Social Tagging bei ARTigo: Welche Tags stehen in Zusammenhang mit “Klassizismus”, welche mit “Expressionismus”?

Scherz-Expressionismus-ImpressionismusIch bin gerade dabei, die ARTigo-Datenbank auf Epochen hin zu analysieren. In einem ersten Schritt möchte ich feststellen, welche von den Spielern eingegebenen Begriffe, also welche Tags, mit dem Begriff „Klassizismus“ und welche mit dem Begriff „Expressionismus“ korrelieren, d.h. welche Begriffe dazu im Zusammenhang stehen.

Folgende Vorgehensweise ist hierzu nötig:

  1. Erstellung von Abfragen auf die ARTigo-Datenbank, in welcher die Bilder mit allen Taggings (nicht nur die gematchten Tags, nein alles, also auch jeder Quatsch der eingegeben wurde) selektiert werden. Das mache ich mit Access. Für die Epoche des Klassizismus habe ich den Entstehungszeitpunkt der Bilder auf 1770 bis 1830 begrenzt, für die Epoche des Expressionismus auf 1900 bis 1920.
  2. Export der Daten in jeweils eine csv-Datei für Expressionismus (250.064 Datensätze) und eine csv-Datei für Klassizismus (527.440 Datensätze) .
  3. Für die weitere Verarbeitung der Daten in R mit dem TM-Package (Textmining) benötige ich mehrere Dateien. Die Aufgabe, die großen aus Access exportierten Dateien aufzuteilen, erledigt ein Script. Als Gruppierungsmerkmal habe ich das Entstehungsjahr der Bilder gesetzt. D.h. pro verschiedenen Zeitbereich wird eine Datei erzeugt. Somit wurden aus der Expressionismus-Datei 203 und aus der Klassizismus-Datei 616 kleinere Dateien erzeugt. Es entsteht deshalb pro Jahr nicht eine Datei, weil der Entstehungszeitpunkt von Bildern verschiedene Formate aufweist, z.B. 1770 oder 1770/1777 oder 1770/1775 etc..  Jeder verschiedene Zeitbereich ergibt eine neue Datei.
  4. Danach werden die Daten in R eingelesen. Zunächst die 203 Expressionismus-Dateien. Ich lasse eine Dokument-Term-Matrix erstellen und wende zunächst den Befehl removeSparseTerms an. Er schmeißt Begriffe, die nicht häufig vorkommen, raus (an dieser Stelle wird möglicher Quatsch entfernt, allerdings auch Fachbegriffe, die sich im Long Tail befinden). Beispiel:
    von 45.310 Begriffen bleiben nach Verwendung des Befehls removeSparseTerms(dtm, 0.99) noch 6.411 übrig.
    Würde ich einen anderen Wert eingeben, z.B. removeSparseTerms(dtm, 0.8) blieben noch 385 Begriffe übrig.
  5. Dann lasse ich mir anzeigen, mit welchen Begriffen das Tag „Expressionismus“ korreliert. Also welche anderen Begriffe kommen im Zusammenhang mit dem Begriff „Expressionismus“ vor? Je größer der Wert (z.B. 0.98 sh. Tabelle unten, desto eher kommen diese beiden Begriffe im Zusammenhang vor).
    Der Befehl hierzu lautet findAssocs(dtm, “expressionismus”, 0.8). Der Wert 0.8 gibt die Korrelation an (1 ist der höchste Wert, bei 0 gibt es keine Korrelation). Setzt man den Wert höher an, korrelieren weniger Begriffe miteinander und die Liste ist kürzer. Das Ergebnis für „Expressionismus“ sieht folgendermaßen aus:
    findAssocs(dtm,“expressionismus“, 8.0) ergibt eine Menge von 350 korrelierenden Begriffen (ich liste hier nur die ersten 30 Begriffe auf, die vollständige Liste sh. anhängendes PDF):

Bewegung 0,98
bunt      0,98
tier         0,97
farbe     0,96
farben  0,96
tiere      0,96
auge      0,95
kopf      0,95
mensch 0,95
orange 0,95
rot          0,95
striche  0,95
wild       0,95
aquarell 0,94
beine    0,94
blau       0,94
blauer   0,94
gelb       0,94
grün      0,94
hund     0,94
moderne 0,94
pferd    0,94
reiter    0,94
rosa       0,94
studie   0,94
violett   0,94
expressionistisch 0,93
farbig    0,93
franz     0,93

Dann wiederhole ich die Schritte 4 und 5 für die Epoche des Klassizismus. Das Ergebnis von findAssocs (dtm, „klassizismus“, 0.6) ergibt eine Menge von 170 korrelierenden Begriffen. Hierbei ist zu beachten, dass die Datenbasis zwar größer ist, aber wesentlich weniger Begriffe hoch korrelieren. Deshalb habe ich hier einen Wert von 0.6 eingegeben. Damit gebe ich an, dass auch Begriffe mit einer geringeren Korrelation ausgegeben werden. Trotzdem erhalte ich als Ergebnis eine geringere Menge höher korrelierender Begriffe als zuvor bei den Expressionismus-Daten.

Auch hier sind nur die ersten 30 Begriffe angegeben, die vollständige Liste ist als PDF angefügt:

antike   0,8
säule     0,8
tempel 0,79
sockel   0,77
architektur 0,76
schloss 0,76
antik      0,75
gebäude 0,75
grau       0,74
licht       0,74
säulen  0,74
schatten 0,74
weiß      0,74
bogen   0,73
fries       0,72
hell        0,72
klassik   0,72
mann    0,72
mauer  0,72
schwarz 0,72
wand    0,72
ansicht 0,71
eingang               0,71
haus      0,71
renaissance  0,71
rom       0,71
stein      0,71
tor          0,71
braun    0,7

Aufgrund der auffällig größeren Anzahl von höheren Korrelationen bei einer kleineren Anzahl von Daten scheint der Expressionismus für Spieler im Vergleich zum Klassizismus besser erkennbar, bzw. charakteristischer. Das würde ich zumindest so deuten. Was meinen Sie? Was fällt Ihnen auf?

Insgesamt ist der Ansatz, den ich hier vorstelle, diskussionsbedürftig. Über Hinweise und Anregungen freue ich mich.

Expressionismus.pdf

Klassizismus.pdf

 

 

Quelle: http://games.hypotheses.org/1146

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Hinweis: Völkerschlacht cross-medial

In dieser Woche gab es zahlreiche Hinweise auf ein Cross-Media-Projekt des MDR zum 200. Jahrestag der “Völkerschlacht bei Leipzig” (16.-19. Oktober 1813). Vier Tage lang soll die Geschichte der Schlacht in Form einer Live-Berichterstattung in Fernsehen, Radio, Socialmedia-Kanälen, Blogs und einem eigenen Nachrichtenportal auf der Homepage des MDR journalistisch aufbereitet werden. Daran beteiligt sind zahlreiche bekannte ARD-Mitarbeiter: u.a. Ingo Zamperoni, Anja Kohl, Rolf Seelmann-Eggebert.

http://www.mdr.de/mdr-info/Voelkerschlacht-Serie-Juli112.html

 

Quelle: http://zwopktnull.hypotheses.org/68

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Expertendämmerung

Neulich früh stand das Politische Feuilleton im Deutschlandradio Kultur unter der Überschrift „Warum die Gesellschaft heute ohne Vorbilder auszukommen scheint“. Der Beitrag war interessant, wenngleich man dem trauernden Unterton („früher war alles besser“) nicht unbedingt gern folgt und wenngleich ich an der implizit diagnostizierten demokratiegefährdenden Wirkung einer allgemein sinkenden Vorbildaffinität zweifle.

„Vorbild“ und „Experte“ liegen nahe beieinander. Eine Gesellschaft, die sich nicht auf gemeinsame Vorbilder einigt und diese nicht durch gemeinschaftliche Aufmerksamkeit pflegt und erhält, entzieht auch der „Expertenmeinung“ das Vertrauen: Unsere Gesellschaft lasse „keine Überlebensgröße mehr zu“, hieß es im Radio. Ausdrücklich schreibe ich dies beobachtend und bar jeder Wertung, was vielleicht per se bereits wieder symptomatisch ist, ist doch das mosaikhafte Nebeneinanderstellen unterschiedlicher fragmenthafter Sichtweisen Basis und Kennzeichen der Entwicklung.

Jetzt kommt, aufgepasst, der Dreh zum RKB-Blog. Während der RKB-Konferenz sprach Gudrun Gersmann von der „Expertendämmerung“ im Zusammenhang mit dem (notwendigen) Wandel des Rezensionssystems. Christian Gries schrieb im Tagungsbericht: „Vor der These von Blogs und Tweets als aufmerksamkeitsgenerierenden Instrumenten konstatierte sie einen Expertenschwund und stellte die Frage, ob der traditionelle “Experte” überhaupt noch eine Figur der Zukunft sei“. Fragmentisierung als Tendenz der Zeit und Schlüsselwort der Zukunft? Vielleicht ja, ob man sie nun als Ausdruck wachsender Demokratisierung oder steigenden Selbstbewusstseins des Einzelnen deuten möchte, denn immerhin bleibt die Deutungs- bzw. Wertungshoheit in der Mosaiklandschaft ganz bewusst dem Einzelnen überlassen, oder zumindest den spezifischen Communities, in die der Einzelne sich notwendigerweise einbindet, weil er allein der Daten- und Meinungsmasse hilflos gegenüberstehen würde (s.u. zum Filter). Die Fragmentisierung bringt  „die Crowd“ als Phänomen – oder Phantom – untrennbar mit.

Das wachsende Selbstbewusstsein, mit dem das Individuum diesen Prozess bereichert (durch das Zutun seines eigenen Meinungsmosaiksteins) und abschließt (durch die Wertung vorhandener Fragmente) lässt gar keine Alternative zur sinkenden Wertigkeit von Vorbildern und Experten. Der (wissenschaftliche) Experte wird häufig aufgrund seiner Laufbahn oder seines Titels als solcher betrachtet – oder, um erneut die Brücke zum Rezensionswesen zu schlagen: Ihm wird die Rundumbeurteilung eines Buchs zugetraut, dessen Einzelaspekte möglicherweise besser und objektiver von mehreren oder vielen (fragmenthaft) Kommentierenden eingeschätzt werden könnten, wobei deren jeweilige Position und die Quelle ihrer Kompetenz immer weniger wichtiger wird, je kleinteiliger sich der Prozess darstellt. Vielleicht.

Dazu erschien neulich ein höchst lesenswertes Interview in der SZ (Feuilleton, 16. Juli 2013) mit David Weinberger, dessen Überschrift und Untertitel schon viel verraten: „Wer mit Ausbildung argumentiert, macht sich lächerlich. (…) Alternativen zum klassischen Expertentum“. Der Wandel funktioniert eben nur dann, wenn man unbegrenztem Platz und unbegrenzter Meinungsäußerung – im Sinne eines unendlich großen Mosaiks – mit einer Filter- und „Empfehlungskultur“ begegnet, wie Weinberger sagt. Dem Interviewer, der seine gerade im deutschsprachigen Raum so weit verbreiteten Sorge nur schlecht überspielt, diese Umbrüche bedeuteten den Untergang des Abendlands, hält er schlagfertig entgegen: „Sie müssen ein ziemlich einsames Leben da im Internet führen“.

Das alles wirkt, als sei die Entwicklung als ein Demokratiegewinn zu verstehen. Orientierung am Inhalt statt an Meriten und Machtinsignien.

Gibt es gute Gründe, um Sieglinde Geisel, der Autorin des eingangs benannten Politischen Feuilletons, in ihrer Meinung zu folgen, dass der Verlust von Vorbildern tendenziell demokratiegefährdend sei? Stifte(te)n Vorbilder, die wir derzeit reihenweise stürzen und verblassen sehen, tatsächlich Gemeinschaft durch ihre „Gravitationskraft“ – die in der Netzkultur kein Äquivalent findet? Wenn ja: Ist der Verlust von Experten analog auch wissenschaftsgefährdend? Verliert eine wissenschaftliche Diskussion an Wert, wenn sie – positiv formuliert – „auf Augenhöhe“ stattfindet? Das Netz stellt die Augenhöhe per Anonymität her. Erstaunlich, wie hoch der Reputationsunterschied beider Begriffe ist.

Quelle: http://rkb.hypotheses.org/554

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Wissenschaftlicher Nachwuchs in den Digital Humanities: Ein Manifest

YesWeDigital

Die Sozial- und Geisteswissenschaften sind ein zentraler Bestandteil unserer Kultur. Sie bieten einen analytischen Einblick in die Welt, in der wir leben. Die Digital Humanities reflektieren den Übergang der Geisteswissenschaften ins digitale Zeitalter. Sie schaffen nicht nur neue technische Werkzeuge, sondern eröffnen auch neue Wege, Wissen zu generieren und zu verbreiten, und dies sowohl innerhalb der einzelnen akademischen Disziplinen als auch über diese Grenzen hinaus.

Die Digital Humanities verbinden Praxisnähe, Reflexivität und kollaboratives Erarbeiten von Standards. Sie bieten eine hervorragende Grundlage, die Geisteswissenschaften mithilfe neuer Materialien, Methoden und hermeneutischen Ansätzen zu überdenken und zu erweitern. Freier Zugang auf unser kulturelles Erbe und kollaborative Projekte, die auch nicht-akademische Zielgruppen erreichen, erlauben eine Neudefinition unseres Verhältnisses zur Gesellschaft. Wir sehen die Digital Humanities daher als Scharnierstelle für die Zukunft der Geisteswissenschaften.

Vor drei Jahren nahmen über 100 Mitglieder der wachsenden DH-Community am THATCamp Paris 2010 teil. Um ihre Anerkennung gegenüber diesem neuen Wissenschaftsbereich Ausdruck zu verleihen, verfassten sie gemeinsam das erste europäische Manifest der Digital Humanities. Der anschließende Zuwachs an beteiligten Personen und Vorhaben trug dazu bei, diesem Arbeitsfeld eine größere Sichtbarkeit zu verleihen.

Dennoch  hat sich die institutionellen und traditionellen Strukturen unterworfene akademische Welt mit ihren Institutionen, Akteuren und Praktiken nicht in der gleichen Geschwindigkeit entwickelt. Auf der einen Seite entstehen neue Forschungsmethoden: vernetzt, kollektiv, horizontal, multimodal, pluridisziplinär und mehrsprachig. Akteure der Digital Humanities sind mit neuen Aufgaben und Arbeitsstellungen konfrontiert: Sie erstellen Datenbanken, entwickeln Softwares, analysieren umfangreiche Datensätze, definieren Begrifflichkeiten und Modelle, arbeiten über Wikis und Pads zusammen, kommunizieren via Websites, Blogs und anderen sozialen Medien. Auf der anderen Seite leisten Forschungseinrichtungen einen gewissen Widerstand gegen diese Veränderungen oder behindern sie sogar: Fortbildungen, Förderstrukturen, Bewertungskriterien, Auswahlprozesse und Karrierewege haben sich nur geringfügig verändert und scheinen nicht in der Lage zu sein, aus dem entstehenden digitalen Ökosystem Nutzen zu ziehen.

Die wachsende Lücke zwischen der florierenden digitalen Praxis und ihrer institutionellen Anerkennung gefährdet die akademische Gemeinschaft als Ganzes. Insbesondere aber leidet der wissenschaftliche Nachwuchs darunter, denn die gegenwärtige Situation bringt ein hohes Maß an Unsicherheit in die Planung der eigenen wissenschaftlichen Zukunft.

Am 10. und 11. Juni 2013 trafen sich Forscher/innen und andere Mitglieder der akademischen Gemeinschaft am Deutschen Historischen Institut in Paris, um an der internationalen Konferenz “Forschungsbedingungen und Digital Humanities: Welche Perspektiven hat der Nachwuchs?“ teilzunehmen. Der Konferenz war ein offener Aufruf zur Blogparade vorausgegangen, in dessen Rahmen online Beiträge publiziert wurden, um die Konferenz gemeinsam und öffentlich vorzubereiten.

Das vorliegende Manifest ist das Ergebnis dieses Arbeitsprozesses. Es betont die wichtigsten Aspekte der Herausforderungen, denen wir uns stellen müssen und benennt die dringendsten institutionellen Erfordernisse.

I. Allgemeines

Der wissenschaftliche Nachwuchs leidet in allen Disziplinen unter einer hohen Arbeitsplatzunsicherheit, den Folgen von befristeten Verträgen und dem Risiko, nie eine feste Stelle zu bekommen. Digital Humanists spüren diesen Druck aufgrund relativ kurzer Finanzierungszeiträume, einer geringen Zahl geeigneter Stellen und dem Fehlen deutlicher Karriereaussichten noch stärker. Aus den genannten Gründen fordern wir:

  • Langfristige Karriereaussichten für junge Forscherinnen und Forscher, Ingenieurinnen und Ingenieure sowie Bibliothekarinnen und Bibliothekare, die sich in den Digital Humanities engagieren.

  • Ermutigung, Beratung und Unterstützung durch etablierte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Diesen Aspekt betont ebenfalls das 2011 von der Europäischen Wissenschaftsstiftung einberufene Forum der Nachwuchswissenschaftler in seinen Empfehlungen (Changing Publication Cultures in the Humanities).

  • Faire Grundsätze und klar definierte Richtlinien, um die wissenschaftliche Relevanz von gemeinsam erstellten Arbeiten zu beurteilen und allen Teilnehmern angemessene Anerkennung einzuräumen.

  • Breite Akzeptanz und Anerkennung für die Vielfalt digitaler Medien und Veröffentlichungsformen als Mittel wissenschaftlicher Kommunikation.


Wesentliche Arbeiten von Digital Humanists
bleiben zu Unrecht unter dem Radar interner und externer Evaluationen. Daher fordern wir:

  • Open Access- und Open Data-Veröffentlichungen müssen ermutigt und unterstützt werden – indem die Nutzung erleichtert, adäquate Finanzierung bereit gestellt und die akademische Anerkennung erhöht wird.

  • Das Recht auf Zweitveröffentlichung muss im europäischen und nationalen Recht festgeschrieben werden, um gesetzliche Sicherheit für den Grünen Weg im Open Acess zu gewährleisten.

Die Forschung und Lehre mit digitalen Mitteln erfordert spezifische Fähigkeiten und Infrastrukturen. Um Bedingungen zu schaffen, in denen diese sich entfalten können, brauchen wir:

  • geeignete und nachhaltige akademische Infrastrukturen wie Repositorien, Publikationsplattformen, Kataloge, soziale Netzwerke und Blogportale.

  • ein öffentliches Datenbankprojekt, das nationale und europäische Informationen zu in den DH beantragten Projekten – unabhängig von deren Bewilligung – bereithält, mit dem Ziel, durch größere Transparenz eine bessere Orientierung und Koordinierung zu erreichen.

  • ehrgeizige digitale Trainingsprogramme in den Geisteswissenschaften für alle Generationen und Karrierestufen. Fortgeschrittene Studierende, Junior und Senior Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler benötigen angepasste Schulungen.

Als Geisteswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler schätzen wir interkulturellen Dialog und Mehrsprachigkeit. Veröffentlichungen sollten nicht ausschließlich in englischer Sprache erfolgen, sondern als Zusatz zu Veröffentlichungen in der eigenen Sprache angeregt werden.

II. Forschungseinrichtungen und Hochschulen

Konsistente digitale Strategien sollten in jeder Einrichtung entwickelt und gepflegt werden. Akademische Gesellschaften und Universitäten sollten den wissenschaftlichen Nachwuchs in den Digital Humanities durch adäquate Finanzierungszeiträume, Aussichten auf eine Festanstellung und Nachhaltigkeit für Wissenschaftler/innen und Techniker/innen zugleich unterstützen. Frühes Training kollaborativen Arbeitens sollte gefördert werden, dasselbe gilt für den Erwerb technischer Kenntnisse in Arbeitsgruppen.

Wir befürworten die Einrichtung von spezialisierten Arbeitsgruppen zur Förderung digitaler Vorhaben und interdisziplinärer Forschung. Institutionen müssen dies durch Schaffung eines wissenschaftlichen Ökosystems für Akteure der Digital Humanities untersützen. Dies sollte folgendes beinhalten:

  • qualitätsgesicherte Open Access-Plattformen

  • Archive und Technologien sowie Infrastrukturen für die langfristige Archivierung von Forschungspublikationen und -daten in Verbindung mit den Grundsätzen von Open Access und Open Data.

  • Datenbanken- und Softwareinfrastrukturen (z.B. Big Data und Linked Data Anwendungen)

  • effiziente Werkzeuge für die Digitalisierung analoger Quellen

  • Suchmaschinen und Recherchewerkzeuge für Metadaten, um digitale Medien einfacher recherchierbar zu machen, zu kontextualisieren und zu bewerten

  • Verbreitung frei zugänglicher Quellen, Lehrmaterialien und Creative Commons-Lizenzen

Wissenschaftliches Bloggen, Aktivitäten in sozialen Medien und Rezensieren in netzbasierten Formaten müssen offiziell anerkannt und gefördert werden. Forschungseinrichtungen sollten Fachkenntnisse und Trainings anbieten, die der Verbreitung folgender Kompetenzen dienen: Einsatz von sozialen Medien in der Forschung und der öffentlichen Kommunikation, Kodieren, Management von Websites, Erstellung von Datenbanken und multimediales Editieren. Alle beteiligten Akteure müssen zudem über ausreichende Kenntnisse in rechtlichen Fragen verfügen, insbesondere im Bereich des Urheberrechts und der freien Lizenzen.

III. Forschungsförderer

Es ist wichtig, dass Forschungsförderer die Bedürfnisse der wissenschaftlichen Gemeinschaften bei der Entscheidung über Art und Umfang der Förderung digitaler Projekte, Institutionen und Infrastrukturen berücksichtigen sowie die Art und Weise, wie diese evaluiert werden. Forschungsförderer müssen ein Bewusstsein dafür entwickeln, dass digitale Projekte, besonders solche mit eigener Website, nie richtig zu Ende gehen: kontinuierliche Unterstützung über die Gründungsphase hinaus ist notwendig (z.B. für Serverkosten und technische Instandhaltung).

Forschungsförderer sollten spezifische Programme schaffen, die kollaborative Forschung über nationale Grenzen hinweg genauso wie nachhaltige Infrastrukturen für die Wissenschaft und praktische Schulungen für den Gebrauch digitaler Forschungswerkzeuge fördern.

Forschungsförderer sollten neue Bewertungsverfahren entwickeln, die digitale Formen und digitale Qualifikationen berücksichtigen.

  • Peer-Reviewed Print-Zeitschriften können nicht länger die einzigen Veröffentlichungsformen bleiben, die bei Bewerbungen und Anträgen berücksichtigt werden. Neue Formen digitaler Wissenschaftskommunikation, -bewertung und -veröffentlichung müssen gefördert werden.

  • Die Bewertung von Digital Humanities-Projekten sollte neue Kriterien in Betracht ziehen, wie etwa wissenschaftliche Qualität sowie technische Qualität und Anwendung

  • Der Kreis traditioneller Gutachter muss erweitert werden: Experten für digitale Medien, Informatiker und Ingenieure müssen miteinbezogen werden, um eine verlässliche Bewertung zu ermöglichen.

  • Forschungsförderer sollten Open Peer-Review-Verfahren und offene Kommentare in ihren Bewertungsprozessen berücksichtigen.

Was nun?

Akteure und Beobachter beklagen oft das langsame Tempo, in dem sich Infrastrukturen entwickeln. Während sich eine neue Wissenschaftskultur etabliert, in der digitale Instrumente und Methoden vollständig anerkannt sein werden, müssen alle Beteiligten proaktiv tätig werden, um akademische Strukturen an die neuen Forschungspraktiken anzupassen. Diese Aufgabe stellt sich ganz konkret für jeden, in jedem akademischen Bereich und jeder akademischen Disziplin. Wir alle können zu diesem gemeinsamen Neuanfang beitragen.

Die ersten Unterzeichner (vor Ort und online) waren die Teilnehmer der Konferenz “Forschungsbedingungen und Digital Humanities: Welche Perspektiven hat der Nachwuchs?”, Paris, 10. – 11. Juni 2013. Sie können das Manifest in einem Kommentar unterstützen und mitzeichnen.

Pascal Arnaud
Anne Baillot
Aurélien Berra
Dominique Boullier
Thomas Cauvin
Georgios Chatzoudis
Arianna Ciula
Camille Desenclos
André Donk
Marten Düring
Natalia Filatkina
Sascha Foerster
Sebastian Gießmann
Martin Grandjean
Franziska Heimburger
Christian Jacob
Mareike König
Marion Lamé
Lilian Landes
Matthias Lemke
Anika Meier
Benoît Majerus
Claudine Moulin
Pierre Mounier
Marc Mudrak
Cynthia Pedroja
Jean-Michel Salaün
Markus Schnöpf
Julian Schulz
Bertram Triebel
Milena Žic-Fuchs

___________

Abbildung: Yes we digital! by Martin Grandjean, CC-BY-SA.

English Version: Young Researchers in Digital Humanities: A Manifesto

Version française : Jeunes chercheurs et humanités numérique : un manifeste

Versión española: Jóvenes Investigadores en Humanidades Digitales: un Manifiesto

Quelle: http://dhdhi.hypotheses.org/1995

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Wissenschaftlicher Nachwuchs in den Digital Humanities: Ein Manifest

 

YesWeDigital

Die Sozial- und Geisteswissenschaften sind ein zentraler Bestandteil unserer Kultur. Sie bieten einen analytischen Einblick in die Welt, in der wir leben. Die Digital Humanities reflektieren den Übergang der Geisteswissenschaften ins digitale Zeitalter. Sie schaffen nicht nur neue technische Werkzeuge, sondern eröffnen auch neue Wege, Wissen zu generieren und zu verbreiten, und dies sowohl innerhalb der einzelnen akademischen Disziplinen als auch über diese Grenzen hinaus.

Die Digital Humanities verbinden Praxisnähe, Reflexivität und kollaboratives Erarbeiten von Standards. Sie bieten eine hervorragende Grundlage, die Geisteswissenschaften mithilfe neuer Materialien, Methoden und hermeneutischen Ansätzen zu überdenken und zu erweitern. Freier Zugang auf unser kulturelles Erbe und kollaborative Projekte, die auch nicht-akademische Zielgruppen erreichen, erlauben eine Neudefinition unseres Verhältnisses zur Gesellschaft. Wir sehen die Digital Humanities daher als Scharnierstelle für die Zukunft der Geisteswissenschaften.

Vor drei Jahren nahmen über 100 Mitglieder der wachsenden DH-Community am THATCamp Paris 2010 teil. Um ihre Anerkennung gegenüber diesem neuen Wissenschaftsbereich Ausdruck zu verleihen, verfassten sie gemeinsam das erste europäische Manifest der Digital Humanities. Der anschließende Zuwachs an beteiligten Personen und Vorhaben trug dazu bei, diesem Arbeitsfeld eine größere Sichtbarkeit zu verleihen.

Dennoch  hat sich die institutionellen und traditionellen Strukturen unterworfene akademische Welt mit ihren Institutionen, Akteuren und Praktiken nicht in der gleichen Geschwindigkeit entwickelt. Auf der einen Seite entstehen neue Forschungsmethoden: vernetzt, kollektiv, horizontal, multimodal, pluridisziplinär und mehrsprachig. Akteure der Digital Humanities sind mit neuen Aufgaben und Arbeitsstellungen konfrontiert: Sie erstellen Datenbanken, entwickeln Softwares, analysieren umfangreiche Datensätze, definieren Begrifflichkeiten und Modelle, arbeiten über Wikis und Pads zusammen, kommunizieren via Websites, Blogs und anderen sozialen Medien. Auf der anderen Seite leisten Forschungseinrichtungen einen gewissen Widerstand gegen diese Veränderungen oder behindern sie sogar: Fortbildungen, Förderstrukturen, Bewertungskriterien, Auswahlprozesse und Karrierewege haben sich nur geringfügig verändert und scheinen nicht in der Lage zu sein, aus dem entstehenden digitalen Ökosystem Nutzen zu ziehen.

Die wachsende Lücke zwischen der florierenden digitalen Praxis und ihrer institutionellen Anerkennung gefährdet die akademische Gemeinschaft als Ganzes. Insbesondere aber leidet der wissenschaftliche Nachwuchs darunter, denn die gegenwärtige Situation bringt ein hohes Maß an Unsicherheit in die Planung der eigenen wissenschaftlichen Zukunft.

Am 10. und 11. Juni 2013 trafen sich Forscher/innen und andere Mitglieder der akademischen Gemeinschaft am Deutschen Historischen Institut in Paris, um an der internationalen Konferenz “Forschungsbedingungen und Digital Humanities: Welche Perspektiven hat der Nachwuchs?“ teilzunehmen. Der Konferenz war ein offener Aufruf zur Blogparade vorausgegangen, in dessen Rahmen online Beiträge publiziert wurden, um die Konferenz gemeinsam und öffentlich vorzubereiten.

Das vorliegende Manifest ist das Ergebnis dieses Arbeitsprozesses. Es betont die wichtigsten Aspekte der Herausforderungen, denen wir uns stellen müssen und benennt die dringendsten institutionellen Erfordernisse.

I. Allgemeines

Der wissenschaftliche Nachwuchs leidet in allen Disziplinen unter einer hohen Arbeitsplatzunsicherheit, den Folgen von befristeten Verträgen und dem Risiko, nie eine feste Stelle zu bekommen. Digital Humanists spüren diesen Druck aufgrund relativ kurzer Finanzierungszeiträume, einer geringen Zahl geeigneter Stellen und dem Fehlen deutlicher Karriereaussichten noch stärker. Aus den genannten Gründen fordern wir:

  • Langfristige Karriereaussichten für junge Forscherinnen und Forscher, Ingenieurinnen und Ingenieure sowie Bibliothekarinnen und Bibliothekare, die sich in den Digital Humanities engagieren.

  • Ermutigung, Beratung und Unterstützung durch etablierte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Diesen Aspekt betont ebenfalls das 2011 von der Europäischen Wissenschaftsstiftung einberufene Forum der Nachwuchswissenschaftler in seinen Empfehlungen (Changing Publication Cultures in the Humanities).

  • Faire Grundsätze und klar definierte Richtlinien, um die wissenschaftliche Relevanz von gemeinsam erstellten Arbeiten zu beurteilen und allen Teilnehmern angemessene Anerkennung einzuräumen.

  • Breite Akzeptanz und Anerkennung für die Vielfalt digitaler Medien und Veröffentlichungsformen als Mittel wissenschaftlicher Kommunikation.


Wesentliche Arbeiten von Digital Humanists
bleiben zu Unrecht unter dem Radar interner und externer Evaluationen. Daher fordern wir:

  • Open Access- und Open Data-Veröffentlichungen müssen ermutigt und unterstützt werden – indem die Nutzung erleichtert, adäquate Finanzierung bereit gestellt und die akademische Anerkennung erhöht wird.

  • Das Recht auf Zweitveröffentlichung muss im europäischen und nationalen Recht festgeschrieben werden, um gesetzliche Sicherheit für den Grünen Weg im Open Acess zu gewährleisten.

Die Forschung und Lehre mit digitalen Mitteln erfordert spezifische Fähigkeiten und Infrastrukturen. Um Bedingungen zu schaffen, in denen diese sich entfalten können, brauchen wir:

  • geeignete und nachhaltige akademische Infrastrukturen wie Repositorien, Publikationsplattformen, Kataloge, soziale Netzwerke und Blogportale.

  • ein öffentliches Datenbankprojekt, das nationale und europäische Informationen zu in den DH beantragten Projekten – unabhängig von deren Bewilligung – bereithält, mit dem Ziel, durch größere Transparenz eine bessere Orientierung und Koordinierung zu erreichen.

  • ehrgeizige digitale Trainingsprogramme in den Geisteswissenschaften für alle Generationen und Karrierestufen. Fortgeschrittene Studierende, Junior und Senior Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler benötigen angepasste Schulungen.

Als Geisteswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler schätzen wir interkulturellen Dialog und Mehrsprachigkeit. Veröffentlichungen sollten nicht ausschließlich in englischer Sprache erfolgen, sondern als Zusatz zu Veröffentlichungen in der eigenen Sprache angeregt werden.

II. Forschungseinrichtungen und Hochschulen

Konsistente digitale Strategien sollten in jeder Einrichtung entwickelt und gepflegt werden. Akademische Gesellschaften und Universitäten sollten den wissenschaftlichen Nachwuchs in den Digital Humanities durch adäquate Finanzierungszeiträume, Aussichten auf eine Festanstellung und Nachhaltigkeit für Wissenschaftler/innen und Techniker/innen zugleich unterstützen. Frühes Training kollaborativen Arbeitens sollte gefördert werden, dasselbe gilt für den Erwerb technischer Kenntnisse in Arbeitsgruppen.

Wir befürworten die Einrichtung von spezialisierten Arbeitsgruppen zur Förderung digitaler Vorhaben und interdisziplinärer Forschung. Institutionen müssen dies durch Schaffung eines wissenschaftlichen Ökosystems für Akteure der Digital Humanities untersützen. Dies sollte folgendes beinhalten:

  • qualitätsgesicherte Open Access-Plattformen

  • Archive und Technologien sowie Infrastrukturen für die langfristige Archivierung von Forschungspublikationen und -daten in Verbindung mit den Grundsätzen von Open Access und Open Data.

  • Datenbanken- und Softwareinfrastrukturen (z.B. Big Data und Linked Data Anwendungen)

  • effiziente Werkzeuge für die Digitalisierung analoger Quellen

  • Suchmaschinen und Recherchewerkzeuge für Metadaten, um digitale Medien einfacher recherchierbar zu machen, zu kontextualisieren und zu bewerten

  • Verbreitung frei zugänglicher Quellen, Lehrmaterialien und Creative Commons-Lizenzen

Wissenschaftliches Bloggen, Aktivitäten in sozialen Medien und Rezensieren in netzbasierten Formaten müssen offiziell anerkannt und gefördert werden. Forschungseinrichtungen sollten Fachkenntnisse und Trainings anbieten, die der Verbreitung folgender Kompetenzen dienen: Einsatz von sozialen Medien in der Forschung und der öffentlichen Kommunikation, Kodieren, Management von Websites, Erstellung von Datenbanken und multimediales Editieren. Alle beteiligten Akteure müssen zudem über ausreichende Kenntnisse in rechtlichen Fragen verfügen, insbesondere im Bereich des Urheberrechts und der freien Lizenzen.

III. Forschungsförderer

Es ist wichtig, dass Forschungsförderer die Bedürfnisse der wissenschaftlichen Gemeinschaften bei der Entscheidung über Art und Umfang der Förderung digitaler Projekte, Institutionen und Infrastrukturen berücksichtigen sowie die Art und Weise, wie diese evaluiert werden. Forschungsförderer müssen ein Bewusstsein dafür entwickeln, dass digitale Projekte, besonders solche mit eigener Website, nie richtig zu Ende gehen: kontinuierliche Unterstützung über die Gründungsphase hinaus ist notwendig (z.B. für Serverkosten und technische Instandhaltung).

Forschungsförderer sollten spezifische Programme schaffen, die kollaborative Forschung über nationale Grenzen hinweg genauso wie nachhaltige Infrastrukturen für die Wissenschaft und praktische Schulungen für den Gebrauch digitaler Forschungswerkzeuge fördern.

Forschungsförderer sollten neue Bewertungsverfahren entwickeln, die digitale Formen und digitale Qualifikationen berücksichtigen.

  • Peer-Reviewed Print-Zeitschriften können nicht länger die einzigen Veröffentlichungsformen bleiben, die bei Bewerbungen und Anträgen berücksichtigt werden. Neue Formen digitaler Wissenschaftskommunikation, -bewertung und -veröffentlichung müssen gefördert werden.

  • Die Bewertung von Digital Humanities-Projekten sollte neue Kriterien in Betracht ziehen, wie etwa wissenschaftliche Qualität sowie technische Qualität und Anwendung

  • Der Kreis traditioneller Gutachter muss erweitert werden: Experten für digitale Medien, Informatiker und Ingenieure müssen miteinbezogen werden, um eine verlässliche Bewertung zu ermöglichen.

  • Forschungsförderer sollten Open Peer-Review-Verfahren und offene Kommentare in ihren Bewertungsprozessen berücksichtigen.

Was nun?

Akteure und Beobachter beklagen oft das langsame Tempo, in dem sich Infrastrukturen entwickeln. Während sich eine neue Wissenschaftskultur etabliert, in der digitale Instrumente und Methoden vollständig anerkannt sein werden, müssen alle Beteiligten proaktiv tätig werden, um akademische Strukturen an die neuen Forschungspraktiken anzupassen. Diese Aufgabe stellt sich ganz konkret für jeden, in jedem akademischen Bereich und jeder akademischen Disziplin. Wir alle können zu diesem gemeinsamen Neuanfang beitragen.

Die ersten Unterzeichner (vor Ort und online) waren die Teilnehmer der Konferenz “Forschungsbedingungen und Digital Humanities: Welche Perspektiven hat der Nachwuchs?”, Paris, 10. – 11. Juni 2013. Sie können das Manifest in einem Kommentar unterstützen und mitzeichnen.

Pascal Arnaud
Anne Baillot
Aurélien Berra
Dominique Boullier
Thomas Cauvin
Georgios Chatzoudis
Arianna Ciula
Camille Desenclos
André Donk
Marten Düring
Natalia Filatkina
Sascha Foerster
Sebastian Gießmann
Martin Grandjean
Franziska Heimburger
Christian Jacob
Mareike König
Marion Lamé
Lilian Landes
Matthias Lemke
Anika Meier
Benoît Majerus
Claudine Moulin
Pierre Mounier
Marc Mudrak
Cynthia Pedroja
Jean-Michel Salaün
Markus Schnöpf
Julian Schulz
Bertram Triebel
Milena Žic-Fuchs

___________

Abbildung: Yes we digital! by Martin Grandjean, CC-BY-SA.

English Version: Young Researchers in Digital Humanities: A Manifesto

 

 

Quelle: http://dhdhi.hypotheses.org/1995

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Wissenschaftlicher Nachwuchs in den Digital Humanities: Ein Manifest

YesWeDigital

Die Sozial- und Geisteswissenschaften sind ein zentraler Bestandteil unserer Kultur. Sie bieten einen analytischen Einblick in die Welt, in der wir leben. Die Digital Humanities reflektieren den Übergang der Geisteswissenschaften ins digitale Zeitalter. Sie schaffen nicht nur neue technische Werkzeuge, sondern eröffnen auch neue Wege, Wissen zu generieren und zu verbreiten, und dies sowohl innerhalb der einzelnen akademischen Disziplinen als auch über diese Grenzen hinaus.

Die Digital Humanities verbinden Praxisnähe, Reflexivität und kollaboratives Erarbeiten von Standards. Sie bieten eine hervorragende Grundlage, die Geisteswissenschaften mithilfe neuer Materialien, Methoden und hermeneutischen Ansätzen zu überdenken und zu erweitern. Freier Zugang auf unser kulturelles Erbe und kollaborative Projekte, die auch nicht-akademische Zielgruppen erreichen, erlauben eine Neudefinition unseres Verhältnisses zur Gesellschaft. Wir sehen die Digital Humanities daher als Scharnierstelle für die Zukunft der Geisteswissenschaften.

Vor drei Jahren nahmen über 100 Mitglieder der wachsenden DH-Community am THATCamp Paris 2010 teil. Um ihre Anerkennung gegenüber diesem neuen Wissenschaftsbereich Ausdruck zu verleihen, verfassten sie gemeinsam das erste europäische Manifest der Digital Humanities. Der anschließende Zuwachs an beteiligten Personen und Vorhaben trug dazu bei, diesem Arbeitsfeld eine größere Sichtbarkeit zu verleihen.

Dennoch  hat sich die institutionellen und traditionellen Strukturen unterworfene akademische Welt mit ihren Institutionen, Akteuren und Praktiken nicht in der gleichen Geschwindigkeit entwickelt. Auf der einen Seite entstehen neue Forschungsmethoden: vernetzt, kollektiv, horizontal, multimodal, pluridisziplinär und mehrsprachig. Akteure der Digital Humanities sind mit neuen Aufgaben und Arbeitsstellungen konfrontiert: Sie erstellen Datenbanken, entwickeln Softwares, analysieren umfangreiche Datensätze, definieren Begrifflichkeiten und Modelle, arbeiten über Wikis und Pads zusammen, kommunizieren via Websites, Blogs und anderen sozialen Medien. Auf der anderen Seite leisten Forschungseinrichtungen einen gewissen Widerstand gegen diese Veränderungen oder behindern sie sogar: Fortbildungen, Förderstrukturen, Bewertungskriterien, Auswahlprozesse und Karrierewege haben sich nur geringfügig verändert und scheinen nicht in der Lage zu sein, aus dem entstehenden digitalen Ökosystem Nutzen zu ziehen.

Die wachsende Lücke zwischen der florierenden digitalen Praxis und ihrer institutionellen Anerkennung gefährdet die akademische Gemeinschaft als Ganzes. Insbesondere aber leidet der wissenschaftliche Nachwuchs darunter, denn die gegenwärtige Situation bringt ein hohes Maß an Unsicherheit in die Planung der eigenen wissenschaftlichen Zukunft.

Am 10. und 11. Juni 2013 trafen sich Forscher/innen und andere Mitglieder der akademischen Gemeinschaft am Deutschen Historischen Institut in Paris, um an der internationalen Konferenz “Forschungsbedingungen und Digital Humanities: Welche Perspektiven hat der Nachwuchs?“ teilzunehmen. Der Konferenz war ein offener Aufruf zur Blogparade vorausgegangen, in dessen Rahmen online Beiträge publiziert wurden, um die Konferenz gemeinsam und öffentlich vorzubereiten.

Das vorliegende Manifest ist das Ergebnis dieses Arbeitsprozesses. Es betont die wichtigsten Aspekte der Herausforderungen, denen wir uns stellen müssen und benennt die dringendsten institutionellen Erfordernisse.

I. Allgemeines

Der wissenschaftliche Nachwuchs leidet in allen Disziplinen unter einer hohen Arbeitsplatzunsicherheit, den Folgen von befristeten Verträgen und dem Risiko, nie eine feste Stelle zu bekommen. Digital Humanists spüren diesen Druck aufgrund relativ kurzer Finanzierungszeiträume, einer geringen Zahl geeigneter Stellen und dem Fehlen deutlicher Karriereaussichten noch stärker. Aus den genannten Gründen fordern wir:

  • Langfristige Karriereaussichten für junge Forscherinnen und Forscher, Ingenieurinnen und Ingenieure sowie Bibliothekarinnen und Bibliothekare, die sich in den Digital Humanities engagieren.

  • Ermutigung, Beratung und Unterstützung durch etablierte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Diesen Aspekt betont ebenfalls das 2011 von der Europäischen Wissenschaftsstiftung einberufene Forum der Nachwuchswissenschaftler in seinen Empfehlungen (Changing Publication Cultures in the Humanities).

  • Faire Grundsätze und klar definierte Richtlinien, um die wissenschaftliche Relevanz von gemeinsam erstellten Arbeiten zu beurteilen und allen Teilnehmern angemessene Anerkennung einzuräumen.

  • Breite Akzeptanz und Anerkennung für die Vielfalt digitaler Medien und Veröffentlichungsformen als Mittel wissenschaftlicher Kommunikation.


Wesentliche Arbeiten von Digital Humanists
bleiben zu Unrecht unter dem Radar interner und externer Evaluationen. Daher fordern wir:

  • Open Access- und Open Data-Veröffentlichungen müssen ermutigt und unterstützt werden – indem die Nutzung erleichtert, adäquate Finanzierung bereit gestellt und die akademische Anerkennung erhöht wird.

  • Das Recht auf Zweitveröffentlichung muss im europäischen und nationalen Recht festgeschrieben werden, um gesetzliche Sicherheit für den Grünen Weg im Open Acess zu gewährleisten.

Die Forschung und Lehre mit digitalen Mitteln erfordert spezifische Fähigkeiten und Infrastrukturen. Um Bedingungen zu schaffen, in denen diese sich entfalten können, brauchen wir:

  • geeignete und nachhaltige akademische Infrastrukturen wie Repositorien, Publikationsplattformen, Kataloge, soziale Netzwerke und Blogportale.

  • ein öffentliches Datenbankprojekt, das nationale und europäische Informationen zu in den DH beantragten Projekten – unabhängig von deren Bewilligung – bereithält, mit dem Ziel, durch größere Transparenz eine bessere Orientierung und Koordinierung zu erreichen.

  • ehrgeizige digitale Trainingsprogramme in den Geisteswissenschaften für alle Generationen und Karrierestufen. Fortgeschrittene Studierende, Junior und Senior Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler benötigen angepasste Schulungen.

Als Geisteswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler schätzen wir interkulturellen Dialog und Mehrsprachigkeit. Veröffentlichungen sollten nicht ausschließlich in englischer Sprache erfolgen, sondern als Zusatz zu Veröffentlichungen in der eigenen Sprache angeregt werden.

II. Forschungseinrichtungen und Hochschulen

Konsistente digitale Strategien sollten in jeder Einrichtung entwickelt und gepflegt werden. Akademische Gesellschaften und Universitäten sollten den wissenschaftlichen Nachwuchs in den Digital Humanities durch adäquate Finanzierungszeiträume, Aussichten auf eine Festanstellung und Nachhaltigkeit für Wissenschaftler/innen und Techniker/innen zugleich unterstützen. Frühes Training kollaborativen Arbeitens sollte gefördert werden, dasselbe gilt für den Erwerb technischer Kenntnisse in Arbeitsgruppen.

Wir befürworten die Einrichtung von spezialisierten Arbeitsgruppen zur Förderung digitaler Vorhaben und interdisziplinärer Forschung. Institutionen müssen dies durch Schaffung eines wissenschaftlichen Ökosystems für Akteure der Digital Humanities untersützen. Dies sollte folgendes beinhalten:

  • qualitätsgesicherte Open Access-Plattformen

  • Archive und Technologien sowie Infrastrukturen für die langfristige Archivierung von Forschungspublikationen und -daten in Verbindung mit den Grundsätzen von Open Access und Open Data.

  • Datenbanken- und Softwareinfrastrukturen (z.B. Big Data und Linked Data Anwendungen)

  • effiziente Werkzeuge für die Digitalisierung analoger Quellen

  • Suchmaschinen und Recherchewerkzeuge für Metadaten, um digitale Medien einfacher recherchierbar zu machen, zu kontextualisieren und zu bewerten

  • Verbreitung frei zugänglicher Quellen, Lehrmaterialien und Creative Commons-Lizenzen

Wissenschaftliches Bloggen, Aktivitäten in sozialen Medien und Rezensieren in netzbasierten Formaten müssen offiziell anerkannt und gefördert werden. Forschungseinrichtungen sollten Fachkenntnisse und Trainings anbieten, die der Verbreitung folgender Kompetenzen dienen: Einsatz von sozialen Medien in der Forschung und der öffentlichen Kommunikation, Kodieren, Management von Websites, Erstellung von Datenbanken und multimediales Editieren. Alle beteiligten Akteure müssen zudem über ausreichende Kenntnisse in rechtlichen Fragen verfügen, insbesondere im Bereich des Urheberrechts und der freien Lizenzen.

III. Forschungsförderer

Es ist wichtig, dass Forschungsförderer die Bedürfnisse der wissenschaftlichen Gemeinschaften bei der Entscheidung über Art und Umfang der Förderung digitaler Projekte, Institutionen und Infrastrukturen berücksichtigen sowie die Art und Weise, wie diese evaluiert werden. Forschungsförderer müssen ein Bewusstsein dafür entwickeln, dass digitale Projekte, besonders solche mit eigener Website, nie richtig zu Ende gehen: kontinuierliche Unterstützung über die Gründungsphase hinaus ist notwendig (z.B. für Serverkosten und technische Instandhaltung).

Forschungsförderer sollten spezifische Programme schaffen, die kollaborative Forschung über nationale Grenzen hinweg genauso wie nachhaltige Infrastrukturen für die Wissenschaft und praktische Schulungen für den Gebrauch digitaler Forschungswerkzeuge fördern.

Forschungsförderer sollten neue Bewertungsverfahren entwickeln, die digitale Formen und digitale Qualifikationen berücksichtigen.

  • Peer-Reviewed Print-Zeitschriften können nicht länger die einzigen Veröffentlichungsformen bleiben, die bei Bewerbungen und Anträgen berücksichtigt werden. Neue Formen digitaler Wissenschaftskommunikation, -bewertung und -veröffentlichung müssen gefördert werden.

  • Die Bewertung von Digital Humanities-Projekten sollte neue Kriterien in Betracht ziehen, wie etwa wissenschaftliche Qualität sowie technische Qualität und Anwendung

  • Der Kreis traditioneller Gutachter muss erweitert werden: Experten für digitale Medien, Informatiker und Ingenieure müssen miteinbezogen werden, um eine verlässliche Bewertung zu ermöglichen.

  • Forschungsförderer sollten Open Peer-Review-Verfahren und offene Kommentare in ihren Bewertungsprozessen berücksichtigen.

Was nun?

Akteure und Beobachter beklagen oft das langsame Tempo, in dem sich Infrastrukturen entwickeln. Während sich eine neue Wissenschaftskultur etabliert, in der digitale Instrumente und Methoden vollständig anerkannt sein werden, müssen alle Beteiligten proaktiv tätig werden, um akademische Strukturen an die neuen Forschungspraktiken anzupassen. Diese Aufgabe stellt sich ganz konkret für jeden, in jedem akademischen Bereich und jeder akademischen Disziplin. Wir alle können zu diesem gemeinsamen Neuanfang beitragen.

Die ersten Unterzeichner (vor Ort und online) waren die Teilnehmer der Konferenz “Forschungsbedingungen und Digital Humanities: Welche Perspektiven hat der Nachwuchs?”, Paris, 10. – 11. Juni 2013. Sie können das Manifest in einem Kommentar unterstützen und mitzeichnen.

Pascal Arnaud
Anne Baillot
Aurélien Berra
Dominique Boullier
Thomas Cauvin
Georgios Chatzoudis
Arianna Ciula
Camille Desenclos
André Donk
Marten Düring
Natalia Filatkina
Sascha Foerster
Sebastian Gießmann
Martin Grandjean
Franziska Heimburger
Christian Jacob
Mareike König
Marion Lamé
Lilian Landes
Matthias Lemke
Anika Meier
Benoît Majerus
Claudine Moulin
Pierre Mounier
Marc Mudrak
Cynthia Pedroja
Jean-Michel Salaün
Markus Schnöpf
Julian Schulz
Bertram Triebel
Milena Žic-Fuchs

___________

Abbildung: Yes we digital! by Martin Grandjean, CC-BY-SA.

English Version: Young Researchers in Digital Humanities: A Manifesto

Version française : Jeunes chercheurs et humanités numérique : un manifeste

Versión española: Jóvenes Investigadores en Humanidades Digitales: un Manifiesto

Quelle: http://dhdhi.hypotheses.org/1995

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Geplante Sprachen

Im Unterschied zu natürlichen Sprachen, die sich irgendwann1 im Laufe der Menschheitsgeschichte entwickelt haben, werden Plansprachen (auch konstruierte Sprachen genannt) von einzelnen Menschen oder Gruppen entworfen. Der Entwurf solcher Plansprachen kann auf unterschiedliche Beweggründe zurückgeführt werden; der bekannteste ist wohl die Erleichterung der Kommunikation über die Grenzen natürlicher Sprachen hinweg durch die Erschaffung einer künstlichen Lingua Franca. Esperanto – 1887 vom polnischen Augenarzt und Philologen Ludwig Zamenhof vorgestellt – dürfte wohl jeder Leserin bzw. jedem Leser ein Begriff sein. Es ist allerdings nur einer von mehreren Ansätzen, eine künstliche Sprache zu schaffen, die als Kommunikationsmittel für die gesamte Weltgemeinschaft dienen könnte.

Das Vokabular des Esperanto besteht zum großen Teil aus Entlehnungen aus romanischen Sprachen, ein Teil lässt sich aber auch auf germanische und slawische Ursprünge zurückführen. Zur leichten Erlernbarkeit setze Zamenhof auf strenge Regularitäten, z.B. eine phonematische Schriftweise (jedem Laut wird genau ein Schriftzeichen zugeordnet bzw. linguistisch korrekt: jedem Phonem entspricht genau ein Graphem); die Wortbildung ist an agglutinierende Sprachen (z.B. Türkisch) angelehnt, wo Sinneinheiten (linguistisch: sprachlichen Konzepten) eindeutige Wortbestandteile (linguistisch: Morpheme) zugeordnet sind. So ist ein Wort, das auf -o endet, immer ein Substantiv, eins auf -a immer ein Adjektiv. Durch Anhängen von -j kann man den Plural bilden, durch Vorsetzen von mal- verneinen:

  • la bela Blogo – der schöne Blog
  • la malbenaj Blogoj – die nicht schönen Blogs

Zamenhof bediente sich also des Vokabulars verschiedener natürlicher Sprachen und versuchte, die Grammatik weitestgehend zu systematisieren. Solche artifiziellen Sprachkonstrukte, die sich an natürlichsprachlichen Vorbildern orientieren, nennt man auch Plansprachen a posteriori. Sie werden unterschieden2 von Plansprachen a priori, die sich in erster Linie an anderen Konzepten (z.B. Logik, Kategorienlehre) anlehnen.

Solche a-priori-Plansprachen können u.a. philosophisch inspiriert sein, wenn z.B. die natürliche Ordnung der Dinge in der Sprache widergespiegelt werden soll. Einen solchen Ordungsversuch unternimmt etwa der anglikanische Geistliche und Naturphilosoph John Wilkins, niedergelegt in seinem “Essay towards a Real Character and a Philosophical Language” von 1668.3 Dafür musste er zunächst grundlegende Begriffsvorstellungen klassifizieren. Für diese klassifizierten Grundideen entwickelt er eine Begriffsschrift, bei der Grundkonzepte aus wenigen Linien bestehen, Untergattungen dann jeweils noch weitere Striche hinzufügen. Daraus resultiert, dass ähnliche Konzepten (die aus den gleichen Obergattungen abgeleitet sind) ähnliche Schriftzeichen zugeordnet werden. In der Übersetzung des Vater unser (Abbildung unten) ist zu sehen, dass sich “Earth” (Zeichen 21) von “Heaven” (24) nur durch einen zusätzlichen Querstrich rechts am Zeichen unterscheidet. Beide sind aus dem Zeichen für “World”, das ähnlich wie ein Additionszeichen (+) aussieht, abgeleitet. “Power” (71) und “Glory” (74) sind, nach ihren Zeichenkörpern zu urteilen, ebenfalls verwandte Konzepte für Wilkins, wie auch (etwas etwas weiter voneinander entfernt) “trespass” (50) und “evil” (65).

Das "Vater unser" in der Darstellung mit Wilkins Real Characters

Eine grundlegende Eigenschaft natürlichsprachlicher Zeichen ist die willkürliche (arbiträre) Zuordnung von Bezeichnendem (oder Zeichenkörper, Ausdruck, Signifiant) zu Bezeichnetem (oder dahinterstehendem Konzept, Inhalt, Signifié). Wilkins scheint daran gelegen zu haben, diese Willkür weitgehend aufzuheben bzw. stringenter zu systematisieren, hin zu einem Isomorphismus zwischen Ausdruck und Inhalt. Das Resultat sollte eine nahezu perfekte Sprache sein, durch die Wahrheiten ausgedrückt oder sogar berechnet werden könnten, die sich in natürlichen Sprachen nicht ausdrücken bzw. automatisch berechnen lassen.

Mir ist nicht bekannt, ob jemals wer in der von Wilkins entworfenen Universalsprache tatsächlich korrespondiert hat – für die Zeichen waren keine verbalen Entsprechungen vorgesehen, ein mündlicher Austausch war daher ohnehin ausgeschlossen. Die Aufhebung der arbiträren Zuordnung zwischen Signifiant und Signifié dürfte allerdings im alltäglichen Gebrauch Probleme bereiten: Sprachsignale werden nie perfekt übertragen, auch in der schriftlichen Kommunikation kann es zu Schreibfehlern, Undeutlichkeiten, Verschmutzungen etc. kommen. In einer Sprache, wo ähnliche Signifiants völlig unterschiedlichen Signifiés zugeordnet sind (wie in natürlichen Sprachen), dürfte eine Disambiguierung (linguistisch für die Auflösung von Mehrdeutigkeiten) über den Kontext sehr viel erfolgreicher verlaufen, als in Sprachen, in denen ähnliche Zeichen auch ähnliches bedeuten (wie in Wilkins Sprachkonstrukt).

Der Universalsprachentwurf nach Wilkins hatte mit noch mehr Problemen zu kämpfen, insbesondere stellte die Klassifikation aller denkbaren (und damit potentiell in der Sprache zu verwendenden) Dinge Wilkins vor schwer bewältigbare Herausforderungen.4 Dennoch empfand ich die Beschäftigung mit ihr als lohnend, nicht zuletzt, weil viele der seltsamen Eigenschaften des Textes meines Lieblingsforschungsobjektes (dem Voynich Manuskript) durch einen ähnlichen Sprachentwurf erklärt werden könnten. Diese Idee hatte bereits einer der angesehensten Kryptoanalytiker des 20. Jahrhunderts, der Amerikaner William F. Friedman.5  Problematisch an dieser Hypothese war nur, dass das Voynich Manuskript mit einiger Sicherheit schon zu Beginn des 17. Jahrhunderts in Prag kursierte, die ersten Plansprachen a priori aber scheinbar erst über ein halbes Jahrhundert später entworfen wurden (George Dalgarno 1661 und eben Wilkins 1668). Vor kurzem konnte aber gezeigt werden, dass bereits zum Anfang des 16. Jahrhunderts Methoden niedergelegt wurden, deren Anwendung etwas erzeugt, das den Eindruck erwecken kann, ein Text eines Universalsprachentwurfs zu sein, in Wirklichkeit aber ein Chiffrentext ist. Aber dazu hab ich ja schon mal was geschrieben.

So, von den zwei Versprechen, die ich im letzten Post gab, habe ich jetzt das erste eingelöst und damit das andere auch ein wenig wegprokrastiniert. Aber auch da geht es voran. Gut Ding will Weile haben…

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  1. Niemand weiß so genau, zu welchem Zeitpunkt der Mensch anfing, seine Sprache, die sich wahrscheinlich grundlegend von Tierkommunikationssystemen unterscheidet (ich schrieb darüber), auszubilden. Ist vielleicht mal einen eigenen Post wert.
  2. Diese Unterscheidung wurde schon 1903 in der Histoire de la langue universelle von Couturat und Leau vorgenommen.
  3. Leider habe ich online keine vollständige Ausgabe gefunden – vielleicht hat ja jemand mehr Glück und schickt mir den Link, dann kann ich ihn einbauen. Müsste sich aber wohl um Bilder handeln – da im Original sehr viele Stammbäume abgedruckt sind, düften automatische OCR-Scans Probleme haben.
  4. Der Versuch der Sammlung und Kategorisierung aller Konzepte durch Wilkins und seine Mitstreiter, die er in der Royal Society gewann/zwangsverpflichtete, wird sehr anschaulich im Roman Quicksilver, dem ersten Teil des Baroque Cycle von Neal Stephenson beschrieben.
  5. Den Gepflogenheiten eines Kryptologen entsprechend hinterließ Friedman seine Vermutung in einem in einer Fußnote verstecktem Anagramm, das viel zu lang war, als dass man es hätte lösen können: “I put no trust in anagrammic acrostic cyphers, for they are of little real value – a waste – and may prove nothing -finis.” Nach seinem Tod war Elizebeth Friedman, seine Witwe und ebenso eine bekannte Kryptoanalytikerin, so gut, die Welt aufzuklären: “The Voynich MSS was an early attempt to construct an artificial or universal language of the a priori type. – Friedman.”

Quelle: http://texperimentales.hypotheses.org/968

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Geplante Sprachen

Im Unterschied zu natürlichen Sprachen, die sich irgendwann im Laufe der Menschheitsgeschichte entwickelt haben1, werden Plansprachen (auch konstruierte Sprachen genannt) von einzelnen Menschen oder Gruppen entworfen. Der Entwurf solcher Plansprachen kann auf unterschiedliche Beweggründe zurückgeführt werden; der bekannteste ist wohl die Erleichterung der Kommunikation über die Grenzen natürlicher Sprachen hinweg durch die Erschaffung einer künstlichen Lingua Franca. Esperanto - 1887 vom polnischen Augenarzt und Philologen Ludwig Zamenhof vorgestellt – dürfte wohl jeder Leserin bzw. jedem Leser ein Begriff sein. Es ist allerdings nur einer von mehreren Ansätzen, eine künstliche Sprache zu schaffen, die als Kommunikationsmittel für die gesamte Weltgemeinschaft dienen könnte.

Das Vokabular des Esperanto besteht zum großen Teil aus Entlehnungen aus romanischen Sprachen, ein Teil lässt sich aber auch auf germanische und slawische Ursprünge zurückführen. Zur leichten Erlernbarkeit setze Zamenhof auf strenge Regularitäten, z.B. eine phonematische Schriftweise (jedem Laut wird genau ein Schriftzeichen zugeordnet bzw. linguistisch korrekt: jedem Phonem entspricht genau ein Graphem); die Wortbildung ist an agglutinierende Sprachen (z.B. Türkisch) angelehnt, wo Sinneinheiten (linguistisch: sprachlichen Konzepten) eindeutige Wortbestandteile (linguistisch: Morpheme) zugeordnet sind. So ist ein Wort, das auf -o endet, immer ein Substantiv, eins auf -a immer ein Adjektiv. Durch Anhängen von -j kann man den Plural bilden, durch Vorsetzen von mal- verneinen:

  • la bela Blogo – der schöne Blog
  • la malbenaj Blogoj – die nicht schönen Blogs

Zamenhof bediente sich also des Vokabulars verschiedener natürlicher Sprachen und versuchte, die Grammatik weitestgehend zu systematisieren. Solche artifiziellen Sprachkonstrukte, die sich an natürlichsprachlichen Vorbildern orientieren, nennt man auch Plansprachen a posteriori. Sie werden unterschieden2 von Plansprachen a priori, die sich in erster Linie an anderen Konzepten (z.B. Logik, Kategorienlehre) anlehnen.

Solche a-priori-Plansprachen können u.a. philosophisch inspiriert sein, wenn z.B. die natürliche Ordnung der Dinge in der Sprache widergespiegelt werden soll. Einen solchen Ordungsversuch unternimmt etwa der anglikanische Geistliche und Naturphilosoph John Wilkins, niedergelegt in seinem “Essay towards a Real Character and a Philosophical Language” von 1668.3 Dafür musste er zunächst grundlegende Begriffsvorstellungen klassifizieren. Für diese klassifizierten Grundideen entwickelt er eine Begriffsschrift, bei der Grundkonzepte aus wenigen Linien bestehen, Untergattungen dann jeweils noch weitere Striche hinzufügen. Daraus resultiert, dass ähnliche Konzepten (die aus den gleichen Obergattungen abgeleitet sind) ähnliche Schriftzeichen zugeordnet werden. In der Übersetzung des Vater unser (Abbildung unten) ist zu sehen, dass sich “Earth” (Zeichen 22) von “Heaven” (24) nur durch einen zusätzlichen Querstrich rechts am Zeichen unterscheidet. Beide sind aus dem Zeichen für “World”, das ähnlich wie ein Additionszeichen (+) aussieht, abgeleitet. “Power” (71) und “Glory” (74) sind, nach ihren Zeichenkörpern zu urteilen, ebenfalls verwandte Konzepte für Wilkins, wie auch (etwas etwas weiter voneinander entfernt) “trespass” (50) und “evil” (65).

Das "Vater unser" in der Darstellung mit Wilkins Real Characters

Eine grundlegende Eigenschaft natürlichsprachlicher Zeichen ist die willkürliche (arbiträre) Zuordnung von Bezeichnendem (oder Zeichenkörper, Ausdruck, Signifiant) zu Bezeichnetem (oder dahinterstehendem Konzept, Inhalt, Signifié). Wilkins scheint daran gelegen zu haben, diese Willkür weitestgehend aufzuheben bzw. stringenter zu systematisieren, hin zu einem Isomorphismus zwischen Ausdruck und Inhalt. Das Resultat sollte eine nahezu perfekte Sprache sein, durch die Wahrheiten ausgedrückt oder sogar berechnet werden könnten, die sich in natürlichen Sprachen nicht ausdrücken bzw. automatisch berechnen lassen.

Mir ist nicht bekannt, ob jemals wer in der von Wilkins entworfenen Universalsprache tatsächlich korrespondiert hat – für die Zeichen waren keine verbalen Entsprechungen vorgesehen, ein mündlicher Austausch war daher ohnehin ausgeschlossen. Die Aufhebung der arbiträren Zuordnung zwischen Signifiant und Signifié dürfte allerdings im alltäglichen Gebrauch Probleme bereiten: Sprachsignale werden nie perfekt übertragen, auch in der schriftlichen Kommunikation kann es zu Schreibfehlern, Undeutlichkeiten, Verschmutzungen etc. kommen. In einer Sprache, wo ähnliche Signifiants völlig unterschiedlichen Signifiés zugeordnet sind (wie in natürlichen Sprachen), dürfte eine Disambiguierung (linguistisch für die Auflösung von Mehrdeutigkeiten) über den Kontext sehr viel erfolgreicher verlaufen, als in Sprachen, in denen ähnliche Zeichen auch ähnliches bedeuten (wie in Wilkins Sprachkonstrukt).

Der Universalsprachentwurf nach Wilkins hatte mit noch mehr Problemen zu kämpfen, insbesondere stellte die Klassifikation aller denkbaren (und damit potentiell in der Sprache zu verwendenden) Dinge Wilkins vor schwer bewältigbare Herausforderungen.4 Dennoch empfand ich die Beschäftigung mit ihr als lohnend, nicht zuletzt, weil viele der seltsamen Eigenschaften des Textes meines Lieblingsforschungsobjektes (dem Voynich Manuskript) durch einen ähnlichen Sprachentwurf erklärt werden könnten. Diese Idee hatte bereits einer der angesehensten Kryptoanalytiker des 20. Jahrhunderts, der Amerikaner William F. Friedman.5  Problematisch an dieser Hypothese war nur, dass das Voynich Manuskript mit einiger Sicherheit schon zu Beginn des 17. Jahrhunderts in Prag kursierte, die ersten Plansprachen a priori aber scheinbar erst über ein halbes Jahrhundert später entworfen wurden (George Dalgarno 1661 und eben Wilkins 1668). Vor kurzem konnte aber gezeigt werden, dass bereits zum Anfang des 16. Jahrhunderts Methoden niedergelegt wurden, deren Anwendung etwas erzeugt, das den Eindruck erwecken kann, ein Text eines Universalsprachentwurfs zu sein, in Wirklichkeit aber ein Chiffrentext ist. Aber dazu hab ich ja schon mal was geschrieben.

So, von den zwei Versprechen, die ich im letzten Post gab, habe ich jetzt das erste eingelöst und damit das andere auch ein wenig wegprokrastiniert. Aber auch da geht es voran. Gut Ding will Weile haben…

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1 Niemand weiß so genau, zu welchem Zeitpunkt der Mensch anfing, seine Sprache, die sich wahrscheinlich grundlegend von Tierkommunikationssystemen unterscheidet (ich schrieb darüber), auszubilden. Ist vielleicht mal einen eigenen Post wert.

2 Diese Unterscheidung wurde schon 1903 in der Histoire de la langue universelle von Couturat und Leau vorgenommen.

3 Leider habe ich online keine vollständige Ausgabe gefunden – vielleicht hat ja jemand mehr Glück und schickt mir den Link, dann kann ich ihn einbauen. Müsste sich aber wohl um Bilder handeln – da im Original sehr viele Stammbäume abgedruckt sind, düften automatische OCR-Scans Probleme haben.

4 Der Versuch der Sammlung und Kategorisierung aller Konzepte durch Wilkins und seine Mitstreiter, die er in der Royal Society gewann/zwangsverpflichtete, wird sehr anschaulich im Roman Quicksilver, dem ersten Teil des Baroque Cycle von Neal Stephenson beschrieben.

5 Den Gepflogenheiten eines Kryptologen entsprechend hinterließ Friedman seine Vermutung in einem in einer Fußnote verstecktem Anagramm, das viel zu lang war, als dass man es hätte lösen können: “I put no trust in anagrammic acrostic cyphers, for they are of little real value – a waste – and may prove nothing -finis.” Nach seinem Tod war Elizebeth Friedman, seine Witwe und ebenso eine bekannte Kryptoanalytikerin, so gut, die Welt aufzuklären: “The Voynich MSS was an early attempt to construct an artificial or universal language of the a priori type. – Friedman.”

Quelle: http://texperimentales.hypotheses.org/968

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