„Back in the USSR“

Ein Mann im Anzug sitzt rauchend am Schreibtisch.

Die erstmalige persönliche Teilnahme des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj an der diesjährigen UN-Vollversammlung 2023 in New York und an einer Sitzung des UN-Sicherheitsrats[1] haben die Abwesenheit des von ihm angesprochenen Gegenübers, des russischen Präsidenten Wladimir Putin, sichtbar gemacht – eine Leerstelle, die aufgrund der Forderung des russischen UN-Botschafters, dem ukrainischen Präsidenten das vorgesehene Eröffnungsstatement der Sicherheitsratssitzung im letzten Moment zu entziehen, noch deutlicher wurde. Nach der Annexion der Krim hatte sich Putin 2015 noch mit einer Rede an die 70. UN-Generalversammlung gewandt, in der er unter anderem auch den Krieg der Separatisten im Donbas gegen die Ukraine zu rechtfertigen suchte.[2] Den Wettbewerb um die globale Medienöffentlichkeit, deren Aufmerksamkeit Wladimir Putin mit dem Besuch des wieder ernannten chinesischen Außenministers Wang Yi im Kreml am selben Tag zu gewinnen versuchte, hat der ukrainische Präsident aktuell wohl für sich entscheiden können.

Will man sich die visuelle (Re-)Präsentation der Rolle von Putin in dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine vor Augen führen, erscheint ein Blick in den Kreml notwendig: „Die russische Aggression kehrt langsam an ihren Ausgangspunkt zurück“[3] – in etwa diesen Worten hat der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj in seiner allabendlichen Video-Ansprache am 25. Juni 2023 sowohl die beginnenden, bis heute regelmäßigen, ukrainischen Drohnenangriffe auf russisches Territorium als auch die Rebellion der Söldnertruppe Wagner unter dem Kommando ihres Anführers Jewgeni Prigoschin zusammengefasst.

Der sogenannte Marsch der Gerechtigkeit auf Moskau der im Krieg gegen die Ukraine eingesetzten Söldnergruppe Wagner, der sich gegen deren bevorstehende Eingliederung unter das Kommando der russischen Streitkräfte richtete, sowie der am selben Tag erfolgte Abbruch und nicht zuletzt die Meldung vom Tod ihres Anführers Jewgeni Prigoschin und einem Teil seiner Vertrauten bei einem Flugzeugabsturz genau zwei Monate nach der Rebellion: All diese Ereignisse verweisen auf die Rolle des russischen Präsidenten Wladimir Putin, der zu Recht als eine Schlüsselfigur des Geschehens angesehen wird. Um die in diesen Zusammenhängen vermittelten Charakteristika dieser Figur deutlich zu machen, soll im Folgenden das Auftreten des russischen Präsidenten an jenem Ort in den Fokus gerückt werden, von dem aus dieser – wenigstens symbolisch – Krieg und Rebellion zu beherrschen vorgibt: das präsidiale Amtszimmer im Kreml als TV-Studio.

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Quelle: https://visual-history.de/2023/10/30/pribersky-back-in-the-ussr/

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Transformation von unten. Neue Perspektiven auf den Vereinigungsprozess

Transformation von unten. Neue Perspektiven auf den Vereinigungsprozess

Quelle: https://visual-history.de/2021/04/08/workshop-transformation-von-unten/

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Im Zeichen der Entspannungspolitik

Im Zeichen der Entspannungspolitik

Beginn des Abspanns: Grenzübergang DDR/Bundesrepublik bei Nacht
Filmstill aus der „Tatort“-Folge „Taxi nach Leipzig“, BRD 1970, Regie: Peter Schulze-Rohr © NDR

Als er 2009 über „Erinnerungsorte der DDR“ reflektierte, bemerkte der Zeithistoriker Martin Sabrow, dass „die wissenschaftliche Literatur“ wie auch „der Geschichtsunterricht […] der medialen DDR-Inszenierung in Film und Fernsehen an Wirkung und Ausstrahlungskraft oft hoffnungslos unterlegen“ seien und Spielfilme wie Fernsehspiele häufig gerade „auch wegen ihrer historischen Klischeebildung und narrativen Komplexitätsreduktion stärker und nachhaltiger zur Verortung der DDR im kollektiven Gedächtnis bei[trügen] als jede andere Form der Vergangenheitsvergegenwärtigung“.[1] Doch obwohl die konstatierte Wirkungsmacht medialer DDR-Repräsentationen kaum umstritten sein dürfte, haben sich bisher nur wenige Arbeiten damit beschäftigt, welche Bilder des ostdeutschen Arbeiter- und Bauernstaats (jenseits der großen Kinoleinwand) im Fernsehen entworfen werden.

Dabei kann der Blick auf Fernsehfilme und die Analyse ihrer Einzelbilder, die ihr Narrativ schließlich erst formen,[2] durchaus überraschende Erkenntnisse zutage fördern. Gerade eine Krimi-Reihe wie der „Tatort“, die „als letztes kollektives Erlebnis die bundesrepublikanische Gesellschaft regelmäßig erreiche“,[3] bietet sich als lohnender Untersuchungsgegenstand an.

Die „Tatort“-Folge „Taxi nach Leipzig“ ist einer von insgesamt sieben Fernsehkrimis, die im Zentrum der aus einem Seminar an der Humboldt-Universität zu Berlin hervorgegangenen Podcast-Reihe „Geschichte im Fadenkreuz. Der Tatort und die deutsche Teilung“ stehen.[4] Anlässlich des doppelten Jubiläums „30 Jahre deutsche Einheit – 50 Jahre Tatort“ haben sich Studierende mit der Repräsentation der deutschen Teilung in der erfolgreichen Krimireihe befasst.

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Quelle: https://visual-history.de/2021/03/22/im-zeichen-der-entspannungspolitik/

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Dreißigjähriger Krieg im Kinderbuch

Cover des Buches  “Bill Bo und seine sechs Kumpane”

Angriff auf Burg Dingelstein! Die Burg mitten in der Donau…. „Des isch doch nid die Donau, des isch doch der Rhein, du Simpel!“. Das kommt bekannt vor? Fluchen und Schimpfen ist aber nicht alles, was man aus dem alten Klassiker der Augsburger Puppenkiste „Bill Bo und seine Kumpane“ behalten könnte.

Der Dreißigjährige Krieg rückt immer wieder in den Fokus der Literatur, sei es durch Bertolt Brechts „Mutter Courage“ oder zuletzt durch Daniel Kehlmanns Roman „Tyll“.[1] Den Krieg in der Kinderliteratur zu finden, lässt aber stutzen: Dreißig Jahre Totschlag zum abendlichen Vorlesen?

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Quelle: http://histrhen.landesgeschichte.eu/2019/10/30j-krieg-im-kinderbuch/

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“1864”: Krieg im dänischen Fernsehen

Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges vor hundert Jahren war 2014 ein omnipräsentes Thema in den deutschen Medien. Dass sich ein anderer Krieg im gleichen Jahr zum 150. Mal jährte, fiel weitgehend historischer Amnesie anheim: der Zweite Schleswigsche Krieg von 1864, der erste der drei Bismarck’schen Einigungskriege. In Dänemark hingegen fehlte es – ebenso vorhersehbar – nicht an Ausstellungen, Erinnerungsveranstaltungen und Publikationen über diesen wahrscheinlich wichtigsten dänischen Krieg der letzten Jahrhunderte. Das Königreich Dänemark verlor beim Friedensschluss zwei Fünftel seines Gebietes, so dass die Südgrenze bis zur Volksabstimmung 1920 an der Königsau verlief. 1864 markiert in der dänischen Geschichte das Ende des jahrhundertealten multiethnischen Gesamtstaates und die Verwandlung in einen Nationalstaat (wenn man großzügig von den Färöern, Grönländern, Isländern und Bewohnern der Westindischen Inseln absieht). Oder präziser: in den Torso eines Nationalstaates, mussten bis 1920 doch ca. 200.000 dänischgesinnte Schleswiger unter preußischer Oberhoheit leben.

Medialer Höhepunkt der dänischen Erinnerung an 1864 war die Ausstrahlung einer achtteiligen Serie mit dem schlichten Titel 1864.1 Die Erwartungen waren hoch: Mit Ole Bornedal war es gelungen, einen der profiliertesten und international bekanntesten dänischen Filmemacher als Verantwortlichen für Drehbuch wie Regie zu gewinnen. Zudem haben dänische Serien wie Forbrydelsen (Kommissarin Lund – Das Verbrechen), Borgen (Borgen – Gefährliche Seilschaften) oder Broen (Die Brücke – Transit in den Tod) in den letzten Jahren erfolgreich bewiesen, dass sie auf dem internationalen Markt konkurrenzfähig sind. Nicht zuletzt verfügte 1864 über ein geradezu schwindelerregendes Budget von 173 Millionen dänischen Kronen, d.h. ca. 23 Millionen Euro.

Die Ausstrahlung der teuersten dänischen TV-Serie aller Zeiten sollte eigentlich ab April erfolgen, verzögerte sich jedoch mehrmals, als die Postproduktion sich länger als erwartet hinzog. Erst von Oktober bis November 2014 wurde 1864 in einstündigen Abschnitten im öffentlich-rechtlichen DR 1 ausgestrahlt, jeden Sonntagabend auf dem prime time-Sendeplatz um 20 Uhr. Geboten bekamen die Zuschauer keine filmische Auseinandersetzung mit den komplizierten politischen und diplomatischen Prozessen, die in den fatalen Krieg und Friedensschluss mündeten. Stattdessen konzentrierte sich Bornedal auf die Geschichte von fünf Hauptpersonen und deren Schicksal im Krieg. Die Inspiration für die Wahl einer Erzählperspektive, die sich vor allem auf den einfachen Soldaten und sein Umfeld richtet, holte er sich aus Tom Buk-Swientys Bestseller Slagtebænk Dybbøl von 2008, seit 2011 als Schlachtbank Düppel auch in deutscher Übersetzung erhältlich. Allerdings ist die Fernsehserie mitnichten eine Verfilmung von Slægtebank Dybbøl, das am adäquatesten wohl als eine historiographische Narration zu charakterisieren ist, die ostentativ ihr Emplotment reflektiert.2 Einige der Figuren der Serie haben zwar eine historische Entsprechung wie z.B. Karen Blixens Vater Wilhelm Dinesen, die auftretenden Könige, der dänische Konsejlspräsident Monrad, der preußische Ministerpräsident Bismarck, die Schauspielerin Johanne Louise Heiberg. Aber die wichtigsten Figuren des Filmes, an deren Schicksal der Zuschauer Anteil nehmen soll und aus deren Perspektive der Krieg hautnah erlebt wird, sind fiktionale Gestalten, Schöpfungen des Drehbuchautors Bornedal: die Brüder Laust und Peter, die Tochter des Gutsverwalters, Inge, in die die beiden verliebt sind, das Zigeunermädchen Sofia und schließlich Didrich, der kriegstraumatisierte Sohn des patriarchalen Barons.

Um oxymoronhaft historische Referenz wie Fiktionalität des Gezeigten gleichermaßen behaupten zu können, bedient sich Bornedal zudem einer seit Jahrhunderten erprobten Erzählstrategie: Als Erzählerstimme fungieren die Erinnerungen Inges, die diese kurz vor ihrem Tod niedergeschrieben hat (aparterweise in dänischer Rechtschreibung, die erst seit 1948 gilt) und die im Dänemark der Gegenwart von Claudia gelesen werden. Claudia ist eine jugendliche Rebellin mit einem schwierigen familiären Umfeld, deren Bruder in Afghanistan gefallen ist. Von der Sozialverwaltung wird sie zum greisen Baron Severin geschickt, um diesem zu helfen. Severin lässt sie Inges handschriftliche Erinnerungen vorlesen, und die endgültige Verknüpfung der beiden Erzählebenen – das Dänemark von 1864 und das Dänemark von heute – manifestiert sich schließlich in der Entdeckung, dass Severin der Enkel Inges ist und Claudia die Nachfahrin von Peter und Sofia.

1864 war, rein an den Zuschauerzahlen gemessen, durchaus ein Erfolg: Der erste Abschnitt wurde von knapp 1,7 Millionen Zuschauern gesehen, was einem Zuschaueranteil von 68% entspricht, der letzte Abschnitt immerhin noch von 1,17 Millionen, sprich von 46% der einschaltenden Zuschauer. Von solchen Quoten kann selbst die Institution des Tatort im deutschen Fernsehen nur entfernt träumen. Kaum vorzustellen auch, dass eine deutsche Fernsehserie so eine öffentliche Debatte hervorrufen könnte, wie dies bei 1864 in Dänemark der Fall war. U.a. betätigten sich gleich zwei Kulturminister, nämlich Per Stig Møller, Kulturminister von 2010–11, und die jetzige Amtsinhaberin Marianne Jelved als Rezensenten.3 Über einen Mangel an öffentlicher Aufmerksamkeit konnte sich Bornedal wahrhaftig nicht beklagen, aber bei aller Anerkennung für fast durchweg formidable Schauspielerleistungen und eine eindrucksvolle Kinematographie voll wuchtiger Bilder wurde doch mit Kritik nicht gespart. Die wenigsten Rezensenten mochten Ib Bondebjerg, seines Zeichens Professor für Medienwissenschaft an der Kopenhagener Universität, zustimmen, dass die populären dänischen Fernsehserien Matador (1978–81) und Krøniken (2004–07) mit 1864 einen würdigen modernen Nachfolger gefunden hätten.4 Henrik Palle resümierte noch prinzipiell wohlwollend in der linksliberalen Tageszeitung Politiken, dass die Dänen nicht „Zeuge eines grandiosen Fiaskos geworden seien, wie es das Schicksal der Dänen bei Düppel war, aber auch nicht Zeuge eines völlig überzeugenden Sieges, wie als wir viele Jahre später die Europameisterschaft im Fußball gewannen“.5 Andere Rezensenten ließen hingegen kaum ein gutes Haar an der Serie: Bornedal arbeite mit didaktischen Holzhammermethoden, um dem Zuschauer seine Moral und eine Verfälschung von Geschichte aufzudrängen, anstatt die historischen Geschehnisse zu vermitteln; Plot wie Repliken wiesen zahlreiche Schwächen auf; und überhaupt sei die Parallele, die implizit zwischen dem Krieg von 1864 und dem Afghanistan-Einsatz gezogen werde, politische Stimmungsmache, wenn nicht gar Manipulation.

Es ist verlockend, in den Rezensionen, nicht zuletzt auch in der Kritik der Serie durch Politiker wie der ehemaligen Vorsitzenden der rechtspopulistischen Dänischen Volkspartei, Pia Kjærsgaard, die Fronten des Kulturkampfes in Dänemark nachzuzeichnen. Aber ganz so einfach ist es dann doch nicht, auch wenn die Kritik an DR 1 als vermeintlich ‚roter’ Sender nicht neu ist. So wurde z.B. auch den Machern von Borgen 2013 vorgeworfen, eine politische Agenda zu verfolgen, die zur Public-Service-Verpflichtung des Senders im Widerspruch stünde.6 Die Enttäuschung über die Serie und die hingebungsvoll bis kleinlich geführte Diskussion über Mängel an historischer Akkuratesse zeugen indes vor allem von einem nicht erfüllten Erwartungshorizont vieler Rezensenten. Denn 100 Millionen Kronen der Gesamtkosten der Serie von 173 Millionen stammten aus einer Sonderbewilligung des dänischen Parlamentes für „eine historische Dramaserie hoher Qualität, die den Dänen Wissen über wichtige Ereignisse in der Geschichte Dänemarks geben kann“, verabschiedet 2010 mit den Stimmen der liberalkonservativen Regierung mit Unterstützung der Dänischen Volkspartei. Diesen Anspruch erfüllt 1864 nun zweifelsohne nicht – hier ist dem Historiker Rasmus Glenthøj uneingeschränkt recht zu geben,7 der im Jubiläumsjahr mit einer eigenen Monographie zu den Ereignissen (1864. Sønner af de slagne) an die Öffentlichkeit getreten war.

Man könnte Bornedals Serie unter Hinweis auf die längst banale Einsicht jeglicher Forschung zum historischen Film wie historischen Roman verteidigen: dass ein historischer Film immer mehr Zeugnis von seiner Entstehungszeit ablegt als von der Zeit, die er zu behandeln vorgibt. Und dass er zuvörderst Film ist und erst in zweiter Reihe historiographischer Diskurs, weshalb es z.B. selbstverständlich legitim ist, mehrere historische Akteure in einer Figur dramatisch zu kondensieren. Der historische Film erschöpft sich nie in seiner historischen Referenz. Aber gerade dann muss man von ihm erwarten können, dass er als Film innovativ ist und ein ästhetisches Ganzes ergibt – und genau hier liegen die Schwächen der Serie.

1864 betritt als filmische Gestaltung des Krieges von 1864 Neuland, was indes angesichts der kargen Bilanz von über hundert Jahren filmischer Auseinandersetzung mit 1864 aus dänischer Perspektive (zwei kurze Stummfilme aus dem Jahr 1910, eine Verfilmung von Herman Bangs Roman Tine aus dem Jahr 1964) keine große Herausforderung war. Bornedal rekurriert für seine Darstellung des Krieges auf ein bellographisches Narrativ, das er zwar grandios in Kinematographie zu übersetzen vermag, das aber auch spätestens seit Bangs Tine (1889) aus der literarischen Auseinandersetzung mit 1864 nicht mehr wegzudenken ist und in der dänischen Gegenwartsliteratur z.B. seinen Niederschlag in den Romanen Claes Johansens gefunden hat: Krieg ist weder heroische Mannesschule noch ein notwendiges Opfer auf dem Altar der Nation oder die Chance zur Reinigung einer dekadent-verweichlichten Zivilisation, sondern der Zusammenbruch ordnungsstiftender Werte, die Abwesenheit von Sinn, die Entfesselung von animalischen Trieben. Krieg bedeutet Leid und Tod für den Einzelnen, was auch nicht durch den Rekurs auf transzendente Werte gemildert werden kann. Die Soldaten in den Schützengräben und hinter den Wällen haben in 1864 entsprechend kein anderes Ziel als das Überleben. Warum es einen Unterschied macht, ob Schleswig nun dänisches Herzogtum oder Teil des dänischen Reiches ist, wissen sie nicht, würden es im Zweifelsfall auch nicht verstehen, und für ihre existenzielle Situation hat es ohnehin keine Bedeutung. Krieg ist Wahnsinn, so Bornedal, und entsprechend sind nicht wenige Oberbefehlshaber in 1864 als greisenhaft-dement dargestellt, verhalten sich bizarr oder sind schlicht ein Fall für das Irrenhaus wie der dänische Konsejlspräsident Monrad, dem wir in der Serie das erste Mal begegnen, als er mit nacktem Hintern auf dem Boden kniet und manisch Papier bekritzelt.

Man lehnt sich nicht allzu weit aus dem Fenster mit der Behauptung, dass dieses Kriegsnarrativ zumindest in West- und Mitteleuropa mehrheitsfähig sein dürfte. Historiker mögen zwar einwenden, dass es wegen seiner Pauschalität und seiner Konzentration auf existenzielle Befindlichkeit wenig dazu einlädt, die Geschichte eines Krieges einschließlich seines politischen Verlaufs im Detail zu analysieren, also z.B. warum der Status Schleswigs sehr wohl einen Unterschied machte und ein Krieg wegen der Schleswig-Frage ausbrechen konnte. Bornedal würde diese Kritik indes an sich abperlen lassen; die Serie handle, wie er in einem Interview erklärte, „nicht nur von 1864 und einer tragischen Begebenheit, sondern davon, dass wir alle sterben müssen. Du und ich müssen sterben“.8

Bornedals Rückgriff auf ein zwar sympathisches, wenn auch wenig innovatives Kriegsnarrativ vom Krieg als Auflösung und Zusammenbruch sinnstiftender Ordnung wird allerdings in der Serie zum Problem, weil Bornedal zugleich stark mit Elementen und Strategien des Melodramatischen arbeitet. Kaum ein Charakteristikum des melodramatischen Modus wird in 1864 ausgelassen: das Zielen auf die Gefühligkeit des Zuschauers, die moralische Polarisierung, das starke Pathos, das Eingreifen eines Übernatürlichen, nicht zuletzt ein Plot, in dem es von zufälligen Begegnungen und Koinzidenzen nur so wimmelt. So gebiert Inge in Sonderburg Lausts Kind, während dieser wenige Kilometer entfernt in den Düppeler Schanzen bei deren Erstürmung durch die Preußen stirbt, und die Jugendliche Claudia enthüllt sich als direkte Nachfahrin von zwei Hauptfiguren in den Erinnerungen, die sie auf Geheiß des Barons vorliest. Im heimischen Keller findet sie sogar Peters Briefe aus dem Krieg. Diese jeder Wahrscheinlichkeit spottenden Zusammentreffen verweisen auf eine Ordnung hinter den geschichtlichen Verläufen, die in 1864 im unaufgelösten und ästhetisch unbefriedigenden Widerspruch steht zu den Erfahrungen von Anomie und Zusammenbruch durch den Krieg. Der melodramatische Modus wurde – so die bekannte These Peter Brooks’9 – im Gefolge der Französischen Revolution entwickelt, um Wahrheit und Ethik in einer desakralisierten Welt zu verkündigen. Übertragen auf 1864 lässt sich behaupten, dass Bornedal zwar einerseits mit seinen eindrucksvollen, zeitweise schwer zu ertragenden Filmbildern einem Kriegsnarrativ huldigt, das den Krieg als Zusammenbruch von Ordnung und Abwesenheit von Sinn schildert, andererseits aber durch seinen Rückgriff auf den melodramatischen Modus eine – im Wortsinn – okkulte Ordnung hinter den Geschehnissen, eine innere Ordnung zurückbeschwört. Die Welt wird so wieder als sinnvoll lesbar, der semantische Zusammenbruch gebannt. Nicht einmal den Tod des alten Barons just in jenem Augenblick, als Claudia die Erinnerungen bis zum Schluss vorgelesen hat, erspart Bornedal dem Zuschauer: Die Lesbarkeit des Krieges ist jetzt auch in der jungen Generation gewährleistet, die alte kann erfüllt sterben. Bis zum Kitsch ist es hier nicht mehr weit.

Nach der Ausstrahlung in DR1 ist 1864 Ende letzten Jahres in Dänemark auf DVD erschienen. 11 Länder haben die Serie bislang zur Ausstrahlung gekauft, was angesichts der Erfolgszahlen von Forbrydelsen und Broen (Verkauf in über 130 Länder) oder Borgen (ca. 70 Länder) als eher bescheidener Vermarktungserfolg gelten muss. In Norwegen hat TV2 bereits die Serie gezeigt, auch hier mit einem eher gemischten Kritikerecho. Der deutsch-französische Sender ARTE hat die Ausstrahlung für Juni 2015 angekündigt. Angekündigt ist zudem ein Zusammenschnitt der Serie auf einen abendfüllenden Spielfilm, der eigentlich auf der Berlinale 2015 hätte laufen sollen, dessen Fertigstellung sich aber anscheinend verzögert hat.

  1. Die offizielle Homepage der Serie findet sich unter http://www.dr.dk/diverse/drama/1864/index.
  2. Vgl. hierzu Stephan Jaeger: „Erzählen im historiographischen Diskurs“. In: Christian Klein u. Matías Martínez (Hg.): Wirklichkeitserzählungen. Felder, Formen und Funktionen nicht-literarischen Erzählens. Stuttgart u. Weimar: Metzler, 2009, S. 110–135.
  3. “Per Stig Møller: ‘1864’ slutter med et skuldertræk”, 30.11.2014, unter http://www.dr.dk/nyheder/kultur/film/stig-moeller-1864-slutter-med-et-skuldertraek; “Jelved anmelder 1864: Et fremragende stykke drama til seks stjerner”, 9.11.2014, unter http://www.dr.dk/Nyheder/Kultur/Film/2014/11/08/110122.htm.
  4. Ib Bondebjerg: “Afsnit syv af 1864 er gruopvækkende og anti-heroisk”, 23.11.2014, unter http://www.dr.dk/Nyheder/Kultur/Film/2014/11/20/111047.htm
  5. Henrik Palle: “‘1864′ blev et storladent melodrama af international klasse”, in: Politiken, 30.11.2014, hier zitiert nach http://politiken.dk/kultur/filmogtv/tvanmeldelser/ECE2469966/1864-blev-et-storladent-melodrama-af-international-klasse/
  6. Morten Hesseldahl: “DR: ‘Borgen’ vasker ikke danskerne røde”. In: Berlingske Tidende, 12.2.2013, hier nach http://www.b.dk/kommentarer/dr-borgen-hjernevasker-ikke-danskerne-roede
  7. “Historiker: Bornedal har vist os en fejlagtig version af 1864″. In: Politiken, 1.12.2014, hier nach http://politiken.dk/kultur/filmogtv/ECE2470681/historiker-bornedal-har-vist-os-en-fejlagtig-version-af-1864/
  8. “Det handler om at vi alle skal dø”. In: Politiken, 12.10.2015, hier zitiert nach http://politiken.dk/magasinet/interview/ECE2418550/det-handler-om-at-vi-alle-skal-doe/
  9. Peter Brooks: The Melodramatic Imagination: Balzac, Henry James, Melodrama, and the Mode of Excess. New Haven u.a.: Yale UP, 1976.

Quelle: http://nofoblog.hypotheses.org/169

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Funktion des Fernsehens aus Elternsicht

Die erste Aufgabe des Blended-Learning Seminars “Frühkindliche Medienbildung”, das von Prof. Dr. Helen Knauf geleitet wird, befasste sich mit der Recherche von Grundlagen des Lernens und der Entwicklung von (kleinen) Kindern. Dieses von den Teilnehmenden selbst erarbeitete Wissen sollte dann mit der digitalen Medienumwelt in Verbindung gesetzt werden. Und zwar in Form einer Präsentation, die zusammen mit dem gesprochenen Text als Screencasts produziert werden sollte. Funktion des Fernsehens im Alltag von 0-5-jährigen aus Elternsicht In diesem Screencast werden die Ergebnisse einer Studie vorgestellt, die […]

Quelle: http://medienbildung.hypotheses.org/6866

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06. Benjamin und das Ereignis im Zeitalter seiner technischen Multiplizierbarkeit

Per Fingerdruck in die Ewigkeit

Neulich im Zoo, Abteilung für Fische, Reptilien, Amphibien und ähnliches: Menschen, die vor Aquarien und Terrarien stehen, ohne auf die Tiere selbst oder wenigstens auf die sie einsperrende Glasscheibe zu sehen, sondern beständig den Bildschirm ihres Smartphones anstarren und ein Foto nach dem anderen schießen, möglicherweise auch den einen oder anderen Kurzfilm drehen. Ich erwische mich bei einer viel zu naheliegenden kulturpessimistischen Reaktion: Warum, um Himmels willen, muss man bei einem Zoobesuch Zierfische, Stabschrecken oder Tiefseequallen fotografieren, anstatt sie einfach nur anzusehen? Was macht man zu Hause mit diesen Dutzenden von Bildern – außer löschen, um danach neue unsinnige Bilder zu knipsen?

Bevor mich die nicht mehr ganz frische Überzeugung vom Untergang des Abendlandes endgültig in ihre Krallen bekommt, fällt mir dankenswerterweise noch ein, dass ein anderer Beobachter sich hätte fragen können, warum man sich als halbwegs reflektierter Mensch in eine Institution namens „Zoologischer Garten“ begibt, um dort in naturidentischen Mikrobiotopen Tiere zu betrachten, die in diesem Gefängnis nun wirklich nichts verloren haben. Mein Verhalten gibt also nicht minder Anlass zu Stirnrunzeln und Kopfschütteln.

Um hier aber nicht in thematisch unüberschaubare Gefilde wie Mensch-Tier-Beziehungen zu geraten, bleiben wir zunächst bei den Alltags- und Alles-Fotografen. Die Existenz dieses Phänotypus ist nun alles andere als eine aufregende Beobachtung, schließlich haben entsprechende Bildgebungstechniken schon ein paar Jährchen auf dem Buckel. Womit wir es aber in der jüngeren Vergangenheit zu tun haben, ist das exponentielle Wachstum der fotografischen Bildproduktion durch die Unabhängigkeit vom Fotoapparat. Man muss schon seit einer kleinen Weile keine unhandliche Kamera mehr mit sich herumschleppen, man kann einfach den Apparat zücken, der früher vor allem ein Telefon war, um das gewünschte Foto zu machen. Die beständige Verfügbarkeit – lediglich gebremst durch die Akkulaufzeit – lädt ein zum Dauerknipsen. Die Frage, die mich dabei interessiert, kann man in gut Benjaminscher Manier stellen: Welche Rückwirkungen hat diese Vervielfältigung der Möglichkeiten bildlicher Dokumentation auf unser Verständnis von Geschichte und ihren Ereignissen (S. 12)?

Abgesehen von der Frage, wie sehr wir uns auf ein Leben vor und durch den Bildschirm einlassen wollen, muss ich wohl neidlos anerkennen, dass all die Fotografierer und Videografierer, all die Dokumentaristen ihres eigenen Alltags ein wesentlich tiefer gehendes Verständnis von Geschichte haben als ich. Sie arbeiten nämlich mit Hochdruck am Projekt der Auto-Historisierung, der durchgehenden und umfassenden Überlieferung ihres eigenen Lebens – das höchstwahrscheinlich nichts „Historisches“ (im Sinne von „Außergewöhnliches“) aufzuweisen haben wird, außer der Überlieferung selbst. Unzählig viele Menschen sind genau in diesem Moment dabei, an ihrer eigenen Unsterblichkeit zu basteln, indem sie ihr Dasein bildlich fixieren. Auch das hat schon Walter Benjamin in seiner eigenen Gegenwart beobachtet: Man kann sich mit einem Fingerdruck in die Ewigkeit katapultieren (S. 131). Die Kamera im Mobiltelefon potenziert diese Möglichkeiten nochmals um ein Vielfaches, weil sich der Weg zwischen Objektsichtung, Aufnahme und Veröffentlichung auf ein Minimum reduziert hat.

Sofern sich das Problem der dauerhaften Datensicherung halbwegs in den Griff bekommen lässt – schließlich sind elektronische Speichermedien für eine längerfristige Archivierung denkbar ungeeignet –, werden zukünftige Historiker/innen in einem unüberschaubaren Ozean umfassend dokumentierter Lebensläufe baden können. Hier entsteht eine eigene Parallelüberlieferung zur offiziösen und institutionell kontrollierten Geschichtsschreibung der Mächtigen. Die Geschichte des Alltags könnte in gänzlich neue Dimensionen vorstoßen, weil die Vielen eben nicht mehr nur stumme Objekte der Historiographierung derjenigen sind, die sich (auch überlieferungstechnisch) besser organisieren können, sondern die technischen Möglichkeiten ihnen eigene Stimmen und Perspektiven verschaffen. „Jeder heutige Mensch kann einen Anspruch vorbringen, gefilmt zu werden.“ (S. 32) Und sei es auch nur beim Bestaunen von Zierfischen.

Nachgemachte Ereignisse

Ebenso dürften künftige Historiker/innen bei der Sichtung dieses Materials aber feststellen, dass sich in den autobiographischen Bilderstrecken von der Wiege bis zur Bahre nicht nur der widerständige Eigensinn eingenistet hat, sondern dass hier zugleich machtgesättigte Diskurse für ihre eigene Reproduktion und Multiplikation sorgten. Und da kann ich den Kulturpessimisten in mir nicht ganz zum Schweigen bringen. Denn werden nicht massenhaft diejenigen Ereignisse als Ereignisse festgehalten, die zuvor schon als Ereignisse apostrophiert und inszeniert wurden? Was sieht man denn inzwischen bei Krönungsfeierlichkeiten, Staatshäupterbegegnungen, Sportwettkämpfen oder Prominentenauftritten außer einem Wald von hochgereckten Handys? Die Zuschauerschar wird nachdrücklich auf die „historische“ Ereignishaftigkeit eines Geschehens hingewiesen, um es dann brav für den privaten Rahmen zu reproduzieren und im Netz zu multiplizieren. Was als nächstes geschehen wird, ist immer schon längst geschehen, weil in hinreichendem Maß durch eine ausgefeilte Inszenierung geplant. Ereignisse werden gemacht – und nachgemacht. Der große historische Auftritt, minutiös im Vorhinein einstudiert, wird tausendfach aus jeweils individuellen, zugleich gänzlich stromlinienförmigen Blickwinkeln festgehalten. Ereignisse werden (und sind) damit in einem kaum noch steigerbaren Maß selbstreferentiell, weil in den Medien vorkommt, was in den Medien vorkommt.

Bei Ereignissen, denen die Menschen nur noch durch ihre Handy-Kameras beiwohnen, ohne das Geschehen selbst zu betrachten, ist diese Aufmerksamkeit für die Notwendigkeit der historischen Archivierung mit Händen zu greifen: Hier bestätigt sich die Bekanntheit des Bekannten, hier öffnet sich das Fenster zur öffentlichen Multiplizierbarkeit. Im Moment, in dem „es“ geschieht (was immer „es“ auch ist), sieht man „es“ schon durch die mediale und damit auch historische Bedeutsamkeit suggerierende Vermittlung des eigenen kleinen Taschenbildschirms: Mama, wir sind im Fernsehen!

Die Körnung der Ereignisse

Aber wie schon Benjamin wusste: „Die Ausrichtung der Realität auf die Massen und der Massen auf sie ist ein Vorgang von unbegrenzter Tragweite sowohl für das Denken wie für die Anschauung.“ (S. 17) Es sind mithin nicht nur die inszenierten Ereignisse, die auf ihre Multiplikatoren wirken, sondern es sind ebenso die Multiplikatoren, die nun Ereignisse erzeugen – und nicht selten völlig ungeahnte.

Die Vervielfältigung der Möglichkeiten bildlicher Dokumentation demokratisiert das historische Ereignis. Es lässt sich nicht mehr absehen und nicht mehr kontrollieren, wann ein Ereignis zu einem solchen wird. Und unerwünschte Ereignisse lassen sich inzwischen auch schwerer unterdrücken. Die Planbarkeit von Historischem entzieht sich zumindest teilweise dem Zugriff der Machthaber. Die allzeit bereiten Bildaufzeichnungsgeräte, die im Stile eines fotografierenden Revolverhelden in Sekundenschnelle gezückt werden können, sind auch überall dort, wo eigentlich nichts passieren sollte. Ereignisse lassen sich von unten machen. Das mag gänzlich Unspektakuläres betreffen, wenn private Videos via Youtube eine Aufmerksamkeit erhalten, die sie überhaupt erst zu Ereignissen machen. Das betrifft aber auch gravierendere Geschehnisse wie Demonstrationen, Proteste, Aufstände oder Kriege – man sehe sich nur die Dokumentation des arabischen Frühlings an –, wenn das Fehlen anderer Beobachter die Handy-Kamera zur dokumentarischen Macht werden lässt.

Mit Blick auf die Presse im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts hat Benjamin davon gesprochen, dass immer mehr Lesende inzwischen zu Schreibenden werden (S. 32f.). Aufs Historische übertragen, kann man feststellen, dass immer mehr Ereignisrezipienten zu Ereignisproduzenten werden. Die fernsehbebilderten Abendnachrichten sind deutlich geprägt durch das Informationsmaterial von (nicht selten unfreiwilligen) Amateurkorrespondenten. Es vergeht kaum eine Sendung, in der nicht ein privates Foto oder ein verwackelter Videomitschnitt Verwendung finden. Naturkatastrophen, Unfälle oder Anschläge – mit anderen Worten, all die plötzlich eintretenden Dinge, die nicht schon als pünktlich terminierte Ereignisse angekündigt und vorbereitet worden waren, werden zum Tummelfeld der Knipser und Filmer. Diese Bilder in eher schlechter Auflösung und mit zu geringer Pixelzahl, diese verwackelten Videos, bei denen man zuweilen vor allem sieht, dass man nichts sieht, außer plötzlich explodierenden Farben, kombiniert mit einem wilden Stimmengewirr auf der Tonspur, können dem Geschehen wieder etwas Anarchisches zurückgeben. Auch wenn es sich zumeist um wenig erfreuliche Vorgänge handelt, um Tod und Zerstörung, so halten diese Bilder doch auch eine historische Lehre parat: Die Körnung der Bilder verweist auf die Körnung der Ereignisse. Sie zeigen uns die Unschärfe des Plötzlichen.

[Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Kommentar v. Detlev Schöttker, 3. Aufl. Frankfurt a.M. 2012]


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Quelle: https://achimlandwehr.wordpress.com/2013/05/05/06-benjamin-und-das-ereignis-im-zeitalter-seiner-technischen-multiplizierbarkeit/

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05. Whitechapel und das mörderische Geschichtsfernsehen

Heutzutage lernt man im Fernsehen über das wirkliche Leben. Keine Sorge, hier folgt kein vorhersagbares Einprügeln auf unterirdisches „Reality-TV“, das seinen lebensfremden Charakter bereits durch den englischsprachigen Titel anzeigt, mit dem aufwendige televisonäre Produktionstechniken versprochen werden, wie sie im Bildschirm-Universum Sinn machen mögen, aber nicht unbedingt für die Welt außerhalb davon. „Wirklichkeitsfernsehen“ hingegen wäre eine verstörende, allzu pädagogisch klingende Bezeichnung – Fernsehen, das den Bildungsauftrag tatsächlich noch ernst nähme. Nein, es geht um die allseits hochgelobten Fernsehserien meist amerikanischer Machart, die möglichst lebensnah und möglichst glaubwürdig an unterschiedliche gesellschaftliche Situationen heranzoomen, um diese in Kombination mit entsprechenden Schauspielerleistungen, Drehbüchern und auch sonstigem technisch-künstlerischem Aufwand über viele Stunden Sendezeit hinweg in all ihren Verästelungen zu sezieren. Mögen diese Serien nun „The Wire“, „Homeland“, „Mad Men“, „Sopranos“ oder sonstwie heißen, hier scheint man irgendwie klüger fürs Leben zu werden.

Mein Pech, denn ich habe es nicht so mit dem Fernsehen. Mag zwar snobistisch klingen, aber ich halte diese Nicht-Tätigkeit zu einem gehörigen Teil für Zeitverschwendung. Nicht weil da nur Schrott liefe, denn es gibt inzwischen ausreichend Auswahl, um sich auch ein interessantes Programm zusammenstellen zu können. Nein, ich mag einfach die Situation der strukturellen Passivität nicht, in die mich das Fernsehen zwingt. Nicht nur die individuelle Zeitorganisation hat sich nach dem Fernsehen auszurichten, sondern man muss auch in körperlich unterwürfiger Duldungsstarre verharren, um die Inhalte zu erwarten, die einem serviert werden. Die einzig vom Zuschauer erwartete Aktivität besteht in der Hantierung der Fernbedienung und dem möglichst geschickten Abpassen der Werbepausen, um körperlichen Bedürfnissen nachzukommen. Nicht mein Ding, vor allem wenn die guten Sendungen gar keine Werbepausen haben!

Natürlich sehe ich fern. Nach einer zwischenzeitlichen zehnjährigen Abstinenz bin ich schon seit Längerem wieder Mitbesitzer eines entsprechenden Übertragungsgeräts. Die Nachrichten versäume ich eher ungern, zuweilen wird auch Fußball konsumiert und manchmal darf es ein Film sein, den man eigentlich im Kino anschauen sollte. Das war es eigentlich. Wenn es da nicht ab und an die kleinen Schicksalsschläge des Lebens gäbe, die strukturelle Passivität zu einem wohligen Zustand werden lassen. Die gemeine mitteleuropäische Durchschnittserkältung beispielsweise, oder der winterliche grippale Infekt, die jeglichen Ansatz von Aktivität in einem kläglich Kreislaufkreiseln und einem undefinierbaren Hirnwabern enden lassen. Da bin ich dann doch einmal ganz dankbar für die Programmgestaltung der Fernsehanstalten und die Segnungen des Zappens.

Bei einer solchen, eigentlich eher unwillkommenen Gelegenheit durfte ich die Erfahrung machen, wie man aus Fernsehserien tatsächlich etwas lernen kann, sogar etwas über die Arten und Weisen des Geschichtemachens. „Whitechapel“ heißt die britische Krimi-Serie, deren Inhalte hier nicht im Einzelnen nachzuerzählen sind. Wichtig ist die personale Grundkonstellation, aus der die jeweiligen Fälle ihre Dramatik beziehen: Inspektor Joseph Chandler ist ein typisches Produkt der englischen upper-class, gebildet, sportlich, hoch gewachsen, gut aussehend, snobistisch, aber mit dem Herz am rechten Fleck – und ausgestattet mit ein paar neurotischen Anwandlungen; Ray Miles ist der raue, altgediente Polizeihaudegen mit eher proletarischem Hintergrund, hat daher zunächst seine Probleme mit Chandler, die aber zusehends von väterlicher Sympathie abgelöst werden; und Edward Buchan, der Nerd in der Runde, ein Hobby-Krimihistoriker, der zunächst eingeführt wird als Autor populärhistorischer Bücher und Stadtführer und der sein Geld mit Führungen für Touristen an die Orte des Verbrechens in Whitechapel verdient, im Lauf der Serie aber zum Archivar und zum historischen Berater der Mordkommission mutiert (und dabei von dem Raubein Ray Miles notorisch abgelehnt wird).

Zwischen Unmengen Kräutertee und Medikamenten von ungewisser Wirkkraft war es insbesondere diese Figur des Edward Buchan, die mit ihren Wandlungen mein Oberstübchen ein wenig zum Leben erwecken konnte. Denn seine Aufgaben und sein Verständnis von der Geschichte des Verbrechens verändern sich im Lauf der Serie erheblich, und zwar in einer Art und Weise, dass man daran fast eine Geschichte der Geschichtsschreibung in Kurzform festmachen könnte:

Phase 1: Historia Magistra Vitae. In der ersten Staffel geht im Londoner Stadtteil Whitechapel ein Copykiller um, der die Morde von Jack the Ripper detailgetreu nachahmt. Der neu berufene Inspektor Chandler gerät an den Ripper-Experten (ripperologist heißt der treffende Ausdruck im Englischen) Edward Buchan, der ihm aufgrund seiner historischen Kenntnisse genau vorhersagen kann, wann und unter welchen Umständen der jeweils nächste Mord geschehen wird. Seine aus der Vergangenheit gewonnenen Prognosen sind so genau, dass Buchan zeitweilig selbst unter Verdacht gerät. Geschichte wiederholt sich hier tatsächlich. Man kann aber auch aus ihr lernen, denn zumindest der letzte Ripper-Mord kann dank der historischen Expertise verhindert werden – die Geschichte ist die Lehrmeisterin des Lebens.

Phase 2: Historismus. Edward Buchan hat sich von seiner Tätigkeit als ripperologist losgesagt, weil ihm bewusst geworden ist, dass echte Morde nichts mit der Schauermärchenromantik des 19. Jahrhunderts zu tun haben. Wo Menschen tatsächlich sterben, kommt der nostalgische Voyeurismus an sein Ende. Buchan will sich mit seiner Expertise aber weiterhin nützlich machen und drängt sich der Polizei mit seinen Erkenntnissen auf. Inspektor Chandler sieht – trotz mancher Zweifel – den Erkenntnisgewinn, den ihm der rückwärtsgewandte Kriminalist verschafft. In einer weiteren kopierten Verbrecher-Karriere behaupten die Zwillingsbrüder Jimmy und Johnny Kray die Söhne von Ronnie Kray zu sein – der wiederum mit seinem Zwillingsbruder Reggie in den 1950er und 1960er Jahren Whitechapel unsicher gemacht hat. Wieder scheint sich Geschichte zu wiederholen, nun allerdings unter historistischen Vorzeichen: Die Polizei nutzt den Zugriff auf die historischen Quellen, soll heißen: auf die DNA der alten und der neuen Kray-Zwillinge, um den Schwindel auffliegen zu lassen. Denn bei der Wiederauflage der Verbrecherbrüder handelt es sich keineswegs um die Söhne von Ronnie Kray. Eine quellenkritische Geschichte hat die Wahrheit über Vergangenheit und Gegenwart ans Licht gebracht und damit dem mythisch angehauchten Spuk ein Ende bereitet.

Phase 3: Kritische Geschichte. Edward Buchan hat erreicht, was er wollte. Er ist als researcher bei der Mordkommission eingestellt, man könnte sagen: als polizeilich bestallter Kriminalitätshistoriker. Die Begründungen, die Inspektor Chandler für diese Personalentscheidung gibt, weisen der Geschichte nun eine kritische Rolle zu: Man soll nicht nur aus den 200 Jahren Verbrechensgeschichte lernen, die im hauseigenen Archiv lagern, sondern soll, vermittelt über dieses historische Material, auch eine andere Perspektive auf die jeweiligen Fälle gewinnen. Zusätzlich verändert sich die Rolle der Geschichte. Denn nun geht es nicht mehr um Copykiller, die die Vergangenheit imitieren. Die Situation wird komplexer. Buchan sitzt in seinem Archivkeller und soll die Berge an Akten über vergangene Verbrechen mit einem strukturierenden und systematisierenden Blick durchforsten. An die Stelle der Geschichte einzelner großer Kriminalfälle tritt nun die Strukturgeschichte mit ihrem typisierenden Verfahren. Zugleich muss der Polizeihistoriker jedoch erkennen, dass ihm mit dieser Zunahme an Komplexität auch die Fähigkeit der eindeutigen historisierenden Prognose verloren gegangen ist. Er kann nicht mehr vorhersagen, wann und wie ein Verbrechen geschehen wird, kann nur noch historisch gewonnene Muster erstellen. Weil diese jedoch nicht immer zutreffen, sterben Menschen. Buchan stellt die Sinnfrage und gerät in eine ernsthafte Krise.

Phase 4: Was nun? Mit einem verzweifelten Buchan, der aufgrund seiner Unzulänglichkeiten – die Geschichte ist nicht mehr Lehrmeisterin des Lebens! – inzwischen auch psychologische Hilfe in Anspruch nehmen muss, endet die dritte Staffel. Die Tragik wird noch dadurch gesteigert, dass Buchan auch den Tod seiner Psychologin nicht verhindern kann. Die Geschichte ist nicht nur kritisch geworden, sondern zugleich in eine handfeste Krise geraten. Wie in der kritischen Sozialgeschichte der 1970er Jahre wird auch hier die Frage gestellt: Wozu noch Geschichte?

Eine vierte Staffel der Serie ist offensichtlich geplant. Stellt sich die Frage, wie es weitergehen könnte mit unserem Polizeihistoriker und der Rolle der Geschichte bei der Bewältigung der Wirklichkeit (des Verbrechens). Nur konsequent wäre eine postmoderne Wende. Denkbar wäre eine Staffel, in der ein Archivaußen konsequent negiert wird, in der sich das Verbrechen nun im Archiv und seinen Akten abspielt, in der der Archivar möglicherweise selbst zum Mörder, zum Vollstrecker der historischen Überlieferung wird – und sich dabei im Archiv selbst auf die Schliche kommt. Der Polizeihistoriker würde dann möglicherweise verschwinden, aber das Archiv würde in all seiner zwielichtigen Bedrohlichkeit weiterbestehen.

Aber dann müsste auch noch eine fünfte Staffel folgen, in der das Verhältnis von Geschichte und Wirklichkeit, von Vergangenheit und Gegenwart neu und offen verhandelt würde. Dann ließen sich geschichtstheoretische Überlegungen in die Mordfälle einbauen, die das komplexe Wechselverhältnis zwischen einer Gegenwart und ihren verschiedenen Möglichkeiten der Bezugnahme zur Vergangenheit thematisieren. Dabei kann es auch nicht mehr genügen, ein dichotomisches Verhältnis zwischen Vergangenheit und Gegenwart zu unterstellen, sondern vergangene Gegenwart müsste als Teil unseres Hier und Jetzt offenbar werden, ohne zur Lehrmeisterin degradiert zu werden.

Zugegeben, ein wenig telegener Vorschlag. Ein Glück für dieses Medium, dass ich mir keine Fernsehmorde ausdenken muss. Ich kann nur hoffen, dass mich die nächste Erkältung zum richtigen Zeitpunkt niederstreckt – genau dann, wenn die vierte Staffel ausgestrahlt wird und ich mich gerne passiv berieseln und von geschichtstheoretisch affinen Serien belehren lasse.


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Quelle: https://achimlandwehr.wordpress.com/2013/04/26/05-whitechapel-und-das-morderische-geschichtsfernsehen/

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