety. Very few are aware that an Austrian archduke, granted the title of “Imperial Regent”, presided over this “Provisional Central Power” for roughly one and a half years, and was thus the first head of a German national government to have been appointed by an elected parliament.

In founding the “Provisional Central Power”, the moderate revolutionary movement incarnated by the Frankfurt National Assembly was attempting to assert its position with respect to the existing governmental power of the more than 30 German states organised in the German Confederation. The Assembly’s claim to the right to do so was based squarely on the doctrine of popular sovereignty, whereas none of the various kingdoms and principalities had moved beyond a liberal constitutionalism that recognised the hereditary right of the legitimate monarch as existing independently of any popular claim to participation.

Besides the Imperial Regent, Archduke John, the Provisional Central Power consisted of an “Imperial Cabinet” with a Prime Minister, ministers leading half a dozen departments, and undersecretaries to assist them. This organisation was modelled on the ministerial governments present in many of the larger German states, and was intended to engage in similar activities. Notably, the Central Power published the “Imperial Laws” passed by the National Assembly and attempted, with varying success, to see to it that they were accepted and enforced by the individual states. It laid claim to leadership in joint military operations, especially the conduct of the war against Denmark over the status of Schleswig and Holstein. By dispatching “Imperial Commissioners” and occasionally by mandating military actions, it intervened to contain revolutionary insurrections in multiple states between September 1848 and May–June 1849. It was charged with the creation of the first German navy, a project which initially stimulated widespread nationalist enthusiasm. Last but not least, it made every effort to mediate the escalating disagreement between the Assembly and the state governments over the acceptance of the German Constitution enacted by the former. In all of these tasks, however, it was hampered at every step by its lack of any sort of administrative apparatus, by its very limited sources of real bargaining power – especially when faced with the two crucial German powers, Prussia and Austria –, and by the refusal of diplomatic recognition from nearly all other European governments. After the gradual dissolution of the Frankfurt Assembly in the spring of 1849, the Provisional Central Power remained in existence until the end of the year and, despite its sorely limited means, played a significant role in the power struggle between Prussia, Austria and the smaller German kingdoms over the constitutional framework for a future German national state.

Archduke John of Austria as Imperial Regent of Germany. Lithograph by J. Kriehuber, 1848

Both the secretariat of the cabinet and the offices of the individual ministries – Foreign Affairs, Interior, Justice, War, Finances, Trade and, eventually, Navy – rapidly devised their own record-keeping procedures. After the dissolution of the Provisional Central Power in December 1849, its archives were handed over to its successor institution, the Federal Central Commission. They were subsequently integrated into the archives of the Federal Assembly (the deliberative body of the reinstated German Confederation); when this in turn was suppressed in 1866, the records entered the Frankfurt Municipal Library, in whose care they remained until the creation in 1925 of a Frankfurt branch of the Imperial Archives (later the Federal Archives of the post-World War II Federal Republic). After the reunification of 1991, this branch was given up and its holdings were transferred first to Koblenz, then in 2010 to the Federal Archives in Berlin. The archives of the Provisional Central Power, totalling some 25 metres of shelf space, are remarkably well preserved and complete despite all these vagaries. In the period after World War II, difficult archival work was undertaken in order to restore them as far as possible to their original order, as set out in the filing instructions of the various ministries. Detailed inventories are a product of this process. Microfilms of the entire archives were made some years ago.

Until 1945, these sources had been almost completely ignored by academic historians. They have since been used somewhat more often, but their potential is far from being exhausted. Notably, there has been no publication of the minutes of the cabinet, while editions of this type have been in progress for decades for the governments of the major German states. Our project aims to close this gap, and thereby not only to cast new light on the role of a hitherto underestimated agency within the revolutionary sequence of events, but also to apply recent approaches from the political and social sciences, and especially a culturalist perspective, to Germany’s first parliamentary government and the ways in which it functioned (or failed to do so). That the Provisional Central Power was called upon to create the institutional infrastructure for its governmental activity more or less out of nothingness – by founding new administrative offices, recruiting personnel and obtaining financial means – provides a highly unusual perspective on the history of the growth of state institutions and bureaucracy, one of the great secular processes of the 19th century.

The goal of our undertaking is to publish the minutes of the 185 sessions of the Central Power’s cabinet in full, and to use them as the backbone of a collection of further documents from the archives of the Provisional Central Power chosen to best illustrate the scope of its activity, the difficulties it faced, and the expedients by which it attempted to surmount them. These additional materials will be presented in the form of summaries of their content. Beyond this, given that administrative documents usually do not record the political background of decisions or the atmosphere within an institution, extracts from the personal papers, letters and memoirs of the members of the cabinet will be incorporated into our publication to supplement the official records. Detailed indexes will facilitate use of the book by researchers and other readers with a variety of different interests. Our particular attention is focussed on the following four topics:

1. The Provisional Central Power’s relationships with the National Assembly on the one hand, and with the governments of the German states on the other hand; its means, methods, and degree of success in asserting itself with respect to either of these.

2. The tension, in the legal framework and the governmental reality of the Central Power, between traditional monarchical constitutionalism and parliamentary government based on popular sovereignty.

3. The institutional and administrative history of the Central Power, with particular attention to its unique challenges in rapidly creating governmental infrastructure.

4. The self-perceptions, motives, decisional processes, and emotional experiences of the members of the cabinet, seen from the perspective of a cultural history of politics; as well as their communicative and performative strategies for representing their activity to various audiences.

Text by Karsten Ruppert and Thomas Stockinger. English translation by Thomas Stockinger.

 

Quelle: http://achtundvierzig.hypotheses.org/155

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Die Nachlässe der Minister, oder: Was haben Memoiren in einer Aktenedition zu suchen?

Wie bereits berichtet, ist der Kernbestand der von uns geplanten Edition  die 185 Sitzungsprotokolle des Gesamtreichsministeriums und die Beilagen dazu  inzwischen vollständig transkribiert beziehungsweise regestiert. Die weitere Arbeit konzentriert sich einerseits auf Sachkommentare zu diesem Material, andererseits auf die Ermittlung weiterer, nicht unmittelbar beiliegender Bezugsakten aus den nunmehr digitalisierten Beständen der Ministerien.

Anton von Schmerling legte in hohem Alter nach seinem Ausscheiden aus der aktiven (österreichischen) Politik umfangreiche “Denkwürdigkeiten” an, die heute als Manuskript im Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchiv verwahrt werden.

Daneben ist aber für die kommenden Monate noch eine weitere Reihe von Demarchen geplant. In einer erklecklichen Zahl von Bibliotheken und Archiven, über weite Teile Deutschlands (und Österreichs) verstreut, soll in Nachlässe der Minister und Unterstaatssekretäre der Provisorischen Zentralgewalt Einsicht genommen werden. Recherchen im Laufe des vergangenen Jahres haben ergeben, daß es zu mehr als der Hälfte der Regierungsmitglieder in größerem oder geringerem Umfang handschriftliches Material gibt. Besonders reichhaltig sind der Nachlass des Justizministers Robert von Mohl in Tübingen und Stuttgart  allein seine gesammelten Briefwechsel füllen 20 Bände , die Familienpapiere Gagern in Darmstadt, der Nachlass des Außen- und Marineministers August Jochmus in München sowie jener des Vorsitzenden des Ministerrats im Herbst 1848, Anton von Schmerling, in Wien. (Warum die aufeinander folgenden Leiter des Reichsministeriums manchmal Premierminister hießen und manchmal nicht, wäre eine eigene Geschichte.) Substantielle Bestände gibt es aber auch an etwas abgelegeneren Orten, etwa im Stadtarchiv Krefeld zum Finanzminister Hermann von Beckerath oder im Leiningenschen Schlossarchiv zu Amorbach zum ersten deutschen Premierminister, Karl zu Leiningen. Die fortschreitende Erschließung von Nachlässen und Autographen durch überlokale Datenbanken (genannt seien vor allem die ZDN sowie der Autographenkatalog KALLIOPE) hat außerdem erlaubt, kleinere Reste und Einzelstücke an einer Vielzahl von Standorten zu lokalisieren, die freilich gar nicht alle bereist werden können.

Andererseits sind auch Lücken festgestellt worden; von manchen Persönlichkeiten scheint überhaupt kein oder kein nennenswerter Nachlass jemals bekannt gewesen zu sein, so etwa von den beiden letzten Vorsitzenden Grävell und Sayn-Wittgenstein-Berleburg. In anderen Fällen sind Papiere, die im späten 19. oder frühen 20. Jahrhundert in Familienbesitz nachweisbar sind, heute unbekannten Verbleibs, etwa die in mehreren Arbeiten vor dem Zweiten Weltkrieg noch herangezogenen Materialien aus dem Besitz des letzten Justizministers Johann Hermann Detmold. Der umfangreiche Nachlass des kurzzeitigen Unterstaatssekretärs im Handelsministerium, Gustav Mevissen (der als Unternehmer und als Kölner Lokalpolitiker weit bekannter ist), ist dem Einsturz des Historischen Archivs der Stadt Köln zum Opfer gefallen und auf absehbare Zeit nicht zu benutzen; und vom Grazer Nachlass des Erzherzog-Reichsverwesers selbst sind erhebliche Teile im Zweiten Weltkrieg zerstört worden.

Was aber wollen wir mit diesen Quellen? Ihre Einbeziehung in eine Aktenedition ist ausgesprochen ungewöhnlich. Dahinter steht vor allem die folgende Überlegung: Die Protokolle selbst sind in aller Regel sehr lapidar formuliert. Zu vielen Punkten liest man dort Formulierungen in der Art von: Das Reichsministerium des Krieges legt den in dessen Akten unter Numero 1628 eingetragenen Bericht des Reichs-Commißärs Stedmann vom 21ten dieses Monats und die demzufolge für den Befehlshaber der Reichstruppen in Schleßwig-Holstein, Generalmajor von Bonin, entworfene – unter Numero 756 vom 29ten dieses Monats ausgefertigte Instruktion vor. Es wird beschlossen: letztere zu genehmigen (73. Sitzung vom 27. Dezember 1848, § 8). Zum Inhalt der erwähnten Dokumente erfährt man hier nichts oder fast nichts, in einzelnen Fällen werden nicht einmal Betreffe genannt; viel weniger kommen Diskussionen oder Begründungen für die Entscheidungen zur Sprache. Allenfalls wird zu einem Beschluss erwähnt, er sei nach stattgehabter Erörterung gefallen. Diese lakonische Kürze ist durchaus nicht ungewöhnlich; von Protokollen als Quellengattung darf grundsätzlich nicht erwartet werden, dass sie etwas anderes als die rechtlich relevanten Aspekte eines Vorgangs festhalten, in diesem Fall eben die Beschlüsse. Der Umstand unterscheidet die Protokolle des Reichsministeriums aber doch von einzelnen ähnlichen Quellen derselben Zeit, namentlich von den Wiener Ministerratsprotokollen, in denen regelmäßig auch von den Ministern vorgebrachte Standpunkte und Argumente wiedergegeben werden. (Dies rechtfertigt im Falle der österreichischen Protokolle für sich bereits den Grundsatz der Edition im Volltext, auch wenn er angesichts des Umfangs des Bestandes an der langen Bearbeitungsdauer und dem gewaltigen Umfang der Edition einen gewichtigen Anteil hat.)

Die Aufarbeitung der Beilagen und sonstigen Bezugsakten sowie die Verwertung von Sekundärliteratur in den Sachkommentaren sind natürlich die Mittel erster Wahl, um die Kürze der Protokolle auszugleichen und den Benutzerinnen und Benutzern unserer Edition die unausgesprochenen Zusammenhänge zu erschließen. Manches aber, zumal Atmosphärisches, steht in aktenförmigem Schriftgut nirgends. Daher kommt die Idee, dass es einerseits wünschenswert, andererseits aber angesichts des überschaubaren Gesamtumfangs des zu bearbeitenden Materials auch hinsichtlich des Aufwands vertretbar ist, Quellen anderer Art ergänzend hinzuzuziehen. Zeitnahe Briefe oder persönliche Aufzeichnungen einerseits, später niedergeschriebene Erinnerungen andererseits erscheinen dazu gerade wegen der ganz anders als bei Akten gelagerten Berichts- und Selbstdarstellungsabsichten, die in ihnen wirksam sind, als besonders interessante Texte. Dass die Anlage und auch die Aufbewahrung solcher Schriften, welche die neuere Quellenkunde im Bereich der Selbstzeugnisse oder „Ego-Dokumente“ verortet, bei bürgerlichen wie adeligen Akteuren des öffentlichen Lebens im 19. Jahrhundert besonders verbreitet war, kommt unseren Absichten zustatten; im Übrigen auch insofern, als erhebliche Mengen derartiger Quellen bereits in publizierter Form vorliegen. Die Durchsicht dieser Veröffentlichungen und die Anbringung von Verweisen ist daher Teil der Kommentierung der Akten; zusätzlich sollen aber bisher ungedruckte Stücke ediert werden, wo sie von besonderem Wert für die Anliegen unseres Forschungsvorhabens sind.

Klar sein muss dabei, gerade angesichts des Umfangs des potentiell verwertbaren Materials dieser Art, dass es sich nur um eine Auswahl handeln kann. Die Protokolledition und der Nachweis der Bezugsakten sind und bleiben das Pflichtprogramm unserer Edition, die Ergänzung aus Selbstzeugnissen der Beteiligten gleichsam die Kür. Ein Vollständigkeitsanspruch, wie er hinsichtlich des ersteren Punktes selbstverständlich einzuhalten ist, kann hinsichtlich des zweiten nicht eingelöst und soll daher gar nicht erhoben werden: Dazu müssten wohl sämtliche Abgeordnete, Reichsgesandte, Reichskommissare, aber auch die Minister der einzelstaatlichen Regierungen, mit denen die Zentralgewalt verkehrte, einbezogen werden, darüber hinaus aber auch noch andere Zeugen und Zeuginnen, die in welcher Kapazität auch immer als Journalisten, als Beamte oder Militärs, als Ehefrauen von Politikern Einblick in das Geschehen hatten. Eine erste wesentliche Beschränkung betrifft daher den Personenkreis: Die handschriftlichen Nachlässe werden nur für die Mitglieder des Reichsministeriums, also Minister und Unterstaatssekretäre, aufgesucht. Auch aus ihnen kann aber gewiss nicht jede Stelle, die in irgendeiner Weise für die Tätigkeit der Zentralgewalt relevant und bisher ungedruckt ist, von uns veröffentlicht werden. Es ist daher eine Auswahl zu treffen, die sich an der Relevanz für die Leitfragen unseres Projekts orientiert.

Was dabei im Einzelnen herauskommen wird, ist aber jetzt noch nicht zu sagen. Da es ja gerade darum geht, bisher Unveröffentlichtes zu finden, wissen wir noch nicht, was der Blick in die Nachlässe liefern wird. Mit dem Schmerling-Nachlass hat vor kurzem dieser Arbeitsgang begonnen, Anfang März sind dann bereits die Mohlschen Papiere an der Reihe. Was sich dabei ergibt, wird an dieser Stelle zu erfahren sein, bevor es dann in den Editionsband Eingang findet.

Quelle: http://achtundvierzig.hypotheses.org/128

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