Umfrage: Preprints, Open Peer Review und ein Fachrepositorium in der Mediävistik

Bisher ist es nicht mehr als ein Eindruck: Die Publikationskultur in den mediävistischen Disziplinen – zumindest in der Geschichtswissenschaft – scheint sich seit diesem Jahr in einem fundamentalen Punkt zu ändern. Bisher gab es weder etablierte Möglichkeiten noch den erkennbaren…

Quelle: http://mittelalter.hypotheses.org/6874

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Jakob von Vitry: Okzidentale Geschichte (Jacobus de Vitriaco: Historia Occidentalis, deutsch), 6

[Fortsetzung des Übersetzungsprojekts]

Sechstes Kapitel

Über die Heimsuchung der abendländischen Kirche. Über das Leben und die Predigt des Priesters Fulk von Neuilly[1]

In jenen Tagen erweckte der Gott des Himmels den Geist eines gewissen Landpriesters, sehr schlicht und ungebildet, aus dem Pariser Episkopat mit dem Namen Fulk. Wie er nämlich Fischer und Einfältige erwählte, um seinen Ruhm nicht einem anderen zu verleihen, so erwählte der Herr, weil die Geringen nach Brot verlangten, die Gebildeten jedoch, bemüht um eitle Disputationen und Wortgefechte, das Zerbrochene nicht heilten, sich erbarmend den genannten Priester, um seinen Weinberg zu bebauen. Er war wie ein Stern inmitten des Nebels und ein Regen in einer Trockenzeit, gleichsam ein zweiter Samgar, der durch den Pflug der rohen Predigt viele getötet hatte. Nicht hielt (der Herr) im Zorn seine Barmherzigkeit zurück. Als er erzürnt war, gedachte er seines Mitleids, denn er wusste, der Mensch ist Fleisch, ein flüchtiger und nicht wiederkehrender Windhauch.

Dieser genannte Fulk also, der gleichsam irdisch gesinnt gewesen war und nicht erkannte hatte, was Gottes ist, hatte zuvor ein sehr weltliches Lebens gelebt und, selbst außerordentlich zügellos, seinem ungestümen Pferd die Zügel weit gelockert. Weil es ihm (Gott), der denselben aus der Dunkelheit ins Licht zurückrief, damit ihm, wo er Sünde im Überfluss gehabt hatte, nun die Gnade umso größer sei, jedoch gefiel, fand dieser keine dauerhafte Ruhe in Fleisch und Blut, sondern, verwandelt in einen anderen Mann und den Geist in Fieber entbrannt, beschritt er den beschwerlichen Weg und wollte durch die enge Pforte schreiten. Weil er nämlich inne wurde, dass das Himmelreich Gewalt zulässt und die Gewalttätigen es auseinanderreißen, begann er die harte Buße und die schweren Wege. Da er viele Beispiele der Verworfenheit an seine Untergebenen weitergegeben hatte, nahm er sie nicht nur als Beispiel des Lebens, sondern auch als häufige Warnung und Aufforderung der Lehre, auf den Weg der Wahrheit zurückzurufen. So bewunderten alle, dass aus dem Saulus ein Paulus wurde, während der Herr den Wolf in ein Schaf und den Raben in eine Taube verwandelte.

Weil er sich aber dafür schämte, dass er ein Einfaltspinsel und ungebildeter Mann war und die göttlichen Schriften nicht kannte, machte er sich auf nach Paris, um an den theologischen Schulen[2] einige maßgebliche Aussprüche und moralische Beispiele zu sammeln, die er auf seine von ihm mitgeführten Tafeln schrieb – gleichsam als reinste Steine, um sie auf Goliath zu werfen.

[1] † 1201

[2] Fulk von Neuilly war Schüler von Petrus Cantor († 1197) und wird daher (u.a.?) an der Domschule von Notre-Dame unterrichtet worden sein.

D O W N L O A D

(pdf-Version)

Empfohlene Zitierweise: Jakob von Vitry: Okzidentale Geschichte 4, übers. von Christina Franke, in: Mittelalter. Interdisziplinäre Forschung und Rezeptionsgeschichte, 8. Juni 2014, http://mittelalter.hypotheses.org/3879 (ISSN 2197-6120).

Quelle: http://mittelalter.hypotheses.org/3879

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Interdisziplinärer Sommerkurs „Inschrift – Handschrift – Buchdruck. Medien der Schriftkultur im späten Mittelalter“ Greifswald, 21. – 27. September 2014

Rubenowstein Greifswald (Christine Magin 2014)

Rubenowstein Marienkirche Greifswald
(Christine Magin 2014)

In den letzten Jahren sind aus den Studienplänen vieler mediävistischer Disziplinen Seminare sowie praktische Übungen zu Arbeitstechniken verschwunden, die für den Umgang mit mittelalterlichen Originalquellen unerlässlich sind. Die „Arbeitsstelle Inschriften“ der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, die am Historischen Institut der Universität Greifswald verortet ist, führt daher vom 21. – 27. September 2014 (Anreise am 21.9.) den interdisziplinären Sommerkurs „Inschrift – Handschrift – Buchdruck. Medien der Schriftkultur im späten Mittelalter“ durch. Ziel des Kurses ist die Vermittlung fächerübergreifend anwendbarer Kenntnisse für die Arbeit mit spätmittelalterlichen Originaltexten in Form von Handschriften, Inschriften und Inkunabeln. Im Rahmen des Sommerkurses sollen die entsprechenden Medien behandelt und erworbene oder bestehende Kenntnisse sowohl durch praktische Übungen als auch durch eine Exkursion vertieft werden.

Der Sommerkurs versteht sich als Angebot für Master-Studierende und Promovierende der Fächer Geschichte, Deutsche und Lateinische Philologie des Mittelalters, Kunstgeschichte, Buchwissenschaften, Kirchengeschichte, Musikwissenschaften sowie Editions- und Historische Grundwissenschaften. Die Teilnehmer und Teilnehmerinnen sind ausdrücklich dazu aufgefordert, im Rahmen des Kurses eigene Master- und Dissertationsprojekte zu präsentieren und zur Diskussion zu stellen.

Die Veranstaltung wird am Alfried Krupp Wissenschaftskolleg in Greifswald sowie in der Universitätsbibliothek Greifswald und in Rostock stattfinden. Der Kurs wird gefördert von der Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung, Essen, und der Sparkasse Vorpommern. Für die kostenfreie Unterbringung auswärtiger Teilnehmer wird gesorgt. Ferner können Reisestipendien beantragt werden.

Bewerbungen werden bis zum 31. Mai 2014 (verlängerte Frist) erbeten. Weitere Hinweise für interessierte Bewerberinnen und Bewerber sowie Informationen zum Kursprogramm finden sich auf den Seiten des Mittelalterzentrums der Universität Greifswald unter www.phil.uni-greifswald.de/fk/maz/aktivitaeten.html.

Quelle: http://mittelalter.hypotheses.org/3700

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Überlegungen zur gesellschaftlichen Relevanz vasallitischer Beziehungen in der Karolingerzeit

[1] Wenn sich 2014 das Erscheinen von Susan Reynolds Werk „Fiefs and Vassals“ zum zwanzigsten Mal jährt,[2] kommen wir nicht umher zu konstatieren, dass sich unser Bild des anscheinend so feststehenden Konstrukts des „Lehnswesens“ seit 1994 fundamental wandelt. Grundlegend ist dabei für das Frühmittelalter die massive Dekonstruktion des lange Zeit feststehenden Diktums einer vasallitisch durchstrukturierten Gesellschaft der Karolingerzeit. Stattdessen sehen wir heute ein „reichlich diffuses Spektrum mannigfaltiger Möglichkeiten, personale Bindungen zu begründen“, wie es Steffen Patzold kürzlich so treffend betonte.[3] Vor diesem Hintergrund dürfen wir aber eines nicht vergessen, nämlich dass Vasallen ein Teil der damaligen gesellschaftlichen Realität waren, auch wenn ihre Bedeutung für das strukturelle Gefüge des Karolingerreiches längst nicht so groß war, wie früher angenommen.[4] Interessanterweise wird in der Forschung nun aber sehr viel Wert, durchaus zu Recht, auf die Frage gelegt, welche Bedeutung das Benefizium oder besser gesagt, die Landleihe im Allgemeinen im Rahmen der Herstellung besagter personaler Beziehungen hatte. Das Element der Vasallität erscheint dagegen eher, etwas zugespitzt ausgedrückt, als eine Art Randphänomen, denn, um nochmals Steffen Patzold zu zitieren: „Was sich Handfestes über die vassi und vassalli sagen läßt […], ist nicht allzu viel […].“[5]

Ich möchte im Folgenden daher einige Bemerkungen zu der Frage machen, welche gesellschaftliche Relevanz die Vasallität als Mittel einer personalen Bindung unter diesen Umständen nun tatsächlich im 9. Jahrhundert besaß. Beginnen wir mit einigen statistischen Betrachtungen. Aus Freising sind uns durch den Diakon Cozroh für den Zeitraum zwischen 800 und 900 ca. 850 Urkunden überliefert. Nur in sieben von ihnen tritt der Begriff vassus bzw. vassallus auf, also in einem Anteil von etwa 0,8%.[6] Aus den Passauer und Regensburger Traditionen ergibt sich ein kaum besserer Befund. Etwa vierzig Passauer Traditionen sind uns aus dem 9. Jahrhundert überliefert, zwei, also 5% von diesen, enthalten die genannten Begriffe.[7] Aus Regensburg kennen wir ca. 170 zwischen 800 und 900 verfasste Urkunden. Sieben dieser Urkunden beinhalten vassus oder vassallus, etwa 4,1%.[8] Uns liegen also insgesamt ca. 1060 Urkunden aus diesen drei Überlieferungszusammenhängen vor. Die Ausdrücke vassus bzw. vassallus werden jedoch nur in sechzehn Stücken gebraucht, einem Anteil von etwa 1,5%. Auch für St. Gallen sieht der Befund nicht besser aus. Auf insgesamt etwa 800 Originale für die Zeit zwischen 700 und 920 kommen nur sechs Urkunden, in denen namentlich genannte Vasallen überliefert werden, wobei die erste erst von 864 datiert und nur eine dieser sechs keine Königsurkunde ist.[9]

Ich bin mir über die grundsätzliche Problematik dieser statistischen Befunde angesichts der Überlieferungsproblematik durchaus im Klaren, dennoch halte ich sie für aussagekräftig, zumal sie in bezeichnender Weise mit der aus diesen Urkunden bekannten Anzahl der Vasallen auffällig kontrastiert. Allein in zwei Freisinger Gerichtsurkunden des Jahres 822 werden einmal 16 vassi dominici[10] und einmal sogar 56 vassalli[11] aufgezählt, die an dem jeweiligen Urteil beteiligt waren. Woher kommt diese auffallende Diskrepanz zwischen der relativ hohen Anzahl der an Gerichtsverhandlungen und Rechtsgeschäften ihres jeweiligen Herrn beteiligten Vasallen und der kaum vorhandenen Bereitschaft, die eigene Position als vassus bzw. vassallus bei eigenen Rechtshandlungen anzuzeigen? In einer eigenen Schenkung, die zudem nicht einmal Landbesitz umfasste, wird allein Meginhart, der 819 in Pannonien dem Kloster Freising einen Reliquienbehälter und Weidevieh übergab, ausdrücklich als vassus dominicus bezeichnet.[12] Hatte Meginhart selbst ein Interesse daran, seine Stellung in dieser Form in der Urkunde erwähnt zu sehen? Wir wissen es nicht, wenn dem so wäre, wäre er allerdings die absolute Ausnahme gewesen.

Es scheint seitens der Vasallen in jedem Fall wenig Interesse daran bestanden zu haben, als solche aufzutreten, wenn sie nicht für ihren Herrn tätig waren oder in offizieller Funktion bei Gericht auftraten. Dabei konnten sie durchaus wichtige Positionen einnehmen. Die 16 vassi dominici aus der Gerichtsurkunde von 822 wurden beispielsweise direkt hinter dem publicus iudex Kysalhart und dem Grafen Liutpald aufgeführt, noch vor den übrigen Zeugen.[13] Dies hängt sicherlich damit zusammen, dass der beklagte Adaluni angegeben hatte, die umstrittene Kirche zur einen Hälfte als Eigentum, zur anderen Hälfte als beneficium dominicum besessen zu haben. Die Vasallen traten also geradezu als regionale „Experten“ für die Belange Ludwigs des Frommen auf.[14] Wir können an diesem Beispiel sehr gut sehen, dass ihre Dienste auch außerhalb des Kriegswesens von hoher Relevanz waren.

Warum verschwiegen Vasallen trotz ihrer hohen Bedeutung ihren eigenen Status dennoch so konsequent, wenn es um Schenkungen oder Tauschgeschäfte ging, die keinen Bezug zu ihrer Stellung oder zum eventuell an sie verliehenen Gut hatten? Der Grund dafür dürfte in der Feststellung liegen, dass sowohl Herren als auch Vasallen die Vasallität unter einem bestimmten Blickwinkel betrachteten, der beide Seiten zu unterschiedlichen Folgerungen bezüglich des eigenen Status in dieser personalen Bindung führte.

Um das zu erklären, muss man auf die Wurzeln der Vasallität verweisen. Vassus ist eine Ableitung vom keltischen gwas, was so viel bedeutet wie „Knecht“.[15] Im sogenannten Pactus Legis Salicae vom Anfang des 6. Jahrhunderts wird ein vassus ad ministerium, quod est horogauo im Zusammenhang mit Schmieden erwähnt.[16] Von Vasallen freier Herkunft ist erst zu Beginn des 8. Jahrhunderts in der Lex Alamannorum die Rede.[17] Diese langsame Entwicklung schien sich nach Ansicht der älteren Forschung stark zu beschleunigen, als der bayerische Herzog Tassilo III. Pippin dem Jüngeren und dessen Söhnen nach Auskunft der Reichsannalen 757 Treue gelobte, ergeben, wie ein vassus seinem dominus gegenüber sein soll.[18] 787 soll er sich sogar in die Hände Karls des Großen in vassaticum tradiert haben.[19] Spätestens seit Matthias Bechers grundlegender Neuinterpretation der Vorgänge dürfte deutlich geworden sein, wie sehr unsere Hauptquelle, die um 790 am Hofe Karls verfassten Reichsannalen, unser Bild dieser Vorgänge bestimmt hat. Dass Tassilo sich 757 bzw. 787 wirklich in die Vasallität der Karolinger begeben haben soll, dürfte kaum aufrecht zu erhalten sein.[20] In jedem Fall ist herauszustellen, dass die Eingehung einer vasallitischen Bindung zwischen dem bayerischen Herzog und dem fränkischen König vom Verfasser der Reichsannalen sehr stark betont wurde, was ein Hinweis darauf sein dürfte, dass dieser ganze Vorgang den späteren Treuebruch als umso schlimmer erscheinen lassen sollte. Betrachtet man jedoch die Herkunft der Vasallität aus einem unfreien und gesellschaftlich wenig angesehenen Umfeld, sollte man nicht außer Acht lassen, dass Tassilos Inferiorität durch diese Formulierungen zusätzlich verdeutlicht wurde. Zeitgenössische Anhänger Tassilos hätten die Betonung einer vasallitischen Beziehung mit Sicherheit als Herabsetzung und Demütigung ihres Herzogs angesehen.

Ähnlich, wenn auch nicht direkt mit dem Begriff der Vasallität verbunden, erscheint vor diesem Hintergrund die Beschreibung der Kommendation des Dänenkönigs Harald Klak 826 im Gedicht In honorem Hludovici christianissimi Caesaris Augusti des Ermoldus Nigellus. Während der auf seine Taufe folgenden Jagd habe er sich und sein Reich mittels einer Kommendation an Ludwig den Frommen tradiert und gelobt, dass er sich seinen servitii zur Verfügung stellen wolle. Harald sei so zu Ludwigs fidelis geworden.[21] Ermoldus gibt keine Grundlage dafür her, hier eine vasallitische Kommendation anzunehmen, der Ritus selbst wird jedoch als klare Unterwerfungsgeste definiert und bewegt sich damit auf einer Linie mit der Beschreibung der Kommendation Tassilos in den Reichsannalen. Bedenkt man, dass Harald einige Jahre zuvor vor den Söhnen des 810 ermordeten Dänenkönigs Göttrik geflohen war, wird deutlich, dass Machtlosigkeit und eigene Schwäche Haralds Kommendation geradezu bedingten.[22] Sieht man sich etwa die Beschreibungen der Kommendationen anderer Normannenführer des 9. Jahrhunderts an, so bestätigt sich dieser Eindruck.

858 erschien der dux eines Teils der Seine-Normannen, Berno, vor Karl dem Kahlen, gab sich in die Hände des westfränkischen Königs und leistete ihm einen Treueid.[23] 862 kommendierte sich der dux Weland Karl und leistete ihm mit den anderen anwesenden Normannen einen Eid.[24] 873 belagerte Karl Angers, das von den Normannen besetzt war. Schließlich kommendierten sich ihm die normannischen Großen, leisteten ihm Eide und stellten Geiseln.[25] Alle drei hier beschriebenen Kommendationen können mit der Situation Haralds verglichen werden, denn auch die Normannen willigten  in einer Notsituation in die Kommendation ein.[26] Berno wird ausdrücklich als dux partis pyratarum Sequanae bezeichnet, vielleicht ein Hinweis darauf, dass es unter den Seine-Normannen zu Unstimmigkeiten gekommen und seine Position nicht ungefährdet war.[27] Kurz vor der Kommendation Welands war es Karl gelungen, dessen Sohn gefangen zu nehmen. Möglicherweise benutzte er ihn, um Weland zur Unterwerfung zu zwingen.[28] Klarer ist die Situation in Bezug auf die in Angers eingeschlossenen Normannen, die sich Karl ergeben mussten. Begriffe, die auf eine vasallitische Kommendation hindeuten könnten, werden auch in anderen Quellen, die sich mit diesen Ereignissen oder Personen beschäftigen, nicht genannt.[29]

Noch deutlicher wird die Verbindung von Vasallität und Inferiorität, wenn man sich dem Epitaphium Arsenii des Paschasius Radbertus zuwendet. In c. 17 des zweiten Buches dokumentiert Radbertus mehrere capitula, die die drei ältesten Söhne Ludwigs des Frommen, Lothar I., Ludwig der Deutsche und Pippin I. von Aquitanien wohl im Juni 833 kurz vor dem Abfall des kaiserlichen Heeres von Ludwig auf dem „Lügenfeld“ von Colmar als Antwort auf Beschwerden ihres Vaters verfasst hatten. In einem dieser capitula betonte Ludwig: „Erinnert euch, dass ihr meine Vasallen (vasalli) seid und dass ihr mir durch einen Eid Treue geschworen habt.“ Diese antworteten, dass es der Fall sei, dass sie von Natur aus, durch Versprechen und durch Treueide seine fideles seien und niemals den militärischen Dienst für ihn verweigert hätten. Ludwigs Ruhm, Ehre und prosperitas seien ihnen wichtiger als ihr eigenes Leben.[30]

Die Stellungnahmen des Kaisers scheinen nur verkürzt und zusammengefasst überliefert worden zu sein.[31] Da Radbert im Epitaphium die Vita Abt Walas von Corbie beschrieb, eines Anhängers Lothars, betrachtete er den Standpunkt der Söhne natürlich mit einer gewissen Sympathie.[32] In der Antwort der Söhne wird bezeichnenderweise der Begriff vasallus vermieden, stattdessen verwenden sie den Ausdruck fideles. Aus ihrer Sicht stehen nicht die promissiones oder die sacramenta an erster Stelle der Begründung, warum sie fideles Ludwigs seien. Hier wird der Ausdruck a natura gebraucht, offenbar also auf den Umstand aufmerksam gemacht, dass Söhne und Väter in einem besonderen Treueverhältnis zueinander stehen, das bereits durch die Geburt geknüpft wurde. Dies weist darauf hin, dass der Begriff vasallus lediglich den untergeordneten Status der Söhne darstellen sollte. Dass dieses mit einem Ausdruck geschah, der durchaus missverständlich verstanden werden konnte, dürfte in der Absicht Radberts gelegen haben.[33]

Aus den genannten Beispielen wird eines deutlich: Unterwerfungsgesten, wie etwa die Kommendation, konnten im Nachhinein durchaus vasallitisch gedeutet werden, da die rituellen Elemente sich nicht wesentlich voneinander unterschieden. Insbesondere der Bericht des Paschasius Radbertus weist darauf hin, wie schwer der angebliche Anspruch Ludwigs des Frommen, dass seine Söhne Vasallen seien, deren Selbstverständnis angegriffen haben könnte. Die Verkürzung der komplexen Vater-Sohn-Beziehung weist, ebenso wie die beabsichtigte Falschdarstellung der Unterwerfung Tassilos durch die Reichsannalen, darauf hin, wie sehr das Denken bis weit ins 9. Jahrhundert hinein von der Inferiorität der Vasallen geprägt worden sein muss. Es ist nicht verwunderlich, dass im Ostfränkischen Reich erst ab dem 10. Jahrhundert Grafen ausdrücklich als Vasallen bezeichnet wurden.[34]

Neben diesen Quellen, die entweder im unmittelbaren Umfeld des karolingischen Hofes entstanden sind oder die die klare Perspektive einzelner Mitglieder der Herrscherfamilie vertraten, gibt es jedoch auch noch solche, die unabhängig davon verfasst wurden, wenn auch Vasallität bei Ihnen nur äußerst selten eine Rolle spielt. Sie tragen jedoch dazu bei, das einseitige Bild, das sich uns bislang geboten hat, zu korrigieren. Es sei zunächst auf die zeitgenössischen Annales Laureshamenses verwiesen, die den Abodritenfürst Witzan anlässlich seiner Ermordung 795 als rex und vassus Karls des Großen bezeichnen.[35] Es ist aus zwei Gründen nahezu ausgeschlossen, dass hier eine technische Verwendung des Begriffes vorliegt.

Zum einen ist es die im Chronicon Moissiacense bezeugte Verwendung des Begriffs Vasall auf die Verhältnisse zwischen Dänenkönig Göttrik und seinen Untergebenen. Zum Jahre 810 wird berichtet, dass der Abodritenfürst Drasco durch einen vassallus Göttriks ermordet wurde. Noch im gleichen Jahr fiel auch Göttrik selbst dem Mordanschlag eines seiner vassalli zum Opfer.[36] Offensichtlich hat der Verfasser des Textes hier versucht, ihm bekannte Institutionen auf Beziehungen zu übertragen, deren genaue Natur ihm nicht vertraut war. Man wird kaum davon ausgehen dürfen, dass dies die Existenz vasallitischer Strukturen bei den Dänen bezeugt. In unserem Zusammenhang gewinnen diese Berichte nun insofern an Bedeutung, als dass das Chronicon Moissiacense sich dabei wohl im Wesentlichen auf eine nicht erhaltene Ausgabe der Lorscher Annalen stützte, die über das Jahr 803 hinaus weitergeführt wurde.[37] Wenn wir nun in Bezug auf Göttrik den offensichtlich untechnischen Gebrauch des Begriffs vassallus herausgestellt haben, so ist zu überlegen, ob nicht auch die Beziehung Witzans zu Karl dem Großen durch den Annalenschreiber mit dem Wort vassus nur eine verherrlichende Umschreibung der völligen Abhängigkeit des Abodritenfürsten von Karls Gunst war und nicht im technischen Sinne gebraucht wurde. Zum anderen wird diese Problematik noch deutlicher, wenn man berücksichtigt, dass Witzan der einzige Heide wäre, den wir als Vasallen bezeugt hätten. Es war durchaus nicht unüblich, dass sich Nichtchristen dem fränkischen Herrscher unterwarfen und sich ihm kommendierten.[38] Doch handelte es sich in keinem Fall um eine Kommendation mit vasallitischen Implikationen. Sollte sich also Witzan gegenüber Karl kommendiert haben, so wäre es durchaus nachvollziehbar, dass der Verfasser der Lorscher Annalen versuchte, diese Beziehung mit dem Begriff vassus zu umschreiben. Der in Bezug auf Göttrik gezeigte untechnische Gebrauch dieses Wortes hätte also bereits hier seinen Niederschlag gefunden.

Ein weiterer Beleg stammt aus den Gesta Karoli Magni des Notker Balbulus aus den 880er Jahren. Er berichtet dort, dass Ludwig der Fromme seinem Vater Ludwig den Deutschen, der zu diesem Zeitpunkt sechs Jahre alt war, vorstellen wollte. Als Karl ihn unter den anderen statores stehend bemerkte, erkundigte er sich, wem dieser Junge gehöre. Auf Ludwigs Antwort, dass es seiner sei und dass er, wenn Karl ihn für würdig halte, ihm gehören würde, antwortete der Kaiser: „Gib ihn mir.“ Karl küsste den Knaben und schickte ihn wieder an seinen alten Platz zurück, Ludwig der Deutsche jedoch stellte sich in die gleiche Reihe wie sein Vater. Auf Karls Aufforderung hin fragte Ludwig der Fromme nach, warum er das getan habe. Daraufhin antwortete der junge Ludwig, dass, solange er ein vassallus seines Vaters war, sein Platz hinter diesem, inmitten seiner commilitones gewesen sei. Da er nun aber ein socius und commilito seines Vaters geworden sei, sei er nicht im Unrecht, wenn er sich ihm gleichstelle.[39]

In der historischen Forschung ist man sich schon länger einig, dass Notkers Werk mehr ist als ein Fürstenspiegel. Aus ihm können wir viele Informationen über die soziale und verfassungsrechtliche Wirklichkeit innerhalb des Frankenreichs gegen Ende des 9. Jahrhunderts gewinnen.[40] Welche Aussage steht aber hinter der hier geschilderten Episode? Hans-Werner Goetz sah den Begriff vassallus bei Notker nicht als einen technisch gebrauchten Ausdruck an, sondern betonte, dass er ein „auszeichnender Begriff für die königlichen Gefolgsleute“ gewesen sein soll.[41] Er bezieht sich hierbei auf eine Stelle in Notkers Werk, in der Karl seine legati als optimi vassalli anredet.[42] Seine Auffassung dürfte dort korrekt sein, jedoch muss eine solche Interpretation bei anderen Stellen Notkers nicht unbedingt in dieselbe Richtung verweisen.[43]

Am ehesten lässt sich vielleicht eine untechnische Verwendung dieses Begriffes bei Notkers Beschreibung der Taufe von Normannen zur Zeit Ludwigs des Frommen wiederfinden. Da es sich bei den Normannen herumgesprochen hatte, dass sie bei der Taufe kostbare Geschenke zu erwarten hätten, kamen von Jahr zu Jahr mehr von ihnen am Ostersamstag zum Kaiser, jedoch nicht mehr als fremde legati, sondern als äußerst ergebene vassalli, sich in das obsequium des Kaisers einstellend.[44] Die Getauften wurden von den primores palacii quasi als Adoptivsöhne angenommen, man schuf also einen mit der Taufe Harald Klaks vergleichbaren Kontext. Aus der Erzählung geht nun hervor, dass die Normannen offenbar immer wieder in ihre Heimat zurückkehrten. Wären sie „wirkliche“ Vasallen geworden, wäre ein solches Verhalten kaum zu erklären. Offenbar war das Verhältnis, das Notker hier zwischen Ludwig und den Normannen entwarf, sehr viel unverbindlicher als eines, das auf Vasallität im technischen Sinn aufgebaut worden wäre. Da die Normannen durch die Adoption seitens der primores palacii in ein enges Verhältnis zum fränkischen Hof getreten waren, darf man davon ausgehen, dass hier eindeutig ein „auszeichnender Begriff“ im Sinne von Goetz verwendet wurde.

Auf diese Weise dürfte sich auch das Verhältnis Ludwigs des Deutschen zu seinem Vater und seinem Großvater erklären lassen. Nicht eine vasallitische Bindung, die nicht nachgewiesen werden kann, sondern das quasi naturgegebene obsequium eines Sohnes gegenüber dem Vater macht das „Vasallenverhältnis“ Ludwigs des Deutschen zu Ludwig dem Frommen aus. Durch den Kuss des Großvaters und den Satz „Gib ihn mir!“ rückt ersterer gegenüber Karl in eine Stellung auf, die mit der des Vaters vergleichbar ist, bestimmt durch die Nähe zum Herrscher.[45]  Wie bereits am Beispiel des Paschasius Radbertus gesehen, dürfte auch hier die Treue a natura, die Vater und Großvater zu schulden war, grundlegend für das Verhältnis Ludwigs zu diesen gewesen sein, jedoch mit der entscheidenden Wendung, dass es offenbar nicht negativ verstanden wurde.

Es dürfte deutlich geworden sein, dass offenbar ein, wenn ich es so nennen darf, technisches und ein, wenn auch weniger gebräuchliches, untechnisches Verständnis von „Vasallität“ nebeneinander existierten, einmal mit einem klaren Unterordnungsaspekt, in dem sich die Herkunft des Wortes vassus widerspiegelt, und einmal eher als „Auszeichnung“, durch die sich der Träger von anderen Personen durch die spezielle Beziehung zum jeweiligen Herrn hervorhob. Warum aber war die technische Auffassung so dominierend, dass die Vasallen diese Sicht übernahmen und ihre Position nicht als Heraushebung verstanden?

Der Grund dafür dürfte in der Art der Beziehung der Vasallen zum Königshof zu suchen sein. In der Zeit der Merowinger sind die pueri regis bezeugt, deren militärische und Botendienste denen der späteren Vasallen nicht ganz unähnlich sind.[46] Hierbei handelte es sich um unfreie und freie Personen, die wohl den Söhnen adliger Familien, die zur Erziehung bei Hofe waren, nicht gleichgestellt waren, obwohl es durchaus möglich ist, dass sie zusammen mit ihnen unterrichtet wurden. So lässt sich die enge Beziehung, die selbst Angehörige der Königsfamilie zu pueri hatten, leicht erklären.[47] In den karolingischen Zeugnissen über Personen, die bei Hof militärisch ausgebildet wurden, ist jedoch von pueri in der Regel nicht mehr die Rede. Sehr viel öfter hören wir stattdessen von iuvenes. Dieser Ausdruck wurde auf diejenigen angewandt, die eine Ausbildung an Waffen erhalten hatten, aber eher dem Adel entstammten, was etwa an den iuvenes zu sehen ist, die den westfränkischen König Karlmann 884 auf der Jagd im Wald Bezu begleiteten, auf der er zu Tode kam.[48]

Die Quellen bestätigen, dass die Art der Unterweisung der adligen Jugendlichen sich gegenüber dem Unterricht, den die pueri der Merowingerzeit genossen, nicht wesentlich verändert hatte. Noch immer stand die militärische Ausbildung im Vordergrund. Dies wird etwa aus der um 830 entstandenen Fassung der Vita des hl. Wandregisel deutlich. In der ältesten Vita, die aus dem 8. Jahrhundert stammt, wird der Dienst des jungen Wandregisel bei König Dagobert nur kurz angerissen.[49] Dagegen wird dieser Aspekt in der jüngeren Version weiter mit den Inhalten der Ausbildung ausgeschmückt, wobei die militärische Ausbildung an erster Stelle genannt wird.[50] Die durch Wilhelm Levison dem um 800 lebenden Metzer Diakon Donatus zugeschriebene Vita des Abtes Ermenland von Indre, berichtet, dass die Eltern des zukünftigen Abtes über sein angehäuftes „Bücherwissen“ anscheinend beunruhigt waren und eine andere Laufbahn für ihren Sohn vorgesehen hatten. Sie führten ihn in die aula regia ein und kommendierten ihn dem König zur militärischen Unterweisung und Dienstleistung.[51] Auch wenn neben der Unterweisung in militärischen Dingen ebenfalls eine vorgelagerte Wissensvermittlung zur geistigen Reifung der jungen Adligen zum Unterricht gehörte, wie es Einhard für die Söhne Karls des Großen überliefert,[52] wird doch der Unterschied der Formung einer kriegerisch und aristokratisch geprägten Maskulinität zur rein geistigen Ausbildung an der Hofschule deutlich.[53]

Welche Verbindung lässt sich nun von den iuvenes zu den Vasallen ziehen? Diese ergibt sich aus der Schrift De ordine palatii, die Hinkmar von Reims 882 verfasste, wobei er sich aber in maßgeblicher Weise auf ein nicht mehr überliefertes Werk des Abtes Adalhard von Corbie stützte, das entweder bald nach 781 oder zwischen 810 und 814 entstanden war.[54] Teil dieses Werkes Adalhards dürfte auch die Beschreibung der Aufteilung der Hofgesellschaft sein, die aus drei ordines bestanden haben soll. Die erste Gruppe waren die expediti milites ohne besonderes Amt, die von hohen Herren versorgt wurden und insbesondere von den Inhabern der Hofämter immer wieder zum gemeinsamen Mahl und zur Bekräftigung ihrer freundschaftlichen Bindungen eingeladen wurden. Die zweite Gruppe waren die discipuli, die ihrem Lehrer folgten und von denen jeder einzelne an seinem locus von ihren Herren durch Aufsicht und Ansprache gefördert wurde. Die dritte Gruppe schließlich waren die pueri vel vassalli der höheren und geringeren Leute, die jeder, der sie ohne Verfehlung unterhalten könne, um sich haben wollte.[55]

Von allen drei ordines, das macht schon die Stellung in der Aufzählung deutlich, dürften die expediti milites wohl die angesehenste Gruppe bei Hofe gewesen sein. Hierbei wird es sich um die Vasallen gehandelt haben, die zumindest über längere Zeiträume bei Hofe anwesend waren.[56] Schon die Art der Gaben, die sie erhielten, u.a. Gold, Silber und Pferde, weist darauf hin, dass sie aus höheren Kreisen stammten. Von ihnen unterschieden werden die discipuli. Es ist nicht sicher, wer unter diese Personengruppe fiel. Während Brigitte Kasten annahm, dass es sich um die „Verwaltungshochschule“ der Karolinger handelte, in der die jungen Adligen von den Inhabern der Hofämter unterrichtet würden,[57] sah Bernard Bachrach hierin eher die Schule für die zukünftigen Kommandeure des karolingischen Heeres.[58] Bedenken wir, dass geistige und militärische Ausbildung bei den jungen Adligen durchaus zusammenfallen konnten, sollte man nicht ausschließen, dass beide Ansichten zu berücksichtigen sind, obwohl der militärische Anteil bedeutsamer gewesen dürfte.

Wenden wir uns schließlich dem dritten ordo zu, den pueri vel vassalli der höheren und geringeren Leute. Auch diese durften nach Ausweis Adalhards bzw. Hinkmars eigene bewaffnete Gruppen unterhalten, aber nur unter der Bedingung, dass sie es sich auch leisten konnten. Bemerkenswert ist hierbei, dass für diesen ordo offenbar zwei Bezeichnungen synonym gebraucht werden konnten. Bedenkt man die Herkunft der Begriffe puer und vassallus aus ursprünglich unfreien Zusammenhängen, ist es verständlich, dass sie nur im Zusammenhang mit den Untergebenen der Angehörigen des Hofes verwendet wurde. Geht man davon aus, dass die expediti milites die Königsvasallen bei Hofe waren, die von den discipuli abgegrenzt wurden und aufgrund ihrer Beziehung zum Herrscher offenbar schon eine erhöhte Stellung eingenommen hatten, scheint Adalhard die Bezeichnungen für den dritten ordo in diesem Zusammenhang als wenig angemessen empfunden zu haben und nahm daher eine Beschränkung auf die Untergebenen der Angehörigen des Hofes vor.[59]

Wie dem auch sei, in De ordine palatii wurden also die Jugendlichen bei Hofe von denen unterschieden, die bereits voll ausgebildet waren. Somit darf man annehmen, dass die discipuli mit Beendigung ihrer Ausbildung expediti milites wurden. Ausgehend von dieser Prämisse, ist es sehr wahrscheinlich, dass die discipuli in anderen Quellen als iuvenes bezeichnet wurden. Beide wurden am Hofe ausgebildet, gehörten dem Adel an und stellten das militärische Gefolge des Königs. Des Weiteren können wir davon ausgehen, dass hinter den expediti milites Königsvasallen zu sehen sind, eine Auffassung, die zusätzlich dadurch bestärkt wird, dass sie absque ministeriis, also keine Grafen waren, und ad regale obsequium inflammatum animum ardentius hattenhahh, somit offenbar nicht nur auf bestimmte Aufgabenbereiche, etwa militärische, beschränkt waren.[60] Damit dürfte deutlich geworden sein, dass die iuvenes am karolingischen Hof zum einen als Schüler, zum anderen aber auch als Vorstufe der Vasallen zu sehen sind und dass Königsvasallen zumindest Teile ihrer Ausbildung am Königshof erhielten.

Im Rahmen dieser Ausbildung dürfte eine enge Bindung zum König geknüpft worden sein. Gleichzeitig war damit aber auch die Grundlage dafür gegeben, dass die am Hof herrschende Auffassung von Vasallität als ungleiche Beziehung auch von den Vasallen selbst aufgenommen und so ein Teil der gesellschaftlichen Realität wurde. Man kann also in diesem Fall von einer gezielten Systematisierung des Sprachgebrauchs im Sinne des Hofes ausgehen, wie er etwa im Falle Tassilos zum Ausdruck kam. Diesem entspricht auch die Feststellung Brigitte Kastens, dass Grafen, Äbte und Bischöfe nicht als Vasallen bezeichnet wurden, weil ihr Amt als Teilhabe an einem göttlichen Herrschaftsauftrag interpretiert wurde, das ministerium somit göttlich legitimiert war und nicht einer von Menschen errichteten Größe wie dem Vasallenstatus unterliegen konnte.[61] Wer Vasall wurde, wurde also nicht automatisch Teil des „Establishments“, sondern ging mit dem jeweiligen Herrn nur eine Verbindung zu gegenseitigem Nutzen ein.

Daher scheint die Vasallität für junge Adlige ein erstrebenswerter Status gewesen zu sein, wie ihre Herren von ihnen ergebenen Vasallen auch in Krisenzeiten profitieren konnten. Selbst Baldrich, der ehemalige Markgraf von Friaul, hatte ausweislich einer Freisinger Urkunde 843 in Bayern noch mindestens 15 Vasallen, obwohl er in den Auseinandersetzungen um die Nachfolge Ludwigs des Frommen auf der Seite Lothars I. stand.[62] Obwohl also auf beiden Seiten Interesse an dieser Art von Verbindung bestand, war sie für die „Öffentlichkeit“ oft nur dann von Bedeutung, wenn sie im Rahmen von Rechtshandlungen sozusagen „aktiviert“ wurde, im militärischen Rahmen, als Zeugen oder Beteiligte im Rahmen von Besitzübertragungen bzw. –tausch oder, im Fall von Königsvasallen, als unterstützende Personen bei Gerichtsverhandlungen. Außerhalb dieses Rahmens scheint sie nur von geringer Relevanz gewesen zu sein, da ihre Assoziation mit der Unfreiheit nicht dazu diente, aus der Vasallität ein äußerlich bestimmendes Merkmal der karolingischen Gesellschaft zu machen. Wenn wir uns der Vasallität in Zukunft nähern wollen, sollte man diese Divergenz berücksichtigen. So ist aber auch das Missverhältnis zwischen der lange vorherrschenden Sicht einer vasallitisch durchstrukturierten Gesellschaft und der von der jüngeren Forschung dargestellten untergeordneten Bedeutung der Vasallität als einer von mehreren Bindungsoptionen, der keinesfalls ein Vorrang zukam, zu erklären. Wenn sie im Innenverhältnis wichtiger war als im Außenverhältnis, ist der geringe Niederschlag in den Quellen erklärbar, ändert jedoch nichts daran, dass man ihr kaum die beherrschende Stellung in der Gesellschaft zubilligen kann, die ihr früher zugerechnet wurde. Es gilt eher, den Einzelfall zu betrachten und aus ihm die entsprechenden Schlüsse für die jeweilige Beziehung zwischen Herr und Vasall zu ziehen.

 

[1] Den folgenden Beitrag habe ich im Rahmen eines Workshops zum Lehnswesen im Oktober 2013 in Freiburg vorbereitet, der von Prof. Dr. Jürgen Dendorfer und Prof. Dr. Seffen Patzold organisiert wurde. Wesentliche Teile dieses Vortrags beruhen auf meiner kürzlich erschienenen Dissertation: Vasallität und Benefizialwesen im 9. Jahrhundert. Studien zur Entwicklung personaler und dinglicher Beziehungen im frühen Mittelalter (Texte zur historischen Forschung und Lehre 1), Hildesheim 2013. Zentrale Gedanken der Arbeit sind hier in geraffter Form dargestellt und zum Teil mit ergänzenden Bemerkungen versehen worden, die meine Überlegungen noch etwas weiter führen.

[2] Vgl.: Susan Reynolds, Fiefs and Vassals. The Medieval Evidence Reinterpreted, Oxford 1994. Vgl. auch die späteren Beiträge, in denen sie sich mit der Kritik an ihrem Werk auseinandergesetzt hat und weitergehende Gedanken entwickelte: Susan Reynolds, Afterthoughts on Fiefs and Vassals, in: The Haskins Society Journal 7 (1997), S. 1-15; Dies., Susan Reynolds responds to Johannes Fried, in: German Historical Institute London, Bulletin 19, Nr. 2 (November 1997), S. 30-40; Dies., Carolingian Elopements as a Sidelight on Counts and Vassals, in: Balázs Nagy/Marcell Sebők (Hgg.), …The Man of Many Devices, Who Wandered Full Many Ways… Festschrift in Honor of János M. Bak, Budapest/New York 1999, S. 340-346; Dies., Fiefs and Vassals after Twelve Years, in: Sverre Bagge/Michael H. Gelting/Thomas Lindkvist (Hgg.), Feudalism. New Landscapes of Debate (The Medieval Countryside 5), Turnhout 2011, S. 15-26. Zusammenfassungen des aktuellen Forschungsstandes bieten: Brigitte Kasten, Das Lehnswesen – Fakt oder Fiktion, in: Walter Pohl/Veronika Weiser (Hgg.), Der frühmittelalterliche Staat – europäische Perspektiven (Forschungen zur Geschichte des Mittelalters 16 = Österreichische Akademie der Wissenschaften, Phil.-Hist. Klasse, Denkschriften, 386. Band), Wien 2009, S. 331-353 sowie Steffen Patzold, Das Lehnswesen, München 2012, S. 14-43.

[3] Vgl.: Patzold, Lehnswesen, S. 39.

[4] Nach wie vor die klassische Sichtweise auf das Lehnswesen im frühen Mittelalter am besten darstellend: François Louis Ganshof, Was ist das Lehnswesen? Darmstadt 71989, S. 1-64.

[5] Vgl.: Patzold, Lehnswesen, S. 38.

[6] Vgl.: Die Traditionen des Hochstifts Freising, ed. Theodor Bitterauf (Quellen und Erörterungen zur bayerischen und deutschen Geschichte N.F. 4), Bd. 1 (744-926), München 1905, ND Aalen 1967: Nr. 419, S. 359-360; Nr. 466, S. 398-400; Nr. 475, S. 406-407; Nr. 604, S. 516-517; Nr. 634, S. 538-549; Nr. 661, S. 556-558; Nr. 989, S. 749-750.

[7] Vgl.: Die Traditionen des Hochstifts Passau, ed. Max Heuwieser (Quellen und Erörterungen zur bayerischen Geschichte N.F. 6), München 1930, ND Aalen 1969: Nr. 73a, aa, S. 61-70; Trad. Pass. Nr. 89, S. 76.

[8] Vgl.: Die Traditionen des Hochstifts Regensburg und des Klosters S. Emmeram, ed. Josef Widemann (Quellen und Erörterungen zur bayerischen Geschichte N.F. 8), München 1943, ND Aalen 1969: Nr. 11, S. 9-10; Nr. 20, S. 25-27; Nr. 40, S. 46-47; Nr. 42, S. 47-48; Nr. 81, S. 75; Nr. 87, S. 79-80; Nr. 92, S. 82-83.

[9] Vgl.: Die Urkunden der deutschen Karolinger 1. Die Urkunden Ludwigs des Deutschen, Karlmanns und Ludwigs des Jüngeren, ed. Paul Kehr (MGH DD regum Germaniae ex stirpe Karolinorum 1), Berlin 1934, Nr. 113, S. 162; D LD, Nr. 158, S. 222; Die Urkunden der deutschen Karolinger 2. Die Urkunden Karls III., ed. Paul Kehr (MGH DD regum Germaniae ex stirpe Karolinorum 2), Berlin 1937, Nr. 164, S. 266-267; Die Urkunden der deutschen Karolinger 3. Die Urkunden Arnolfs, ed. Paul Kehr (MGH DD regum Germaniae ex stirpe Karolinorum 3), Berlin 1940, Nr. 51, S. 74; D Arn, Nr. 73, S. 110; Urkundenbuch der Abtei Sanct Gallen, ed. Hermann Wartmann, Bd. 2, Zürich 1866: Nr. 576, S. 188-189.

[10] Trad. Freis. Nr. 466, S. 399: Kysalhart publicus iudex, Liutpald comes vassi dominici. [sic!] Cundachar. Meginhart. Uuolfperht. Hroadolt. Camanolf. Machelm. Atto. Meiol. Cotescalch. Deotpald. Engilhart. Cundpald. Ratpot, Einhart. Cundperht. Hitto. Vgl. auch: Gerichtsurkunden der fränkischen Zeit, ed. Rudolf Hübner, 1. Abt., Weimar 1891-1893, ND Aalen 1971, S. 42-43, Nr. 243 (zu 823). Dass der Editor den Begriff vassi dominici zu Liutpald comes gezogen hat, ist unverständlich, da in der Urkunde zwei der hier genannten Personen ausdrücklich mit diesem Titel belegt werden: Similiter et Liutpald comes, Hrodolt, Camanolf vassi dominici dixerunt se vidisse ubi Deotperht ipsam ecclesiam in manus Hittonis episcopi reddidit.

[11] Trad. Freis. Nr. 475, S. 406-407: Alii autem vassalli: Machelm. Cotescalch. Reginhart. Etih. Haholf. Emheri. Parto. Hemmi. Crimuni. Hamminc. Meiol. Reginhart. Kamanolf. Chuniperht. Hroadolt. Suuarzolf. Pernker. Cundpald. Chuniperht. Oadalscalch. Coteperht. Engilhart. Lantfrid. Heipo. Reginperht. Spulit. Situli. Regino. Sigur. Paldachar. Poapo. Adalker. Poran. Ratolt. Adalker. Pero. Deothart. Ellanperht. Cundalperht. Hroadhart. Uuichelm. Kotehelm. Sigiperht. Tiso. Crimheri. Morizzo. Chonrat. Hroadolt. Ellanperht. Heilrih. Uuolfolt. Uuolfperht. Tato. Tuti. Reginolt. Alius Uuolfperht seu alii multi. Vgl. auch: Hübner, Gerichtsurkunden, Nr. 238, S. 41.

[12] Trad. Freis. Nr. 419, S. 359: Denique omnibus tam eclesiasticis quam etiam et saecularibus venerabilibus viris satis sit dilucidatum, qualiter Meginhardus vassus dominici reddidit in manus Hittonis episcopi pro manice cervino capsam quam a domo sanctae Marię cum reliquiis accepit Uuasucrim aramiator.

[13] Zur Urkunde, vgl.: Stefan Esders/Heike Johanna Mierau, Der althochdeutsche Klerikereid. Bischöfliche Diözesangewalt, kirchliches Benefizialwesen und volkssprachliche Rechtspraxis im frühmittelalterlichen Baiern (MGH Studien und Texte 28), Hannover 2000, S. 212-214.

[14] Prosopografische Untersuchungen haben ergeben, dass sämtliche in dieser Urkunde genannten Vasallen in Bayern beheimatet waren und daher mit den regionalen Verhältnissen vertraut gewesen sein dürften, vgl.: Salten, Vasallität, S. 189-197.

[15] Vgl.: Heinrich Mitteis, Lehnrecht und Staatsgewalt. Untersuchungen zur mittelalterlichen Verfassungsgeschichte, Weimar 1933, ND Darmstadt 1958, S. 17-18; K.-J. Hollyman, Le développement du vocabulaire féodal en France pendant le haut moyen age (Étude sémantique) (Société de publications romanes et françaises 58), Genf/Paris 1957, S. 115; Walther Kienast, Die fränkische Vasallität. Von den Hausmeiern bis zu Ludwig dem Kind und Karl dem Einfältigen, hg. von Peter Herde (Frankfurter Wissenschaftliche Beiträge, Kulturwissenschaftliche Reihe 18), Frankfurt a.M. 1990, S. 89.

[16] Vgl.: Pactus Legis Salicae, ed. Karl August Eckhardt (MGH LL nat. Germ. 4/1), Hannover 1962, c. 35, 9, S. 132. Zur weiteren Begriffsentwicklung, vgl.: Hollyman, Développement, S. 116-117; Kienast, Vasallität, S. 89-96.

[17] Vgl.: Lex Alamannorum, ed. Karl Lehmann (MGH LL nat. Germ. 5/1), Hannover 1888, S. 36-157, hier: c. 36, 3, S. 95-96.

[18] Annales regni Francorum inde ab a. 741. usque ad a. 829. qui dicuntur Annales Laurissenses maiores et Einhardi, ed. Friedrich Kurze (MGH SS rer. Germ. i. us. schol. 6), Hannover 1895, ND Hannover 1950, ad a. 757, S. 14-16: Et rex Pippinus tenuit placitum suum in Compendio cum Francis; ibique Tassilo venit, dux Baioariorum, in vasatico se commendans per manus, sacramenta iuravit multa et innumerabilia, reliquias sanctorum manus inponens, et fidelitatem promisit regi Pippino et supradictus filiis eius, domno Carolo et Carlomanno, sicut vassus recta mente et firma devotione per iustitiam, sicut vassus dominos suos esse deberet.

[19] Annales regni Francorum, ad a. 787, S. 78: Tunc praespiciens se Tassilo ex omni parte esse circumdatum et videns, quod omnes Baioarii plus essent fideles domno rege Carolo quam ei et cognovissent iustitiam iamdicti domni regis et magis voluissent iustitiam consentire quam contrarii esse, undique constrictus Tassilo venit per semetipsum, tradens se manibus in manibus domni regis Caroli in vassaticum, et reddens ducatum sibi commissum a domno Pippino rege, et recredidit se in omnibus peccasse et male egisse.

[20] Vgl.: Matthias Becher, Eid und Herrschaft. Untersuchungen zum Herrscherethos Karls des Großen (Vorträge und Forschungen Sonderbd. 39), Sigmaringen 1993, S. 21-78.

[21] Ermoldus Nigellus, In honorem Hludovici christianissimi Caesaris Augusti, ed. Edmond Faral, in: Ders., Ermold le Noir. Poème sur Louis le Pieux et Épitres au roi Pépin (Les Classiques de l’Histoire de France au Moyen Age 14), Paris 1932, S. 2-201, hier: lib. 4, v. 2482-2493, S. 188-190: Mox manibus junctis regi se tradidit ultro / Et secum regnum, quod sibi jure fuit. / „Suscipe, Caesar, ait, me nec non regna subacta; / Sponte tuis memet confero servitiis.“ / Caesar ad ipse manus manibus suscepit honestis; / Junguntur Francis Danica regna piis. / Mox quoque Caesar ovans Francisco more veterno / Dat sibi equum nec non, ut solet, arma simul. / Festa dies iterum surgit renovata nitescens, / Francis et Denis concelebrata micat. / Interea Caesar Heroldum jamque fidelem / Munere donat opum pro pietate sua. Zur grundsätzlichen Bewertung des gesamten Vorgangs, vgl.: Salten, Vasallität, S. 87-94.

[22] Zu den Vorgängen, die der Taufe und Kommendation Haralds unmittelbar vorausgingen, vgl.: Raimund Ernst, Karolingische Nordostpolitik zur Zeit Ludwigs des Frommen, in: Carsten Goehrke/Erwin Oberländer/Dieter Wojtecki (Hgg.), Östliches Europa. Spiegel der Geschichte. Festschrift für Manfred Hellmann zum 65. Geburtstag (Quellen und Studien zur Geschichte des östlichen Europa 9), Wiesbaden 1977, S. 81-107, hier: S. 92-94; Volker Helten, Zwischen Kooperation und Konfrontation: Dänemark und das Frankenreich im 9. Jahrhundert, Köln 2011, S. 92-107.

[23] Annales de Saint-Bertin, ed. Félix Grat/Jeanne Vielliard/Suzanne Clémencet, Paris 1964, ad a. 858, S. 76: Berno dux partis pyratarum Sequanae insistentium ad Karlum regem in Vermeria palatio uenit, eiusque se manibus dedens fidelitatem statim iurat.

[24] Annales de Saint-Bertin, ad a. 862, S. 89: Et post uiginti circiter dies ipse Vuelandus ad Karolum ueniens, illi se commendauit et sacramenta cum eis quos secum habuit statim praebuit.

[25] Annales de Saint-Bertin, ad a. 873, S. 194-195: Karolus uiriliter ac strenue obsidionem Nortmannorum in gyro Andegauis ciuitatis exsequens, adeo Nortmannos perdomuit, ut primores eorum ad illum uenerint seseque illi commendauerint et sacramenta qualia iussit egerint, et obsides quot et quantos quaesiuit illi dederint, ut de ciuitate Andegauis constituta de exirent et in regno suo, quamdiu uiuerent, nec praedam facerent nec fieri consentirent.

[26] Vgl.: Harald Neifeind, Verträge zwischen Normannen und Franken im neunten und zehnten Jahrhundert (Heidelberg; Univ.; Diss.), Heidelberg 1971, S. 75.

[27] Der andere Teil der Seine-Normannen nahm noch im gleichen Jahr Abt Ludwig von Saint-Denis gefangen, vgl.: Annales de Saint-Bertin, ad a. 858, S. 77.

[28] Annales de Saint-Bertin, ad a. 862, S. 88-89. Vgl. auch: Neifeind, Verträge, S. 73.

[29] 863 wurde Weland der infidelitas angeklagt und im Zweikampf getötet, dieser Begriff alleine sagt aber nicht über ein spezielles Vasallitätsverhältnis zum König aus, vgl.: Annales de Saint-Bertin, ad a. 863, S. 104. Vgl. auch: Reynolds, Fiefs, S. 31 und 88. Zum Tode Welands, vgl.: Horst Zettel, Das Bild der Normannen und der Normanneneinfälle in westfränkischen, ostfränkischen und angelsächsischen Quellen des 8. bis 11. Jahrhunderts, München 1977, S. 168. Die Belagerung von Angers wird von verschiedenen Quellen des 9. und 10. Jahrhunderts erwähnt, aber auch hier findet sich nichts, was die Annahme einer vasallitischen Bindung erhärten könnte, vgl.: Annales Vedastini, ed. Bernhard von Simson (MGH SS rer. Germ. i. us. schol. 12), Hannover/Leipzig 1909, S. 40-82, hier: ad a. 873, S. 40; Regino von Prüm, Chronicon cum continuatione Treverensi, ed. Friedrich Kurze (MGH SS rer. Germ. i. us. schol. 50), Hannover 1890, ad a. 873, S. 106-107; Cartulaire noir de la cathédrale d’Angers, ed. Ch. Urseau, Paris/Angers 1908, Nr. 35, S. 79-80; Folcwin, Gesta abbatum S. Bertini Sithiensium, ed. Oswald Holder-Egger (MGH SS 13), Hannover 1881, S. 607-635, hier: c. 74, S. 621.

[30] Paschasius Radbertus, Epitaphium Arsenii, ed. Ernst Dümmler, in: Abhandlungen der königl. Preuss. Akademie der Wissenschaften zu Berlin vom Jahre 1900, Phil.-Hist. Classe, II. Abh., Berlin 1900, S. 1-98, hier: lib. 2, c. 17, S. 85-86: Deinde in  alio capitulo: „Mementote, inquit, etiam et quod mei vasalli estis, mihique cum iuramento fidem firmastis.“ Ad quod rursus iidem: „Bene, inquiunt, recolimus ita esse uti mandastis, quoniam et a natura, et a promissis, et ab omni vere fidei sacramento profecto fideles sumus. Unde sicut numquam deseruimus militiae vestrae servitutem, ita donec spiritus in nobis superest, numquam desertores erimus, quia nobis gloria vestra, honor et prosperitas carior est, quam vita nostra. [...]“

[31] Vgl.: Carl Rodenberg, Die Vita Walae als historische Quelle (Göttingen; Univ.; Diss.), Göttingen 1877, S. 53-54; Mayke de Jong, The Penitential State. Authority and Atonement in the Age of Louis the Pious, 814-840, Cambridge 2009, S. 226.

[32] Vgl.: Brigitte Kasten, Aspekte des Lehnswesens in Einhards Briefen, in: Hermann Schefers (Hg.), Einhard. Studien zu Leben und Werk (Arbeiten der Hessischen Historischen Kommission N.F. 12), Darmstadt 1997, S. 247-267, hier: S. 261.

[33] Vgl.: Charles Edwin Odegaard, Vassi and Fideles in the Carolingian Empire (Harvard Historical Monographs 19), Cambridge, Mass. 1945, S. 45-46. Vgl. auch: Brigitte Kasten, Economic and Political Aspects of Leases in the Kingdom of the Franks during the Eighth and Ninth Centuries: A Contribution to the current Debate about Feudalism, in: Bagge/Gelting/ Lindkvist (Hgg.), Feudalism, S. 27-55, hier: S. 47-48, die betont, dass Ludwig ein schwerer Fauxpas in den Mund gelegt worden sei, indem er provozierend von seinen Söhnen vasallitischen Gehorsam verlangte.

[34] Vgl.: Die Urkunden der deutschen Könige und Kaiser 1. Die Urkunden Konrad I., Heinrich I. und Otto I., ed. Theodor Sickel (MGH DD regum et imperatorum Germaniae 1), Hannover 1879-1884, Nr. 198, S. 278.

[35] Annales Laureshamenses, ed. Georg Heinrich Pertz (MGH SS 1), Hannover 1826, S. 22-39, hier: ad a. 795, S. 36: [...] ipsi eum pleniter adhuc non venerunt, eo quod vassum domni regis Wizzin regem Abotridarum occiserunt; [...].

[36] Chronicon Moissiacense, ed. Walter Kettemann, in: Ders., Subsidia Anianensia. Überliefeurngs- und textgeschichtliche Untersuchungen zur Geschichte Witiza-Benedikts, seines Klosters Aniane und zur sogenannten „anianischen Reform“ (Duisburg; Univ.-GH; Diss.), Teil 2, Beilage 2, Duisburg/Essen 2008, ad a. 810, S. 113: Et godafredus rex nortmannorum misit quasi pacifice per insidias uassallum suum ut in dolo drosocum, regem abdritorum, occidisset quod ita factum fuit.[...] Et postea illi godafredus fuit interfectus a suo uassallo et perdidit regnum cum uita.

[37] Vgl.: Friedrich Kurze, Ueber die karolingischen Reichsannalen von 741-829 und ihre Ueberarbeitung. III. Die zweite Hälfte und die Ueberarbeitung, in: NA 21 (1896), S. 9-82, hier: S. 26-29; Wattenbach-Levison, Deutschlands Geschichtsquellen im Mittelalter. Vorzeit und Karolinger, Heft 2: Die Karolinger vom Anfang des 8. Jahrhunderts bis zum Tode Karls des Großen, bearb. von Wilhelm Levison und Heinz Löwe, Weimar 1953, S. 265.

[38] Neben Harald Klak und den erwähnten Normannenführern im Westfränkischen Reich wäre hier insbesondere die Kommendation ’Abdallahs, Sohn des Emirs ’Abdarrahman I. von Cordoba, gegenüber Karl dem Großen 797 zu erwähnen, den sein Bruder nach dem Tode des Vaters nach Mauretanien vertrieben hatte, vgl.: ARF, ad a. 797, S. 100: Et in Aquis palatio Abdellam Sarracenum filium Ibin Mauge regis, qui a fratre regno pulsus in Mauretania exulabat, ipso semetipsum commendante suscepit. Vgl. dazu: Roger Collins, The Arab Conquest of Spain 710-797, Cambridge 1989, S. 202-203, 211.

[39] Notker Balbulus, Gesta Karoli Magni Imperatoris, ed. Hans F. Haefele (MGH SS rer. Germ., N.S. 12), Berlin 1959, lib. 2, c. 10, S. 65-66: Cumque prima die vel secunda inter reliquos statores eum imperator curiosioribus oculis intueretur, dixit ad  filium: „Cuius est ille puerulus?“ Illo respondente: „Quia meus et vester, si dignamini“ postulabat eum dicens: „Da illum mihi.“ Quod cum factum fuisset, deosculatum serenissimus augustus pusionem remisit ad stationem pristinam. Ille mox dignitatem suam cognoscens et cuiquam post imperatorem secundus remanese dispiciens, collectis animis et membris compositissime collocatis ęquato gradu stetit iuxta patrem suum. Quod providentissimus aspectans Karolus vocato ad se filio Hludowico praecepit, ut interrogarent cognominem suum, cur ita faceret vel qua fiducia se patri adęquare praesumeret. Ille vero raione subnixum reddidit responsum: „Quando“ inqiuens „vester eram vassallus, post vos, ut oportuit, inter commilitones meos steteram. Nunc autem vester socius et commilito non inmerito me vobis coęquo.“

[40] Vgl.: Heinz Löwe Das Karlsbuch Notkers von St. Gallen und sein zeitgeschichtlicher Hintergrund, in: Ders., Von Cassiodor zu Dante. Ausgewählte Aufsätze zur Geschichtsschreibung und politischen Ideenwelt des Mittelalters, Berlin/New York 1973, S. 123-148; Hans-Werner Goetz, Strukturen der spätkarolingischen Epoche im Spiegel der Vorstellungen eines zeitgenössischen Mönchs. Eine Interpretation der „Gesta Karoli“ Notkers von Sankt Gallen, Bonn 1981, S. 21-59. Simon MacLean, Kingship and Politics in the late ninth century. Charles the Fat and the end of the Carolingian Empire (Cambridge Studies in Medieval Life and Thought: Fourth Series, Nr. 57), Cambridge 2003, S. 199-229 sieht Notkers Werk auch als einen Kommentar zur politischen Situation des Frankenreiches unter Karl III. und als Beitrag zur politischen Theorie der karolingischen Renaissance an.

[41] Vgl.: Goetz, Strukturen, S. 31, Anm. 92. Dieser Ansicht schließt sich auch Brigitte Kasten, Königssöhne und Königsherrschaft. Untersuchungen zur Teilhabe am Reich in der Merowinger- und Karolingerzeit (MGH Schriften 44), Hannover 1997, S. 237 an, die in der Selbstbezeichnung Ludwigs als Vasallen eine „pointierte Übertreibung eines konkurrierenden Befehl-Gehorsam-Gefüges zwischen Großvater und Enkel sowie Vater und Sohn“ zu erkennen glaubt.

[42] Notker Balbulus, Gesta Karoli Magni, lib. 2, c. 12, S. 74.

[43] Dies scheint zumindest der Fall zu sein, wenn er von bischöflichen Vasallen spricht, vgl.: Notker Balbulus, Gesta Karoli Magni, lib. 1, c. 18, S. 23; lib. 1, c. 20, S. 26.

[44] Notker Balbulus, Gesta Karoli Magni, lib. 2, c. 19, S. 89-90.

[45] Vgl.: Kasten, Aspects, S. 48.

[46] Belege für pueri als Boten, vgl.: Gregor von Tours, Libri Historiarum X, ed. Bruno Krusch/Wilhelm Levison (MGH SS rer. Mer. 1,1), Hannover 1951, lib. 3, c. 18, S. 118; lib. 5, c. 19, S. 227: lib. 6, c. 35, S. 306; lib. 7, c. 40, S. 363; lib. 7, c. 42, S. 364. Desgleichen für pueri als militärisches Gefolge, vgl.: Ebd., lib. 6, c. 17, S. 286; lib. 6, c. 32, S. 303; lib. 7, c. 29, S. 348-349; lib. 7, c. 47, S. 366; lib. 10, c. 27, S. 520.

[47] Es sei hier nur auf das Beispiel des Gailenus hingewiesen, der ein puer des Chilperichsohnes Merowech, aber auch dessen familiaris war, vgl.: Gregor von Tours, Libri Hstoriarum X, lib. 5, c. 14, S. 208 bzw. lib. 5, c. 18, S. 224.

[48] Annales Vedastini, ad a. 884, S. 56: Franci vero, qui cum Karlomanno fuerant redierunt ad sua loca; pauci iuvenes cum eo remanserunt venandi causa in Basiu silva. In den Annales Fuldenses, ed. Friedrich Kurze (MGH SS rer. Germ. i. us. schol. 7), Hannover 1891, ad a. 884, S. 101 wird von einem satelles gesprochen, der Karlmann verwundet habe.

[49] Vita Wandregiseli abbatis Fontanellensis, ed. Bruno Krusch (MGH SS rer. Mer. 5), Hannover 1910, S. 13-24, hier: c. 7, S. 16.

[50] Vita altera S. Wandregisili abbatis, in: AA SS Jul. V, Paris/Rom 1868, S. 272-281, hier: c. 2, S. 272: Cumque adolescentiae polleret aetas in annis, sub praefato rege Dagoberto militaribus gestis ac aulicis disciplinis, quippe ut nobilissimus nobiliter educatus est.

[51] Vita Ermenlandi abbatis Antrensis auctore Donato, ed. Wilhelm Levison (MGH SS rer. Mer. 5), Hannover 1910, S. 682-710, hier: c. 1, S. 684: Parentes autem eius, videntes eum litterarum doctrinis magna ex parte instructum regalibusque miliciis aptum, ab scolis eum recipientes, regiam introduxerunt in aulam atque regi Francorum cum magno cum honore militaturum commendaverunt, quatenus per tramitem huius militiae ad debitum progenitorum perveniret honorem. Zur vermuteten, aber nicht gesicherten Autorenschaft des Donatus, vgl. die Vorbemerkung zur Edition, ebd. S. 674-678 sowie Wattenbach-Levison, Deutschlands Geschichtsquellen im Mittelalter. Vorzeit und Karolinger, Heft 1: Die Vorzeit von den Anfängen bis zur Herrschaft der Karolinger, bearb. von Wilhelm Levison, Weimar 1952, S. 139.

[52] Einhard, Vita Karoli Magni, ed. Oswald Holder-Egger (MGH SS rer. Germ. i. us. schol. 25), Hannover 1911, ND Hannover 1965., c. 19, S. 23: Liberos suos ita censuit instituendos, ut tam filii quam filiae primo liberalibus studiis, quibus et ipse operam dabat, erudirentur. Tum filios, cum primum aetas patiebatur, more Francorum equitare, armis ac venatibus exerceri fecit [...]. Vgl.: Régine Le Jan, Frankish Giving of Arms and Rituals of Power: Continuity and Change in the Carolingian Period, in: Frans Theuws/Janet L. Nelson (Hgg.), Rituals of Power. From Late Antiquity to the Early Middle Ages (The Transformation of the Roman World 8), Leiden/Boston/Köln 2000, S. 281-309, hier: S. 283-284.

[53] Vgl.: Matthew Innes, „A Place of Discipline“: Carolingian Courts and Aristocratic Youth, in: Catherine Cubitt (Hg.), Court Culture in the Early Middle Ages. The Proceedings of the First Alcuin Conference (Studies in the Early Middle Ages 3), Turnhout 2003, S. 59-76, hier: S. 67. Zur Ausbildung eines Zusammengehörigkeitsgefühls junger adliger Krieger durch gemeinsame „Lerngruppen“, vgl.: Christoph Dette, Kinder und Jugendliche in der Adelsgesellschaft des frühen Mittelalters, in: AKG 76 (1994), S. 1-34, hier: S. 14-16.

[54] Vgl.: Carlrichard Brühl, Hinkmariana, in: Ders., Aus Mittelalter und Diplomatik. Gesammelte Aufsätze, Bd. 1: Studien zur Verfassungsgeschichte und Stadttopographie, Hildesheim/München/Zürich 1989, S. 292-322, hier: S. 296-298; Brigitte Kasten, Adalhard von Corbie. Die Biographie eines karolingischen Politikers und Klostervorstehers (Studia humanoria 3), Düsseldorf 1985, S. 79.

[55] Hinkmar von Reims, De ordine palatii, ed. Thomas Gross/Rudolf Schieffer (MGH Font. iur. Germ. ant. in us. schol. 3), Hannover 1980, c. 27-28, S. 80-82: Et ut illa multitudo, quae in palatio semper esse debet, indeficienter persistere posset, his tribus ordinibus fovebatur. Uno videlicet, ut absque ministeriis expediti milites, anteposita dominorum benignitate et sollicitudine, qua nunc victu, nunc vestitu, nunc auro, nunc argento, modo equis vel ceteris ornamentis interdum specialiter, aliquando prout tempus, ratio et ordo condignam potestatem administrabat, saepius porrectis, in eo tamen indeficientem consolationem nec non ad regale obsequium inflammatum animum ardentius semper habebant: quod illos praefati capitanei ministeriales certatim de die in diem, nunc istos, nunc illos ad mansiones suas vocabant et non tam gulae voracitate quam verae familiaritatis seu dilectionis amore, prout cuique possibile erat, inpendere studebant; sicque fiebat, ut rarus quisque infra ebdomadam remaneret, qui non ab aliquo pro huiusmodi studio convocaretur. Alter ordo per singula ministeria in discipulis congruebat, qui a magistro suo singuli adhaerentes et honorificabant et honorificabantur locisque singuli suis, prout oportunitas occurrebat, ut a domino videndo vel alloquendo consolarentur. Tertius ordo item erat tam maiorum quam minorum in pueris vel vassallis, quos unusq uisque, prout gubernare et sustentare absque peccato, rapina videlicet vel furto, poterat, studiose habere procurabat. Gemäß der Einschätzung von Jakob Schmidt, Hinkmars „De ordine palatii“ und seine Quellen (Frankfurt, Univ., Diss), Gelnhausen 1962, S. 51 gehört dieser Abschnitt zu jenen, bei denen sich Hinkmar an seine Vorlage gehalten haben dürfte.

[56] Dass die expediti milites „the lowest level of the king’s fighting men“ bildeten, wie Bernard S, Bachrach, Early Carolingian Warfare. Prelude to Empire, Philadelphia 2001, S. 66 annimmt, erscheint fragwürdig, da die Inhaber der Hofämter offenbar großes Interesse daran hatten, sich ihrer Freundschaft zu versichern. Bei Personen geringerer Herkunft erscheint ein solches Verhalten unlogisch. Bachrachs Ansicht beruht auf der Übersetzung der Wendung absque ministeriis zu „ohne Diener“. Eine entscheidende Begründung, warum diese Übersetzung der sonst üblichen „ohne Amt“ vorzuziehen ist, sucht man allerdings vergebens, vgl.: ebd., S. 302-303, Anm. 129.

[57] Vgl.: Kasten, Adalhard, S. 82. Vgl. auch: Henri Peltier, Adalhard. Abbé de Corbie (Bulletin des Antiquaires de Picardie, Mémoires 52), Amiens 1969, S. 82.

[58] Vgl.: Bachrach, Early Carolingian Warfare, S. 71-75.

[59] Bachrach, Early Carolingian Warfare, S. 75-76 denkt an einen engen Zusammenhang der erwähnten pueri mit den ebenso bezeichneten unfreien Kriegern der Merowingerzeit. Zwar ist es nicht auszuschließen, dass auf unterer Ebene, gerade bei den minores, auch unfreie Vasallen vorkamen, dies kann aber nicht mit völliger Ausschließlichkeit gesagt werden.

[60] Reynolds, Elopements, S. 342-343 nimmt zurecht an, dass Vasallen eher zu den jüngeren Personen am Hofe gezählt werden müssen.

[61] Vgl.: Kasten, Aspekte, S. 262-263.

[62] Trad. Freis. Nr. 661, S. 556-558. Zur Wahrscheinlichkeit der Identität des dort erwähnten vir nobilis Baldrich mit dem 828 abgesetzten Markgrafen, vgl.: Salten, Vasallität, S. 203-206.

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Empfohlene Zitierweise

Oliver Salten: Überlegungen zur gesellschaftlichen Relevanz vasallitischer Beziehungen in der Karolingerzeit, in: Mittelalter. Interdisziplinäre Forschung und Rezeptionsgeschichte, 22. März 2014, http://mittelalter.hypotheses.org/3278 (ISSN 2197-6120).

 

Quelle: http://mittelalter.hypotheses.org/3278

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Neu aufgefundene Makulatur aus den Beständen des Stadtarchivs Reutlingen

Dass als Makulatur verwendete Teile von mittelalterlichen und neuzeitlichen Handschriften und Drucken in Archiven und Bibliotheken in einem gewissen Umfang quasi jedes Jahr neu auftauchen, vermag jeder leidgeprüfte Archivar und Bibliothekar zu bestätigen. Von den Fachleuten zwar mit großem Interesse registriert, landen die Fragmente häufig in Kartons und Schubern im besten Fall aus säurefreiem Papier und harren ihrer Erschließung. Inzwischen gibt es dennoch eine nicht unerhebliche Anzahl an Archiven und Bibliotheken, die ihren Fragmentbestand so erschlossen haben, dass er von einer interessierten, wissenschaftlichen Öffentlichkeit benutzt werden kann.[1]

Vor über 20 Jahren, im Jahr 1991, hat auch das Stadtarchiv Reutlingen diesen Weg beschritten, indem es die dortigen Fragmente durch ein Findbuch erschließen ließ.[2] Nach dem Abschluss des Bandes tauchten weitere Fragmente auf, so dass 1994 eine erweiterte und aktualisierte Version des Findbuches angefertigt wurde. Inzwischen wurden einige wenige weitere Fragmente gefunden, die an dieser Stelle vorgestellt werden sollen.

Die im Reutlinger Fragmentbestand bisher vorherrschenden liturgischen Fragmente behaupten ihre herausragende Stellung auch bei den jetzt neu aufgefundenen. Da die Reichsstadt Reutlingen 1519 evangelisch wurde, waren die bisher verwendeten liturgischen Handschriften überwiegend in relativ kurzer Zeit makuliert worden und sowohl für Drucke des 15. und 16. Jahrhunderts als auch für die städtischen Rechnungsbücher zweitverwendet worden. Je zwei unterschiedlich umfangreiche Fragmente stammen aus zwei Missalia bzw. aus zwei Brevieren.

Foto: Stadtarchiv Reutlingen

Abb. 1
Foto: Stadtarchiv Reutlingen

An dem Band der Reichsstädtischen Urkunden und Akten 2644 befindet sich ein zweispaltiges Pergamentfragment in situ.[3] (Abb. 1) Die Ausstattung ist einfach, lediglich eine zweizeilige rote Lombarde markiert den Beginn des Glaubensbekenntnisses. Die Textualis formata stammt aus der 2. Hälfte des 14. Jahrhunderts. Es handelt sich hier um einen Ausschnitt aus einem Missale Romanum mit dem Ende des Canon missae. Auf den Hymnus angelicus Qui tollis peccata mundi folgt das Credo. Damit endet der Canon missae in der b-Spalte. Die ursprünglich leere Spalte wurde dann sehr zeitnah in einer eher flüchtigen Textualis, die noch Einflüsse einer spätgotischen Minuskel aufweist, mit einer Lesung aus dem Epheser-Brief (Unicuique nostrum) aufgefüllt.[4] Diese Epistellesung, die üblicherweise an der Vigil zu Ascensio domini gelesen wird, endet auf der ansonsten leeren Verso-Seite.

Ein weiteres Missale-Fragment findet sich als Kopert an dem Band der Reichsstädtischen Urkunden und Akten 3247b.[5] Der Text ist in einer gleichmäßigen Textura aus dem 2. Drittel des 15. Jahrhunderts geschrieben. Alternierende ein- bis zweizeilige rote und blaue Lombarden markieren jeweils die unterschiedlichen Textteile. Dieses Missale Romanum weist Ausschnitte aus dem Proprium de tempore auf und zwar zur Dominica quarta et quinta post epiphaniam sowie zur Feria quarta post dominicam quintam post epiphaniam. Inhaltlich bietet dieses Blatt keine Besonderheiten.

Foto: Stadtarchiv Reutlingen

Abb. 2
Foto: Stadtarchiv Reutlingen

Das erste Fragment aus dem Bereich des Offiziums umfasst zwei kleine Stücke aus einem Brevier, die am oberen und unteren Bindungsrand des Koperts als Verstärkung dienen.[6] (Abb. 2) Die ursprüngliche Zeilenzahl lässt sich nicht mehr feststellen. Wahrscheinlich war der Text zweispaltig angelegt. Auch hier ist die Ausstattung recht schlicht: Rubriken sowie  alternierende rote und blaue einzeilige Initialen. Bei der Schrift handelt es sich um eine gleichmäßige Textualis aus dem 2. Drittel des 14. Jahrhunderts. Die gesungenen Texte weisen einen kleineren Schriftgrad auf. Von einer anderen, wohl zeitgleichen, Hand in Buchkursive wurden Marginalien vorgenommen. Auch hier sind die Texte dem Temporale entnommen und zwar zum Sabbato ante dominicam primam in quadragesima. Inhaltliche Besonderheiten sind keine vorhanden. Lediglich die Hand der Marginalien vermisste im Text offensichtlich die Antiphon Fili tu semper zur Prim und trug diese auf dem linken Rand nach.[7] Demselben Schreiber fiel auch auf, dass der Hymnus Jesu quadragenarie zur Laudes fehlte und ergänzte das Initium auf dem unteren Rand.[8]

Das zweite Brevierfragment ist abgelöst und wird in der Sammlung S 201 aufbewahrt. Ein Trägerband ist nicht bekannt. Der Streifen umfasst eine komplette und eine an der Seite abgeschnittene Spalte. Sein Erhaltungszustand ist relativ schlecht, Löcher und nachgedunkelte Stellen schränken die Lesbarkeit ein. Die alternierenden zwei- bis dreizeiligen roten und blauen Lombarden sind mit Fleuronnée verziert. Das Fragment stammt aus dem 1. Drittel des 14. Jahrhunderts. Sein Inhalt besteht aus den Formularen zur Feria tertia post dominicam V post pascham, sowie zu Ascensio domini.

Bis auf das zuletzt genannte Fragment, von dem ein genauer Fundzusammenhang nicht ermittelt werden konnte, sind die drei zuvor genannten mit einem teilweise großen zeitlichen Abstand makuliert oder zumindest als Makulatur verarbeitet worden. Die Schneiderordnung stammt aus dem Jahr 1564, die Artikel der Gerber aus dem Jahr 1574, der Band mit den Zunftprotokollen der Tucher umfasst die Jahre 1614 bis 1739. Eine Weiterverwendung der Liturgica im Gottesdienst scheidet für eine protestantische Reichsstadt wie Reutlingen zwar prinzipiell aus, in der Praxis dürfte es sich aber weitaus schwieriger gestaltet haben, den Gottesdienst gänzlich ohne die „alten“ Schriften durchzuführen, bevor nicht adäquater Ersatz vorhanden gewesen war. Insofern ist zu vermuten, dass ein Teil der Liturgica eventuell weiter benutzt wurde. Die städtischen Buchbinder erwarben gewiss sehr zeitnah eine große Anzahl liturgischer Handschriften wohl zu einem günstigen Preis, aber auch später waren ausgesonderte liturgische Handschriften auf dem Markt, in die dann entsprechende städtische Bände teilweise erst Jahrzehnte später eingebunden werden konnten.

Bei den beiden weiteren, neu aufgefundenen Fragmenten handelt es sich um Drucke. Von dem 1. Fragment ist lediglich ein schmaler Streifen aus einem nicht mehr zu eruierenden Trägerband mit den Resten einiger Zeilen vorhanden.[9] Im Text sind die Namen von mindestens zwei sehr interessanten Persönlichkeiten erkennbar, Henricus Grave und Sebastian Wolff zu Todenwarth. Henricus Grave konnte auf eine steile Karriere zurück blicken. Als promovierter Jurist wurde er kaiserlicher Kammergerichtsadvokat und Syndicus der Stadt Minden. Später brachte er es zum schwedischen Kanzler im Fürstentum Verden und Geheimen Rat.[10] Der ebenfalls genannte Sebastian Wolff zu Todenwarth, geboren um 1548 in Schleusingen, war wie Grave promovierter Jurist.[11] 1563 studierte er an der Universität Erfurt, anschließend an den Universitäten in Jena und Wittenberg. Im Jahr 1578 ist er als Advokat nachweisbar, später hatte er eine Stellung als Prokurator am Reichskammergericht in Speyer inne.[12] Dort ist er auch nach 1616 gestorben. Noch eine dritte Person lässt sich in dem Streifen erkennen, die die beiden oben genannten verbindet. Hier handelt es sich vermutlich um Anna Maria Wolff zu Todenwarth, die Tochter von Sebastian Wolff zu Todenwarth, die mit Henricus Grave verheiratet war.[13] Möglicherweise könnte es sich bei der genannten mater Anna aber auch um Anna Maria Löscher, die 1. Frau des Sebastian Wolff von Todenwarth, handeln, was aus den wenigen Zeilen nicht genauer hervorgeht.

Der geringe Umfang vermittelt, dass es sich um eine Art Lebensbeschreibung bzw. –widmung handeln muss. Eine Leichenpredigt, der im 17. Jahrhundert häufig biographische Partien angehängt waren, scheidet in diesem Fall aus. Zwar erhielt ein Henricus Grave im Jahr 1669 eine umfangreiche gedruckte Leichenpredigt, aber hier handelt es sich um den gleichnamigen Sohn.[14]

Abb. 3. Foto: Stadtarchiv Reutlingen

Abb. 3
Foto: Stadtarchiv Reutlingen

Noch ein letztes Fragment ist hier zu besprechen, ebenfalls neuzeitlich und zugleich das inhaltlich interessanteste, das unter der Sammlungssignatur S 201 aufbewahrt wird. (Abb. 3 und 4) Durch die Verwendung als Kopert-Außenseite ist das Fragment vor allem im unteren Teil stark beschädigt. Dort fehlt ein Teil des Textes, außerdem ist der oberer Rand gleichfalls mit Textverlust abgerissen. Als Inhalt ergibt sich zunächst sehr schnell ein Einblattkalender für das Jahr 1603: So man zelt nach Christi geburt M. DC. III. Der Kalender zeigt im Frontispiz eine Darstellung der Grundfesten des christlichen Staates: ganz links die Gerechtigkeit, daneben die drei Stände. [15] Der dritte Stand (ganz rechts) wird hier verkörpert durch einen Waldarbeiter mit Axt und Haumesser. In der linken Leiste sind verschiedene Wappen abgebildet, identifizierbar sind die des deutschen Königs sowie der Erzbistümer Mainz, Köln, Trier und der Königreiche Böhmen, Frankreich, England, Ungarn, Polen, Dalmatien sowie Kroatien. In der rechten Leiste können Teile von sieben Fischpaaren erkannt werden.

Im Hauptfeld befindet sich der Kalender, der Teile der Monate Januar, Februar, Mai, Juni, Juli, September, Oktober sowie November umfasst und der inhaltlich prinzipiell dem Bistum Konstanz zuzuordnen ist. Dies zeigt sich an der Eintragung von entsprechenden Heiligen. So sind zwar bedingt durch das junge Alter gegenüber dem bei Hermann Grotefend gedruckten, für das Bistum Konstanz gültige Kalendarium wesentlich mehr Heilige eingetragen, worunter sich spezifische Konstanzer Feste befinden.[16] Am aussagekräftigsten ist hier zunächst das als Hochfest rot eingetragene Fest der Konstanzer Kirchweihe am 9. September. Einige weitere typische Konstanzer Heilige, wie Konrad oder Gebhard, fehlen aufgrund der fragmentarischen Überlieferung.[17]

Abb. 4. Foto: Stadtarchiv Reutlingen

Abb. 4. Foto: Stadtarchiv Reutlingen

Dieser Kalender alten Stils war aber für und in eine/r evangelischen Stadt mit entsprechendem Umland gedruckt worden.[18] Unter Einbeziehung des Konstanzer Kalenders, des evangelischen Umfelds sowie von Frontispiz und Seitenleisten kommt den Fischpaaren in der rechten Seitenleiste eine besondere Bedeutung zu. In einem Einblattkalender von 1571 findet sich genau dieses Frontispiz mit den entsprechenden Seitenleisten und bei den Fischen handelt es sich um Fische des Zürichsees. [19] Dieser Druck von 1571 stammt aus der Offizin von Christoph Froschauer d. J. in Zürich.[20] Noch ein weiterer Kalender mit den Fischpaaren ist von Christoph Froschauer d. J. aus dem Jahr 1573 bekannt.[21] Nach dessen Tod 1585 wurde die Werkstatt von den Brüdern Escher übernommen und weitergeführt.[22] Doch bereits 1591 verkaufte Anna Escher, die Witwe von Hans Escher, die Offizin an Johann Wolf, der sie bis zu seinem Tod im Jahr 1627 weiter betrieb. Von Johann Wolf sind bislang sechs Einblattdrucke bekannt, unter denen sich der jetzt im Stadtarchiv Reutlingen aufgefundene jedoch nicht befindet.[23]

Ein Vergleich der beiden Kalendarien ergab eine weitest gehende Übereinstimmung. Bedauerlicherweise ist gerade bei dem Eintrag der Züricher Kirchweihe am 12. September das Reutlinger Exemplar nicht mehr lesbar. Es könnte sein, dass das im Kalender von 1571 rot eingetragene Fest im Reutlinger Exemplar nicht durch die Farbe als Hochfest herausgehoben wurde, mit Sicherheit lässt sich dies aufgrund der Zerstörung allerdings nicht sagen.

Es ist für Einblattkalender nicht ungewöhnlich, dass sich aus einzelnen Jahren mehrere Exemplare überliefert haben, aus anderen Jahren jedoch kein einziger. Das Reutlinger Exemplar dieses Züricher Kalenders von 1603 dürfte somit das einzig bekannte Stück sein.[24]

Zu den 1991/1994 bearbeiteten Fragmenten lassen sich in einigen Fällen genauere Angaben machen. Bei Nr. 62 handelt es sich um Ausschnitte aus dem Jesaja-Kommentar des Hieronymus (Buch III, cap. 7, Verse 11-14 sowie 20-21).[25] Der Text des Fragmentes Nr. 199 konnte inzwischen als Auszug aus einer Biblia latina, Act 11,21-30 identifiziert werden.[26] Weiterhin handelt es sich bei dem Fragment Nr. 195 um einen Auszug aus der Legenda aurea des Jacobus de Voragine mit Ausschnitten aus der Vita des Gregorius sowie der Legende zum Fest Purificatio Mariae.[27]

[1] Die neueste Publikation aus Bibliotheken: Katalog der lateinischen Fragmente der Bayerischen Staatsbibliothek München, Bd. 3: Clm 29550-29990, beschrieben von Hermann Hauke und Wolfgang-Valentin Ikas (Catalogus codicum manu scriptorum Bibliothecae Monancensis IV, pars 12.3), Wiesbaden 2013. Eine Übersicht unter Berücksichtigung der Fragmente demnächst bei Maria Gramlich: Die Bibliothek der Abtei Ottobeuren, VIII. – XIII. Jahrhundert.
[2] Stadtarchiv Reutlingen, Findbuch zur Sondersammlung S 201: Abgelöste Bucheinbände, Reutlingen 1991, Reutlingen 21994; Dazu Anette Löffler, Das unscheinbare Kleid alter Bücher. Die Reutlinger Sondersammlung „Abgelöste Bucheinbände“, in: Reutlinger Geschichtsblätter NF 33 (1993), S. 1-87.
[3] Es handelt sich bei dem Trägerband  um die Artikel der Gerber von 1574.
[4] Eph 4,7-13.
[5] Der Trägerband beinhaltet die Zunftprotokolle der Tucher von 1614-1739.
[6] Die Signatur des Trägerbandes lautet RUA 3132, dies ist die Schneiderordnung von 1564.
[7] Réne-Jean Hesbert, Corpus antiphonalium officii, Bd. 3: Invitatoria et antiphonae (Rerum ecclesiasticarum documenta, Series maior, Fontes 9), Rom 1968, Nr. 2875.
[8] Analecta Hymnica Medii Aevi, Bd. 51: 51. Thesauri hymnologici hymnarium : Die Hymnen des Thesaurus hymnologicus H. A. Daniels und anderer Hymnen-Ausgaben, hg. von Clemens Blume, Leipzig 1908, Nr. 58; Ulysse Chevalier, Repertorium Hymnologicum. Catalogue des chants, hymnes, proses, tropes en usage dans l’église latine depuis les origines jusqu’à nos jours, Band 2, Löwen 1897, ND Brüssel 1959, Nr. 9607.
[9] Er wird aufbewahrt unter der Sammlungssignatur S 201.
[10] Fritz Roth, Auswertung von Leichenpredigten, Bd. 1: R 1 – R 1000, Boppard 1959, S. 396.
[11] Eckhart G. Franz (Bearb.), Familienarchiv Wolff von Todenwarth (Bestand O 4). Repertorien des Hessischen Staatsarchivs Darmstadt, Darmstadt 1984/2006, S. V.
[12] Friedrich Battenberg (Hg.), Das Reichkammergericht im Spiegel seiner Prozessakten. Bilanz und Perspektiven der Forschung (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich 57), Köln 2010.
[13] Franz (wie Anm. 11), S. V.
[14] Roth (wie Anm. 10), R 762, S. 395-396. Zu seiner Leichenpredig: Güldener Trost-Löwe [..], gedruckt bei Johann Walther, [Lüneburg] 1669; eingesehen in SUB Göttingen, Sign.: Alv. T 172 (1).
[15] Hellmut Rosenfeld, Kalender, Einblattkalender, Bauernkalender und Bauernpraktiken, in: Bayrisches Jahrbuch für Volkskunde 1962, S. 7-24, hier S. 16.
[16] Hermann Grotefend, Zeitrechnung des deutschen Mittelalters und der Neuzeit, Bd. I, Hannover 1891, S. 86-90. Das Kalendarium bei Grotefend geht auf Handschriften des 15. und frühen 16. Jahrhunderts zurück.
[17] Wolfgang Müller, Studien zur Geschichte der Verehrung des heiligen Konrad, in: Freiburger Diözesanarchiv 95 (1975), S. 150-314, hier S. 212-224.
[18] Freundliche Mitteilung von Josef H. Biller (München) vom 15. Dezember 2013.
[19] Rosenfeld (wie Anm. 15), S. 16 mit Abb. 6.
[20] Ursula Baumgartner, Einblattkalender aus der Offizin Forschauer in Zürich. Versuch einer Übersicht, in: Gutenberg-Jahrbuch 1975, S. 122-135, hier Nr. 28, S. 133. Von dem Druck von 1571 befinden sich Exemplare in der UB Bern sowie der BSB München. Letztere besitzt kein Exemplar des Drucks von 1603, freundliche Mitteilung von Helga Tichy (München) vom 8. Januar 2014.
[21] Ursula Baumgartner, Vier Wandkalender aus der Offizin Froschauer, in: Gutenberg-Jahrbuch 1976, S. 152-157.
[22] Christoph Reske / Josef Benzing, Die Buchdrucker des 16. und 17. Jahrhunderts im deutschen Sprachgebiet (Beiträge zum Buch- und Bibliothekswesen 51), Wiesbaden 2007, S. 1040-1045.
[23] Paul Leemann-van Elck, Die zürcherische Offizin Wolf 1591-1626, in: Schweizer graphischer Zentralanzeiger 50 (1944), S. 1-3. Manfred Vischer, Züricher Einblattdrucke des 16. Jahrhunderts, Baden-Baden 2001.
[24] In der Kalendersammlung des ZB Zürich ist kein Exemplar bekannt, freundliche Mitteilung von Anikó Ladány (Zürich) vom 19. Dezember 2013.
[25] Hieronymus, Commentariorum in Esaiam libri I-XI, hg. von Marinus Adriaen (Corpus Christianorum Series Latina 73), Turnhout 1963, S. 100-188.
[26] Robert  Weber, Biblia sacra iuxta Vulgatam versionem, Stuttgart 52007.
[27] Johanne Georg Theodor Graesse (Hg.), Jacobi a Voragine Legenda aurea, vulgo Historia Lombardica dicta, Leipzig 1890, cap. 37, S. 160-161 und cap. 46, S. 197-198.

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Empfohlene Zitierweise

Anette Löffler: Neu aufgefundene Makulatur aus den Beständen des Stadtarchivs Reutlingen, in: Mittelalter. Interdisziplinäre Forschung und Rezeptionsgeschichte, 27. Februar 2014, http://mittelalter.hypotheses.org/3118 (ISSN 2197-6120).

Quelle: http://mittelalter.hypotheses.org/3118

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Jakob von Vitry: Okzidentale Geschichte (Jacobus de Vitriaco: Historia Occidentalis, deutsch), 4

[Fortsetzung des Übersetzungsprojekts]

Viertes Kapitel

Von den verschiedenen Geschlechtern der Menschen und den verschiedenen verschlungenen Verbrechen

Aber nicht nur diese, sondern das gesamte Menschengeschlecht hatte seine Wege auf der Erde verdorben. Sie erhoben sich nämlich in der Nachwelt über die vergessenen Altvorderen. Die Händler bemühten sich, durch Lügen und unendliche Betrügereien ihre Brüder zu hintergehen. Bauern gaben von ihren Gütern den Zehnten nicht mehr den Kirchen. Knechte und Mägde dienten ihren Herren ohne Gottesfurcht und nur dem Augenschein nach.

Die Ärzte fürchteten sich nicht davor, ihre Kranken auf alle Arten zu betrügen, indem sie mit trügerischen Lippen und großsprecherischer Zunge vieles versprachen und mäßiges hielten, wobei sie viel annahmen, aber wenig vollbrachten. Meistens raubten sie denen, die sie heilen sollten, das Leben durch Lüge und Täuschung und brachten dabei auf betrügerische Weise noch Geld an sich. Sie sind jedoch nicht nur den Körpern nicht zuträglich, sondern vernichten auch die Seelen. Während sie nämlich versichern, dass die Körper durch Ausweitung der Begierde gereinigt würden, verführen sie viele zur Unzucht. Die Schwerkranken aber, denen sie sagen sollten: „Bestelle dein Haus, denn du wirst sterben und nicht leben“,1 bringen sie dazu, die Beichte und andere geistliche Heilmittel aufzuschieben oder gering zu achten, während sie sie auf lügnerische und betrügerische Weise in Sicherheit wiegen.

Auch die ungerechten Advokaten, geblendet durch die Gier nach Besitz und unermesslichem Lohn, widmeten sich nicht nur den ungerechten Fällen, sondern nahmen, im Vertrauen auf Lügen und Geschwätzigkeit, auch die aussichtslosen an. Von diesen sagte der selige Ijob: „Feuer wird die Zelte derer verschlingen, die gerne Bestechungsgeld annehmen.“2 Dieselben jedoch, die zugunsten des schmählichen Gewinns von Stadt zu Stadt, von Haus zu Haus, von Ratsversammlung zu Ratsversammlung liefen, wurden über das gesamte Land Ägypten verstreut, um Getreide zu sammeln. Sie verschleppten die Rechtssachen, indem sie freudig die Streitfragen vermehrten und unzählige Ausnahmen vorbrachten, um so die Kassen vielfach zu plündern. Wenn sie es aber nicht vermochten, eine Sache, durch welchen Betrug auch immer, zum gewünschten Ende zu führen, ließen sie sich sofort zur Berufung hinreißen, damit, wenn die Sache neu verhandelt würde, sich auch ihr Lohn erneuerte.

Die Weiber aber zogen, nicht nur in dirnenhaftem Schmuck und durch Verschwendungssucht der Kleidung, in gelocktem Haar, in Gold und Perlen und kostbarem Gewand, in unerlaubtem Beifall und Tanz, sondern auch mit mächtiger Hexerei und unzähligen Übeltaten, unvorsichtige Menschen in den Tod und zum tiefen Fall. Indem sie den Brunnen aufwühlten und nicht bedeckten, wurden sie durch Tierhaftes und Törichtes ruiniert. Ihnen wird, gemäß einer Weissagung des Propheten Jesaja, Gestank anstelle lieblichen Geruchs, ein Strick für die Hüfte und eine Glatze anstelle des gelockten Haars sein.

Diese jedoch, die der Welt entsagt und sich durch ein religiöses Gelübde gebunden hatten, indem sie die regulierte Lebensweise angenommen hatten, die nach außen eine Art von Frömmigkeit zeigten, deren Tugend jedoch verweigerten, die fielen nach dem Gelübde im elenden Fall so schwer, wie ihr Rang hervorgehoben war. Die Ungehorsamen, die Murrenden, die sich gegenseitig Verleumdenden, die das Kreuz Christi unter Zwang Tragenden, die Unreinen und Maßlosen, die nach dem Fleisch und nicht nach dem Geist Wandelnden, und auch die, die mit der an den Pflug gelegten Hand gemeinsam mit dem Weib des Lot zurückblickten nach dem Lauch, den Melonen und den Fleischtöpfen Ägyptens, während sie das Manna der Wüste verschmähten, die vergingen in den Gräbern der Begierlichkeit als Tote und Begrabene, „weil sie den frühen Glauben für ungültig erklärt hatten.“3 Viele von diesen, die die Frömmigkeit als Gewinn einschätzten, machten zwischen dem Heiligen und dem Profanen keinen Unterschied, aber nahmen häufig das Gestorbene und Geraubte von den Wucherern und Räubern an. Aus Gier hinterfragten sie dabei nichts, obwohl doch der heilige Tobias seine Frau bat: „Sieh zu, dass es nicht gestohlen sei.“4 Jene jedoch, die nicht durch die Tür gingen, sondern unter der Erde gruben, die durch das Schlupfloch des Geldes hineingekommen sind, die sind schon gerichtet durch den Herrn, der spricht: „Jede Anpflanzung, die nicht mein Vater gepflanzt hat, wird ausgerissen werden“,5 und ebenso die, die sich nicht scheuten, mit Hananias und Saphira nicht nur an der Eigenart des Willens, sondern auch am Eigentum des Geldes festzuhalten.

1Jes 38,1

2Ijob 15,34

31 Tim 5,12

4Tob 2,21 (BSV)

5Mt 15,13

D O W N L O A D

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Empfohlene Zitierweise: Jakob von Vitry: Okzidentale Geschichte 4, übers. von Christina Franke, in: Mittelalter. Interdisziplinäre Forschung und Rezeptionsgeschichte, 26. Januar 2014, http://mittelalter.hypotheses.org/2917 (ISSN 2197-6120).

Quelle: http://mittelalter.hypotheses.org/2917

Weiterlesen

Jakob von Vitry: Okzidentale Geschichte (Jacobus de Vitriaco: Historia Occidentalis, deutsch), 3

[Fortsetzung des Übersetzungsprojekts[1]]

Drittes Kapitel

Von den Räubereien und Eintreibungen der Mächtigen durch sie selbst oder durch ihre Spießgesellen und über ihre verschiedenen Verbrechen[2]

Während der Herr spricht, dass es besser zu geben statt zu nehmen sei, füllten die Menschen jener Zeit, und vor allem die, die die Regierungsgewalt über andere empfangen hatten, nicht nur durch ungesetzliche Schenkungen die Hände der Gierigen, oder erpressten durch Sammlungen und ungebührende Eintreibungen Geld von den Unterworfenen auf ihre eigene Verdammnis hin, sondern sie unterdrückten durch Plünderungen und gewaltsame Räubereien fortwährend, mal im Verborgenen, mal öffentlich, unvorsichtige oder schwache Menschen auf grausame Weise. Dabei waren sie sich nicht genügend gewahr, dass geschrieben steht: „Wehe, der du raubst, denn du wirst beraubt werden.“[3]Über diese sagte der Herr durch den Propheten: „Die das Fleisch meines Volkes fraßen, seine Haut abzogen und seine Knochen zerbrachen, werden zum Herrn schreien, er wird sie nicht erhören und sein Antlitz vor ihnen verbergen.“[4] Die Elenden bedenken nämlich ihre letzten Dinge nicht, wie Jeremia sagt: „Schmutz ist an ihren Füßen, weil sie das Ende nicht bedacht hat.“[5] „Dem Geringen kommt Erbarmen zu, die Mächtigen aber werden heftige Folter erleiden“,[6] und großes Gericht droht den Großen. Dieselben aber suchten nicht nur nach Beute, sondern verwüsteten auch ganze Landstriche durch Brand, und sie schonten nicht die Ländereien und Besitztümer der Klöster und Kirchen, da sie mit frevlerischer Hand die Heiligtümer aufbrachen und das dem geistlichen Dienst Gewidmete aus dem Innersten und von der Brust des Herrn wegschleppten. Den Armen und dazu seine Güter gaben sie ihren ruchlosen Spießgesellen preis, während sie in leichten Fällen untereinander wetteiferten. Mit Eisen gegürtet besetzten sie die Straßen und öffentlichen Plätze, wobei sie die Pilger und Geistlichen nicht verschonten. In den kleinen Orten und auch den Städten erfüllten Meuchelmörder und Verbrecher die Häuser, Plätze und verborgenen Orte, und lagen, durch das Blut der Unschuldigen geschützt, überall im Hinterhalt. Selbst auf dem Meer plünderten Freibeuter und Piraten, weil sie das göttliche Urteil nicht fürchteten, nicht nur die Händler und Pilger aus, sondern sie versenkten sie meist auch auf den Meeresgrund, indem sie ihre Schiffe anzündeten.

Die Fürsten jedoch und die ungläubigen Machthaber, die Verbündeten der Diebe, die eigentlich gehalten waren, den Frieden zu wahren und die Untergebenen zu verteidigen, und weiterhin die Verderben bringenden Menschen von den Untergebenen gleichsam wie Wölfe von den Schafen durch Abschreckung fernzuhalten, gewährten, nachdem sie Geschenke von ruchlosen und unheiligen Menschen aus Gier nach zeitlichem Gewinn angenommen hatten, ihnen Schutz und Begünstigung. Wenn sie einen Dieb sahen, liefen sie mit ihm, als ob sie sagen wollten: „Gib uns den Beuteanteil, der Geldbeutel sei einer für uns alle.“[7] Und so unterstützten sie die Diebe, Räuber, Kirchenschänder, Wucherer, Juden, Messerstecher und Mörder, die aufrührerischen Menschen, die sie eigentlich schwer bestrafen, von Grund auf ausrotten und aus der Mittel entfernen sollten, wobei sie selbst ohne Grund das Schwert trugen. Sie ließen sie ungestraft Übeltaten begehen, wo doch der Herr durch den Propheten sagt: „Sucht die Gerechtigkeit, helft dem Unterdrückten, schafft Recht der Waise und verteidigt die Witwe.“[8]

Sie selbst jedoch, die unreine Hunde waren und keine Sättigung kannten, die mit den höllischen Raben nach Leichen schnappten, unterdrückten die Armen mit Hilfe ihrer Vögte und ihrer Spießgesellen. Sie beraubten die Witwen und Waisen, während sie heimtückisch waren, Verleumdungen verbreiteten und viele Verbrechen begingen, um durch Folter Geld zu erpressen. Meistens wurden die Wehrlosen in Kerker und Fesseln verschleppt und die Unschuldigen gefoltert aus keinem anderen Grund, als weil man glaubte, dass sie noch etwas besäßen. Und vor allem die, die wegen der Verschwendungssucht und der Ausschweifung ihrer Herren schon nichts mehr besaßen, wurden für Turniere und die pompöse Eitelkeit der Welt, für überflüssige Ausgaben, Schulden und Zinsen in Fesseln gelegt. Aber auch Spielleute und Jongleure, Possenreißer, Landstreicher und Narren, Hofschranzen und Ehebrecher verzehrten den Besitz der Räuber, wie wenn sie zu ihrem Fürsten oder Tyrannen sagen wollten: „Reiße nieder, reiße nieder, bis auf den Grund.“[9] „Kreuzige, kreuzige“[10], schlachte und iss.

Dieselben Fürsten aber erlaubten zum Vollmaß ihrer eigenen Verdammnis den Huren und Bordellen, den Spielern, Wirtshäusern und Spelunken, die den Fallgruben der Räuber und den Synagogen der Juden ähneln, dem ungerechten Maßnehmen, den gefälschten Waagen und anderen Krankheiten dieser Art, die die Welt und ihre Staaten und Länder besetzten, und die sie austilgen, zerstören, verderben und zerreißen sollten, fortwährend zu wachsen. Nicht nur diejenigen, die solches verüben, sondern auch diejenigen, die zustimmen, werden das Reich Gottes nicht besitzen.

[1] Nachdem wir am 28. November mit dem Übersetzungsprojekt zur Historia Occidentalis begonnen haben, folgt hier nun das dritte Kapitel. Bitte beachten Sie zum besseren Verständnis immer die Einleitung, mit Informationen zur Vorgehensweise beim Übersetzungsprojekt und zum Editionstext, der die Grundlage für diese Übersetzung bildet: http://mittelalter.hypotheses.org/2529.

[2] Hist. Occ. III, ed. Hinnebusch, S. 79-81.

[3] Jes 33,1, eigentlich „vae qui praedaris nonne et ipse praedaberis“ (BSV).

[4] Mi 3,3.

[5] Klgl 1,9.

[6] Weish 6,7.

[7] Spr 1,14.

[8] Jes 1,17.

[9] Ps 136,7 (Ps 137,7).

[10] Lk 23,21.

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Empfohlene Zitierweise: Jakob von Vitry: Okzidentale Geschichte 1-2, übers. von Christina Franke, mit einer Einleitung von Björn Gebert, in: Mittelalter. Interdisziplinäre Forschung und Rezeptionsgeschichte, 9. Dezember 2013, http://mittelalter.hypotheses.org/2634 (ISSN 2197-6120).

 

Quelle: http://mittelalter.hypotheses.org/2634

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Jakob von Vitry: Okzidentale Geschichte (Jacobus de Vitriaco: Historia Occidentalis, deutsch), 1-2


Einleitung zum Übersetzungsprojekt

(Björn Gebert)

Die Historia Occidentalis Jakobs von Vitry (gest. 1240) stellt eine ungemein reiche und bekannte Quelle für die Geschichte der lateinischen Kirche im frühen 13. Jahrhundert aus der Sicht eines ihrer Vertreter dar. Der Autor, ein Regularkanoniker, hatte in Paris studiert, gegen die Albigenser gepredigt, war zeitweise Bischof von Akkon und war, gleichsam Höhepunkt seiner kirchlichen Karriere, im Jahr 1229 durch Papst Gregor IX. zum Kardinalbischof von Tusculum erhoben worden.[1] Er darf als Förderer der semireligiosen Lebensweise der Beginen, als Beobachter und Kenner der religiosen Bewegungen seiner Zeit und als Befürworter der Kirchenreform gelten. Die Historia Occidentalis, die er wohl um 1225 vollendete,[2] ist nach einer Historia Orientalis der zweite von drei geplanten Teilen von Jakobs Historia Hierosolimitana abbreviata, die neben zahlreichen Predigten[3] sowie Briefen und einer Vita wiederum nur einen Teil seines schriftlichen Schaffens darstellt.

Bei der Historia Occidentalis handelt es sich freilich nicht um das Werk eines Historikers, der in jedem Fall objektiv versucht Fakten darzustellen. Sie ist zwar durchaus eine historia in Form einer “Historiographie religiösen Lebens”,[4] aber Haltung und Intention des Autors hat Franz J. Felten kürzlich gut auf den Punkt gebracht:

Zweifellos war er ein gut informierter, verständiger, aber unterschiedlich verständnisvoller Beobachter des religiosen Lebens seiner Zeit, oft genug als Augenzeuge. Vor allem aber erscheint er als Theologe und Prediger mit den zeit- und standestypischen Denkmustern (wie z. B. alternde Welt, allgemeiner Sittenverfall, Wesen der Frau) und paränetischen Absichten.”[5]

Dabei ist das Bild, das Jakob von Geschichte und Gegenwart zeichnet, so Felten weiter, “(zumindest teilweise) bewusst konstruiert […], um die höheren kirchenpolitischen Ziele des Autors zu fördern”.[6]

Inhaltlich bietet Jakob im Wesentlichen eine Zustandsbeschreibung der zeitgenössischen westlichen Kirche und Welt, die zunächst sehr düster ausfällt, etwa wenn er die Bewohner des Abendlandes im Allgemeinen, speziell aber auch weite Teile des Klerus als sündhaft und sittenarm beschreibt.[7] Eine Hoffnung und gewissermaßen ein Licht in der Finsternis stellen für den Autor neben einzelnen Klerikern, quasi stelle in firmamento caeli,[8] vor allem die jüngeren, reformorientierten religiosen Bewegungen seiner Zeit dar.[9] Theologische Ausführungen über das Priesteramt und die Messe, das Bischofsamt und die Sakramente bilden den Abschluss des Werkes.[10]

Für die Historia Occidentalis liegt eine kritische Edition aus dem Jahr 1972 vor, die von dem Dominikaner John Frederick Hinnebusch besorgt wurde.[11] Eine publizierte vollständige englische oder deutsche Übersetzung gibt es bislang jedoch nicht.[12] Angesichts der unbestrittenen Bedeutung dieser Quelle,[13] die unter anderem auch darin besteht, dass ihr Autor spätestens 1219 mit Franziskus von Assisi zusammengetroffen war[14] und deshalb in seiner Chronik ein sehr frühes und externes Zeugnis für die junge franziskanische Bewegung liefern konnte, überrascht dieser Befund.[15] Zwar wird der Forscher ohnehin zum lateinischen Text greifen müssen, will er mit der Quelle methodisch sauber arbeiten, doch für die akademische Lehre, gerade in Hinblick auf Studienanfänger, die über (noch) keine Lateinkenntnisse verfügen, erscheint eine Übersetzung ins Deutsche ein Desiderat. Ausgehend von der Edition von Hinnebusch soll dies nun von Christina Franke geleistet und das Ergebnis hier auf dem Blog zur Verfügung gestellt werden.[16]

Theoretisch ist es das Ziel, monatlich ein oder zwei Kapitel zu veröffentlichen, aber garantiert werden kann diese Regelmäßigkeit leider nicht, da weder die Übersetzerin, noch der Redakteur die Arbeit an diesem Vorhaben hauptberuflich betreiben bzw. mangels Finanzierung auch gar nicht betreiben könnten.

Es folgt die Übersetzung des ersten und zweiten Kapitels nach der Edition Hinnebuschs, die bei der Lektüre immer mit herangezogen werden sollte, da alternative Lesarten in der Übersetzung i.d.R. nicht berücksichtigt werden und nur die in der Edition als direktes Zitat gekennzeichneten alt- und neutestamentlichen Textstellen ausgewiesen werden. Bemerkungen/Ergänzungen zum besseren Verständnis werden nur in Einzelfällen vorgenommen und durch eckige Klammern gekennzeichnet bzw. erscheinen in den Anmerkungen, falls sie ausführlicher ausfallen. Die Seitenzahlen für die jeweiligen Kapitel bei Hinnebusch werden immer per Anmerkung hinter der Kapitelüberschrift nachgewiesen.[17]

Erstes Kapitel

Von der Verführung des Abendlandes und den Sünden der Abendländer[18]

Wie die morgenländische Kirche, die einstmals von den Enden der Erde kam, um die Weisheit Salomons zu hören, mannigfaltigen Schicksalen ausgesetzt und durch verschiedenste Bitterkeiten niedergedrückt, ihre Freude in Trauer und Trübsal verwandelte, so blieb auch ihre erstgeborene, besondere Tochter, die Kirche Jerusalems, der Kleidung ihrer Ehre beraubt und von vielen Fleischern zerrissen, fast nackt zurück, „wie die Eiche, wenn die Blätter fallen“[19], so als wäre das Wasser aus ihrer Quelle fast vertrocknet. Nichtsdestotrotz freilich hörte der unersättliche Feind des Menschengeschlechts, die sich ringelnde Schlange nicht auf, in den Landstrichen seiner tödlichen Schlechtigkeit ein verderbliches Gift zu verbreiten, und nachdem das Haupt verwundet war, wollte er die Glieder auf alle Arten verletzen.

Das Haupt und die Mutter des Glaubens ist Jerusalem, so wie Rom das Haupt und die Mutter der Gläubigen ist. So sehr strahlte nun der Schmerz des Hauptes in die Glieder aus, und so sehr zeigte der Herr seinen Zorn und Unwillen durch zahlreiche Strafqualen, dass der gerechte Rächer der Verbrechen, „Gott, der Herr der Rache“[20], nachdem das Heilige Land wegen der Forderungen unserer Sünden in die Hände der Ungläubigen gefallen war, die ganze Welt schlug, indem er ihr viele Qualen auferlegte. Er erlaubte in Spanien den Mauren, in der Provence und der Lombardei den Häretikern, in Griechenland den Schismatikern und überhaupt überall „falschen Brüdern“[21], sich gegen uns zu erheben. Um ein Wort des Propheten zu gebrauchen: So zerbrach der Herr im Takt unsere Zähne, dass, nachdem die Heilige Stadt verlassen worden war, die Ehre der Kirche verringert und ihre Zähne verschoben, das heißt, zerbrochen wurden. Wie viele Kinder auch immer in der Welt geboren wurden, die hatten immer zwei oder drei Zähne weniger als die anderen, die bereits erzeugt worden waren. Nachdem die Zähne zerstört waren, zerbrach der Herr alle unsere Knochen, „verklebt wurde unser Bauch auf der Erde“[22], und unsere Seele haftete am Boden.

Weil die Schlechtigkeit der Menschen auf diese Weise zunahm und zum Bösen geneigt war, wurde sie immer weiter abwärts getragen. Es vertrockneten die Euter, die einstmals Trauben gleich gewesen waren, und die Lehre des Evangeliums erschien gering, während die göttlichen Weisungen fortwährend von den Frevlern niedergetreten wurden. Sie verkehrten Silber zu Asche und mischten den Wein mit Wasser. Alle Ehrerbietung Gottes und der Menschen warfen sie hinter sich, und die Gesichter der Priester erröteten nicht, obwohl sie dem Schädlichen folgten, sich vom Heilbringenden abwandten und sich dem Schlimmsten zuneigten. Der Beste unter ihnen war dem Hagedorn gleich, und der Aufrechte glich der Mauerzinne. Auflösung von Verwandtschaftsbanden und Verfinsterung war in jeder Seele, und die Gesichter aller glichen jener Schwärze. Es fehlte der Glaube, die Barmherzigkeit wurde ausgelöscht und alle Tugend ging zugrunde. Im Sumpf dienten sie mit Ziegel und Stroh dem Pharao. Die Herrschaft des Machthabers und Fürsten der Finsternis erstreckte sich demgegenüber weit und breit.

Die Söhne Zions, die einstmals berühmt waren und ursprünglich in Gold gekleidet, wurden nun für irdene Gefäße gehalten. Ihre Leber war auf die Erde ausgeschüttet, sie irrten blind durch die Straßen und sie waren beschmutzt mit Blut. Auf jämmerliche Weise brachten sie die Ungeheuer ihrer Verbrechen und die Zeichen ihrer Abscheulichkeit hervor, und sie durchschweiften den Erdkreis. Zur Hure ist geworden, die einstmals Stadt der Gläubigen war. „Der Feind streckte seine Hand aus nach allen ihren Schätzen.“[23] „Ihre Fürsten waren in ihrer Mitte wie brüllende Löwen. Ihre Richter waren Wölfe am Abend, am Morgen ließen sie nichts zurück.“[24] „Jedes Haupt war matt und jedes Herz schuldig.“[25] Ihre Fürsten waren Ungläubige, Verbündete von Dieben. „Knabe und Greis lagen draußen auf der Erde.“[26]

Vergangen war die Gerechtigkeit aus den Dingen, die Furcht vor dem Herrn verschwand aus der Öffentlichkeit und Gewalt herrschte durch erzwungene Gleichheit unter den Völkern. Betrug, Hinterlist und Täuschung umgaben weit und breit die Welt. Verschwunden war das Messopfer von Brot und Wein aus dem Haus des Herrn und entvölkert war die Gegend. Es trauerte der Erdboden, weil der Weizen verwüstet war. Der Wein wurde gepanscht, das Öl geriet ins Stocken. Die Bauern waren verwirrt und die Winzer klagten über Weizen und Gerste, denn vergangen war die Erntezeit auf dem Acker. Der Feind hielt Lese im Weinberg des Herrn.

Alle Tugend hatte Platz gemacht und war gleichsam unnütz vergangen. Während die Bosheit Einzug hielt, gab es keinen, der sich entgegenstellte und am Herrn festhielt, oder auch in der Bresche mit ihm stand. Sie hatten eine Wolke entgegengestellt, damit das Gebet nicht durchdringe.

Während die Welt sich jedoch gegen Abend neigte, war die Liebe so sehr erkaltet und wurde Glaube auf der Erde nicht mehr gefunden, dass die zweite Ankunft des Menschensohns nahe und gleichsam schon vor der Tür zu stehen schien. Der Sohn beschimpfte den Vater, die Tochter stand gegen die Mutter auf, die Schwiegertochter gegen die Schwiegermutter, und die Feinde des Menschen waren seine Hausgenossen. Das Heilige wurde vom Profanen nicht unterschieden. Was immer sie begehrten, hielten sie für erlaubt. Alles stand durch die Sünde auf dem Kopf. Wie ein ungezügeltes Pferd wurden sie kopfüber fortgetragen, während sie mit sinnloser Unruhe an den Zügeln zogen. Das Band des Wagens war gleichsam die Sünde. Alle ihre Verfolger, die bösen Geister nämlich, trieben sie in die Enge und „sie wurden in die Gefangenschaft geführt vor dem Angesicht des Feindes“[27]. Sie wollten nicht achtgeben und wandten sich ab. Ihre Ohren verstopften sie, so dass sie nicht hörten, und sie machten ihr Herz zu Stein. Gitarre, Leier, Trommel, Flöte und Wein gab es auf ihren Gelagen, das Werk des Herrn aber achteten sie nicht.

Die Aufrichtigkeit der Sitten und die Zierde der Tugenden fanden, Vertriebenen gleich, keinen Platz, wo die herrschenden und weit ausschweifenden Sünden alles besetzten. Das dem Himmel Freundliche und die gottgefälligen Dinge achteten sie, gleich einer verächtlichen Sache, für nichts. Wo sie also fortwährend und ohne Schamesröte Unkeuschheit trieben wie die Sau im Schlamm, hielten sie Gestank für Köstlichkeit. Gleich dem Vieh vermoderten sie im Schweinekot, während sie ein unbeflecktes Ehebett und eine ehrenhafte Heirat gering achteten. Unter Verschwägerten und Nahestehenden waren die Ehebünde nicht sicher, aber die überstürzte Begierde kümmerte sich nicht um die Gefahren des Geschlechts.

Während also Besonnenheit und Mäßigung ins Exil gingen, besetzten Völlerei und Trunkenheit den Platz. „Wie die Dornen sich gegenseitig umgreifen, so auch sie bei ihren Gelagen.“[28] Alle Tische wurden gefüllt mit Unflat und Schmutz, so dass kein Platz mehr darüber hinaus blieb. Hurerei, Wein und Trunkenheit trugen das Herz davon. Aber das nächtliche Würfelspiel, die gierige und zugleich bittere Sorge der Würfel, auch unerwartete Fälle [der Würfel] riefen Zorn, Betrug, Beleidigung und Streit, ebenso verbrecherische Lästerung gegen Gott hervor, und führten ihre Verehrer häufig in die Grube der Verzweiflung.

 Zweites Kapitel

Von den Gierigen und den Wucherern[29]

Obwohl Gott und den Menschen gefällig, waren Edelmut, Freigiebigkeit und Großzügigkeit aus der Öffentlichkeit verschwunden, weil die Wurzel allen Übels, nämlich die Pest der Habgier, fast alles besetzte und mit dem Gift der Begierde ansteckte: So sehr, dass, während das scheußliche Verbrechen der Zinsnahme fortwährend und gleichsam erlaubt die gierigen Wucherer in Besitz hielt, die Lehnsleute wegen dieses unersättlichen Blutegels die Güter und weiten Ländereien im Stich ließen. Die Armen wurden beraubt und die Kirchen geplündert, während die Pest des Zinses, die mit jedem Augenblick wuchs und keine Ruhe geben konnte, sie immer weiter durch Wucherer in Schulden drängte. Dieses unreine und verwerfliche Menschengeschlecht war jedoch überall so sehr erstarkt, dass die, die Zinsen und Überschüsse über das rechte Maß hinaus ohne Erbarmen eintrieben, nicht nur die Städte und Weiler, sondern auch die Landgüter erfüllten, während sie sowohl bei Tag als auch bei Nacht, stündlich und in jedem Moment Handel auf ihre eigene Verdammnis hin betrieben, obwohl doch der Herr sagt: „Gebt einander und erhofft euch davon nichts.“[30] Und weiterhin: „Ihr sollt nichts von einem Raubtier Zerrissenes essen.“[31] Die Söhne, die Töchter und alle die, von denen jenes unheilvolle und krankmachende Geld festgehalten wurde, zogen sie mit sich hinüber durch das Feuer, so dass sich erfüllen sollte, was geschrieben steht: „Sie opferten ihre Söhne und ihre Töchter den Dämonen.“[32] Die Pfänder aber, die sie gänzlich durch Glück empfangen hatten, weigerten sich die vermessenen Söhne der Verdammnis entgegen dem Gebot des Herrn zurückzugeben. Er sprach nämlich in Leviticus: „Wenn dein Bruder den Preis für den Rückkauf aufbringen kann, soll man die Früchte von der Zeit an rechnen, in der er verkauft hat, und was übrig bleibt, soll er dem Käufer zurückgeben. So kann er seinen Besitz wieder erwerben.“[33] Er [= Moses] nennt jedoch den ‘Käufer’, der gegen Geld Früchte und keinen Besitz kauft. Andere verkauften ihre Waren zum höchsten Preis, weil sich die Zeit des Loskaufs verzögern könnte, oder sie kauften Waren, die in Zukunft wertlos sein werden, weil sie die Zeit des Loskaufs schon vorhersahen, und verschrieben sich so selbst der Strafe des ewigen Todes und der Verdammnis.

[1] Vgl. Geschichte des Kardinalats im Mittelalter, hrsg. von Jürgen Dendorfer und Ralf Lützelschwab, Stuttgart 2012 (Päpste und Papsttum 39), S. 480.

[2] Vgl. Jacques de Vitry, Histoire Occidentale, trad. par Gaston Duchet-Suchaux, introd. et notes par Jean Longère, Paris 1997, S. 32-37.

[3] Neben seinen Zeitgenossen, dem Zisterzienser Casearius von Heisterbach und dem englischen Theologen Odo von Cheriton, war Jakob von Vitry einer der ersten Autoren, die exempla in ihre Predigten integrierten. Vgl. Caesarius von Heisterbach, Dialogus Miraculorum / Dialog über die Wunder, 1. Teilbd., eingel. von Horst Schneider, übers. und komm. von Nikolaus Nösges und Horst Schneider, Turnhout 2009, S. 57. Ausführlich zu den exempla Jakobs hat zuletzt  Marygrace Peters, Speculum vitae et fidei. The exempla as an historical source in medieval preaching for understanding its context and audience, with emphasis on Jacques de Vitry’s “Sermones Vulgares”, Diss. Boston 1993 gearbeitet.

[4] Franz J. Felten: Geschichtsschreibung cum ira et studio. Zur Darstellung religiöser Gemeinschaften in Jakob von Vitrys Historia occidentalis, in: Christliches und jüdisches Europa im Mittelalter, hrsg. von Lukas Clemens, Trier 2011, S. 83-120, hier S. 118.

[5] Ebda., S. 117. Weitere Kritik übt Felten etwa an der vagen Chronologie innerhalb des Werkes (S. 88 f.) und zumindest mit Verwunderung und leichtem Befremden konstatiert er die Vernachlässigung der Frauengemeinschaften einiger Orden (S. 108-111).

[6] Ebda., S. 118.

[7] John Frederick Hinnebusch, The Historia Occidentalis of Jacques de Vitry. A Critical Edition, Fribourg 1972 (Spicilegium Friburgense 17), Kapitel II-V; VII, X, XXX-XXXI. Die Kapiteleinteilung in der Edition von Hinnebusch geht auf eine moderne Strukturierung des Textes zurück, die schon vom Editor (S. 20-24, 62-64) selbst kritisiert wurde, zuletzt auch von Felten, Geschichtsschreibung (wie Anm. 4), S. 87 f.

[8] Hinnebusch, Historia (wie Anm. 7), VI, VIII, IX. Zitat aus Kapitel IX, Z. 9-10.

[9] Ebda., Kapitel XIIII-XXIX, XXXII.

[10] Ebda., Kapitel XXXIIII-XXXVIII.

[11] Hinnebusch, Historia (wie Anm. 7).

[12] Allerdings existiert eine Übersetzung ins Französische: Jacques de Vitry, Histoire Occidentale (wie Anm. 2). Als Beispiel für eine veröffentlichte englische Teilübersetzung ist Jessalynn L. Bird, Texts on hospitals. Translation of Jacques de Vitry, Historia Occidentalis 29, and edition of Jacques de Vitry’s sermons to Hospitallers, in: Religion and Medicine in the Middle Ages, ed. by Peter Biller and Joseph Ziegler, York 2001 (York studies in medieval theology 3), S. 109-134 anzuführen.  Des Weiteren wurden Übersetzungen von Briefen Jakobs: Jacques de Vitry, Lettres de la cinquième croisade, texte latin établi par G. Duchet-Suchaux. Trad. et prés. par R. B. C. Huygens, Turnhout 1998 (Sous la règle de Saint Augustin 5) und der Historia Orientalis: Jacques de Vitry, Histoire orientale, introd., édition critique et traduction par Jean Donnadieu, Turnhout 2008 (Sous la règle de Saint Augustin 12) ins Französische veröffentlicht. Eine Übersetzung der von Jakob verfassten Vita von Maria von Oignies ins Deutsche ist bei Brepols im Druck: Jakob von Vitry, Thomas von Cantimpré, Das Leben der Maria von Oignies, übers. von Iris Geyer, Turnhout [2014] (Corpus Christianorum in Translation 18).

[13] Vgl. etwa Herbert Grundmann, Religiöse Bewegungen des Mittelalters. Untersuchungen über die geschichtlichen Zusammenhänge zwischen der Ketzerei, den Bettelorden und der religiösen Frauenbewegung im 12. und 13. Jahrhundert und über die geschichtlichen Grundlagen der deutschen Mystik, 4. unveränd. Aufl., Darmstadt 1977, S. 171, Alfred John Andrea, Walter, archdeacon of London, and the Historia occidentalis of Jacques de Vitry, in: Church History, 50 (1981), S. 141-151, hier S. 141 f. und Felten, Geschichtsschreibung (wie Anm. 4), S. 118.

[14] Vgl. Pascale Bourgain, Art. “Jakob von Vitry”, in: Lexikon des Mittelalters 5, Sp. 295. Grundmann, Religiöse Bewegungen (wie Anm. 13), S. 172 vermutete schon für 1216 eine Begegnung der beiden Männer in Perugia, wo zu dieser Zeit Papst Innocenz III. gestorben war.

[15] Überhaupt fällt die Zahl wissenschaftlicher Veröffentlichungen zur Historia Occidentalis im Vergleich zur Historia Orientalis und zum Predigtwerk Jakobs auffallend gering aus, konsultiert man den RI-Opac. Als Standardwerk zum Autor und seinem Gesamtwerk ist immer noch Philipp Funk, Jakob von Vitry, Leben und Werke, Leipzig 1909 (Beiträge zur Kulturgeschichte des Mittelalters und der Renaissance 3) zu betrachten. Da seit dieser Studie jedoch über ein Jahrhundert vergangen ist, kann mit Spannung die Dissertation von Michael de Nève erwartet werden, der das Thema “Jacobus de Vitriaco. Wirken, Werk und Wirkung zwischen ‘cura animarum’ und ‘Curia Romana’” bearbeitet.

[16] Eine Übersetzung ist freilich immer nur als Übersetzungsangebot zu betrachten, da sie zwangsläufig bereits interpretiert, sobald sie sich aus oft vielfältigen Möglichkeiten für eine Wortbedeutung entscheidet. Nochmals sei der Griff zum lateinischen Text für eine detailliertere Beschäftigung mit der Quelle empfohlen.

[17] Angabe wie folgt: Hist. Occ. [Kapitelnummer], ed. Hinnebusch, S. [Seitenzahl(en)].

[18] Hist. Occ. I, ed. Hinnebusch, S. 73-77.

[19] Jes 1,30.

[20] Ps 93,1 (Ps 94,1).

[21] 2 Kor 11,26.

[22] Ps 43,25 (Ps 44,26).

[23] Klgl 1,10.

[24] Zef 3,3.

[25] Jes 1,5.

[26] Klgl 2,21.

[27] Klgl 1,5.

[28] Nah 1,10.

[29] Hist. Occ. II, ed. Hinnebusch, S. 78 f.

[30] Lk 6,35.

[31] Lev 22,8.

[32] Ps 105,37 (Ps 106,37).

[33] Lev 25,25-27.

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Quelle: http://mittelalter.hypotheses.org/2529

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Der internationale französische Veranstaltungskalender “Calenda” im Überblick September 2013

Willkommen zum Überblick über die internationale französische Forschungsdatenbank „Calenda“!

Im monatlichen Rhythmus wird hier ein deutschsprachiger Überblick über die Beiträge auf Calenda zur mittelalterlichen Geschichte zur Verfügung gestellt. Bei Calenda handelt es sich um die wichtigste Forschungsdatenbank im französischsprachigen Bereich. Der folgende Überblick möchte auf Calenda im deutschsprachigen Bereich aufmerksam machen und die Rezeption französischsprachiger Veranstaltungen erleichtern. Es muss darauf hingewiesen werden, dass für die Richtigkeit der Angaben keine Haftung übernommen wird und der Blick auf die Seite von Calenda weiterhin nötig ist, um valide Informationen zu erhalten. Titel in einer anderen als der französischen Sprache werden nicht übersetzt.

Für weitere Veranstaltungshinweise oder Hinweise zum Überblick wäre ich dankbar. Gerne stehe ich auch für Rückfragen zur Verfügung.

(Stand 16.09.2013)

 

Call for papers:

Session „Reich der Schriften und Tiger aus Pergament“. „Empire des lettres et tigres de parchemin“ beim International Medieval Congress Leeds 2014, Deadline 20.09.2013

Das Thema des nächsten internationalen Mediävistikkongresses in Leeds im Jahr 2014 lautet „Empire“. Dominique Stuztmann und Vicent Debiais möchten zu dieser Gelegenheit eine Session zur Schriftpraktik anbieten. Dabei soll davon ausgegangen werden, dass Schrift kein neutrales Medium ist. Dies zeigt sich beispielsweise dadurch, dass Schrift dazu geeignet war, Begriffe wie „Reich“, Macht und Herrschaft zu inszenieren. Des Weiteren kann das Schrifttum als eine in sich geschlossene Welt – ein „Reich der Schriften“ – betrachtet werden, dass eine innere Kohärenz und eigene Geschichte ausweist. Beide Dimensionen sollen innerhalb der Session zusammen betrachtet werden.

 

Workshop:

Die mittelalterliche Stadtbefestigung von Reims und den benachbarten Regionen: Neue Impulse der archäologischen und historischen Forschung. Les fortifications médiévales urbaines de Reims et des régions voisines, apports récents de la recherche archéologique et historique, in Reims, am 25.10.2013

Ziel des Workshops ist es die bereits vorhandenen Kenntnisse über die Verteidigungsanlage der Stadt Reims und der benachbarten Regionen, um die Ergebnisse der aktuellen Grabungen zu bereichern. Gleichzeitig stellt die Veranstaltung die Möglichkeit dar, die historischen und archäologischen Quellen einander gegenüberzustellen.

 

Haciendo hablar a los documentos: problemáticas y testimonios de la Antigüedad Clásica a la Edad Moderna. V Encuentro de actualización y discusión, in Buenos Aires, vom 30.-31.10.2013

 

Ethnische, kulturelle und religiöse Alteritäten in der Karolingerzeit. Les altérités ethniques, culturelles et religieuses à l’époque carolingienne, in Paris, am 15.11.2013

Im Rahmen des von Rolf Große geleiteten Forschungsprojekts »Charlemagne« organisiert das DHIP mit Amélie Sagasser am 15.11.2013 eine Tagung für Nachwuchswissenschaftlerinnen und –wissenschaftler. Ziel ist es über den juristischen Aspekt von Alterität hinaus die Diskussion um ökonomische, kulturelle und religiöse Aspekte zu erweitern.

 

Kolloquium:

Burgen, Küchen und Nebengebäude. Châteaux, cuisines et dépendances, in Périgord, vom 27. bis 29. September 2013

Die Tagung stellt thematisch Burgen, Küchen und Nebengebäude ins Zentrum des Interesses, um auf diese Weise Praktiken der Nahrungszubereitung zu beleuchten. Gefragt werden soll, auf welche Weise die mehr oder weniger großen Gruppen, die fest oder nur okkasionell auf Burgen lebten, versorgt wurden.

 

Entzücken und Überzeugen: Die Rhetorik in der Geschichte. Charmer, convaincre: la rhétorique dans l’histoire, in Beaulieu-sur-Mer, vom 4. bis 5. Oktober 2013

Die Tagung wird von der französischen Akademie der Inschriften und Literatur (Académie des inscriptions et belles-lettres) in der Villa Kérylos in Beaulieu-sur-Mer veranstaltet. Die Rhetorik gehört zum natürlichen Interessensgebiet der Akademie und soll anhand des Themenfelds des Entzückens und Überzeugens in ihren Konstanten und Entwicklungen im Verlauf verschiedener Epochen untersucht werden.

 

Das gemeine Volk in den mittelalterlichen Städten Europas. Les milieux populaires dans la ville médiévale européenne, Los grupos populares en la ciudad medieval europea, The commons in the european medieval city, in Nájero, vom 4. bis 5. Oktober 2013

Die 10. internationale Konferenz der Mediävistik in Nájera hat zum Thema das gemeine Volk. Untersucht werden sollen Terminologien der sozialen Gruppen in der Stadt, Vermögensverteilung, soziale und räumliche Mobilität, Arbeit und soziale Identität, politische Teilhabe und städtische Revolten.

 

Die Dame des Herzens. Religiöse Patronage und Mäzenatentum von machtvollen Frauen (14.–17. Jahrhundert), Frankreich, Spanien, Italien, römisch-deutsches Reich. La dame de cœur. Patronage et mécénat religieux des femmes de pouvoir (XIVe-XVIIe siècle). France, Espagne, Italie, Empire, in Paris, vom 10. bis 12. Oktober 2013

Frauen haben immer bevorzugte Verbindungen mit dem Sakralen unterhalten, die von den Historikern des frühen Mittelalters hervorgehoben wurden. Diese Überlegungen sollten auch für die folgenden Perioden weiterverfolgt werden. Aus diesem Grund widmet sich die Konferenz den Fragen, welche Rolle machtvollen Frauen im religiösen Bereich gespielt haben und ob es spezifische Bereiche ihrer Aktivitäten gab.

 

Justiz zwischen Recht und Gewissen. Vom Mittelalter bis heute. La justice entre droit et conscience. Du Moyen Âge à nos jours, in Dijon, vom 17. bis 18. Oktober 2013

Das Prinzip der eigenen Überzeugung, die Beweise nicht braucht, wurde lange Zeit unvorstellbar. Im Mittelalter hören Juristen nicht auf, den Richtern zu sagen, dass sie nicht auf der Basis ihres Gewissens, sondern von Beweisen richten sollen. In der Neuzeit müssen sich die Richter auf ein System der legalen Beweisen stützen, die „klarer als der Tag“ seien. Seit der Französischen Revolution sollen die Geschworenen bei Strafgerichtsprozessen nach ihrer Überzeugung, „nach ihrer Seele und ihrem Gewissen“ richten. Dieser Entwicklung will das Kolloquium unter den Gesichtspunkten der Doktrin, der Praktiken, Repräsentationen und Fiktionen nachgehen.

 

Die Kunst im Dienst des Prinzen. Monumental-architektonische, künstlerische und kulturelle Politik der Fürsten- und Territorialstaaten: Das italienische Paradigma, die europäische Erfahrung (ca. 1250 – ca. 1550). L’art au service du prince. La politique monumentale, artistique et culturelle des États princiers et seigneuriaux: paradigme italien, expérience européenne (vers 1250 – vers 1550), in Paris, vom 17. – 19.10.2013

 

Stellenausschreibung:

An der Universität Genf ist eine ordentliche oder assoziierte Professur für die Geschichte der Schweiz des Mittelalters und der Neuzeit zu besetzen, Bewerbungsschluss: 30.09.2013

Die Universität von Pau et des Pays de l’Adour schreibt in Zusammenarbeit mit dem Forschungsinstitut Casa de Velázquez eine Doktorandenstelle für drei Jahre im Rahmen des Projekts „Die Konstruktion der Archive zwischen der Herrschaft der Dynastie Foix-Béarn und jener der König von Navarra. Schriftpraktiken und politische Implikationen“ (Construire les archives, du temps des Foix-Béarn à celui des rois de Navarre. Pratiques de l’écrit et enjeux de pouvoir (XVe-XVIIe siècle) aus, Bewerbungsschluss: 05.10.2013

Quelle: http://mittelalter.hypotheses.org/2228

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Bericht: SCRIPTO VI

Das grundwissenschaftliche Angebot der meisten Unis rangiert von ‘nicht vorhanden’ über ‘eher bescheiden’ bis ‘solide in ausgewählten Bereichen’. Wer sich als Student der Geschichte oder Altphilologie bereits während des Studiums auf den Umgang mit Archivquellen vorbereiten möchte, ist folglich meist auf externe Angebote angewiesen. Das haben inzwischen erfreulicherweise auch diverse Institutionen erkannt, sodass das Angebot an Sommerschulen zu grundwissenschaftlichen Themen derzeit stetig breiter wird.1

Eines dieser Angebote, gerichtet vornehmlich an Graduierte, nennt sich SCRIPTO – Scholarly Codicological Research, Information & Paleographical Tools und wurde diesen Sommer bereits zum sechsten Mal (22.4. bis 28.6. 2013, Erlangen, Teilnahmegebühr: 1280 Euro) unter Leitung von Prof. Dr. Michele Ferrari am Mittellateinischen Seminar der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg angeboten.

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Arbeit mit Handschriften der Stadtbibliothek Nürnberg
Foto: Jan Odstrčilik

Ursprünglich entstanden aus dem Wunsch nach einer verbesserten Ausbildung zukünftiger Handschriftenkatalogisierer richtet sich der Kurs vorwiegend an den entsprechenden Bedürfnissen auf, reicht an vielen Stellen jedoch auch darüber hinaus:

Aufgeteilt ist SCRIPTO in vier unterschiedlich umfangreiche Module, von denen die von Prof. Dr. Bernhard Pabst mit großer Langmut und unerschöpflichem Wissensvorrat unterrichtete Texttypologie (mit den Teilmodulen Philosophie und Theologie, Literarisches Schrifttum, Liturgie/Musik und Zeitrechnung sowie Jura und Medizin) den größten Raum einnahm. Dazu gehörten außerdem eine Einführung in die Geschichte und die Standards der Handschriftenkatalogisierung durch Prof. Dr. Michele Ferrari sowie ein von Dr. Tino Licht aus Heidelberg referierter Überblick über die Besonderheiten des Mittellateins. Anhand zahlreicher Beispiele konnten wir hier unter Einsatz der Fachwörterbücher unsere Übersetzungstechnik erproben und uns mit den Tücken des mittelalterlichen Lateins auseinandersetzenfür die Altphilologen unter uns eine leichte Übung, für alle anderen im Zweifel lustiges Formenraten gepaart mit wilder Kombinationstechnik.

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Handschrift: Nürnberg, Stadtbibliothek, Cent. II, 42 (http://www.manuscripta-mediaevalia.de/hs/katalogseiten/HSK0165_b026_JPG.htm)
Foto: Jan Odstrčilik

Das zweite Modul zerfällt in die Bereiche Paläographie und Buchmalerei: Erstere brachte uns Dr. Tino Licht an mehreren Wochenenden mithilfe zahlreicher Beispiele und praktischer Übungen näher. Der letzteren widmeten wir uns unter Anleitung von Dr. Chrstine Jakobi-Mirwald und Dr. Christine Sauer in der Stadtbibliothek Nürnberg, wobei uns zahlreiche Codices aus dem dortigen Bestand zur Anschauung dienten. Auch wenn wir am Ende der Nürnberger Tage Krautblatt und Palmette, bewohnte und historisierte Initiale noch immer nicht ganz zweifelsfrei auseinanderhalten konnten, so gingen wir doch immerhin mit einem grundlegenden Einblick in die faszinierende Welt der Buchmalerei und einer Sensibilisierung für ihre Formenvielfalt ins nächste Modul. Mindestens ebenso wertvoll wie die Vermittlung des theoretischen Know-how war für uns jedoch sicher die Möglichkeit, illuminierte Stundenbücher und Bibeln in unseren eigenen Händen zu halten, die winzigen Pinselstriche der Miniaturen zu bestaunen, den Unterschied zwischen Papier und Pergament zu fühlen, das Schimmern des Blattgoldes mit dem matten Glanz von Pinselgold zu vergleichen – all das zu erfahren, was bei der Anschauung moderner und ach so praktischer Digitalisate verwehrt bleibt.

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Arbeit mit Handschriften der Stadtbibliothek Nürnberg
(Hert. Ms. 3)
Foto: Jan Odstrčilik

Abgerundet wird das Programm durch Modul 4, SCRIPTO digital. Einen Block verbrachten wir hierfür an der Herzog-August-Bibliothek Wolfenbüttel und einen zweiten in den Räumen der StaBi München. Dabei bestand das Programm in Wolfenbüttel vorwiegend aus einer von Torsten Schaßan dargebotenen Einführung in XML (Extensible Markup Language) und TEI (Text Encoding Initiative), die beide für die Erstellung digitaler Editionen benötigt werden – grundsätzlich sicher eine sinnvolle Ergänzung, für tendenziell technophobe Mediävisten wie mich jedoch schwere Kost, zu deren Verdauung es neben den begleitenden Übungen wohl noch einer vertiefenden Anwendung im Anschluss bedurft hätte. Bis auf eine Führung durch die öffentlich zugänglichen Schauräume der herzoglichen Bibliothek war zu unser aller Bedauern leider keine weitere Nutzung derselben bzw. ihrer Handschriftenschätze vorgesehen.

In München hingegen lag der Fokus auf der Digitalisierung von Handschriften, die uns verschiedene Mitarbeiter der StaBi in Theorie und Praxis näherbrachten. Beliebte Diskussionsthemen waren hier Sinn und Unsinn der massenhaften Handschriftendigitalisierung sowie die daraus folgende, zunehmend restriktive Politik vieler Bibliotheken hinsichtlich der Benutzung von Originalen.

Dieser Widerstreit zwischen dem Schutz und der Konservierung von Handschriften auf der einen und der Notwendigkeit oder dem Wunsch des Mediävisten nach haptischer Anschauung auf der anderen Seite begleitete uns darüber hinaus während des gesamten Kurses in unzähligen Gesprächen. Glücklicherweise hatten wir dank SCRIPTO jedoch den Vorzug, zahlreiche Archivalien sowohl aus der Stadtbibliothek Nürnberg und der UB Erlangen als auch aus der Pfarrbibliothek Neustadt an der Aisch und der Universitätsbibliothek von Uppsala weitgehend unbürokratisch nutzen zu dürfen. Lediglich in Stockholm, neben Uppsala Ziel unserer fünftägigen Schweden-Exkursion, brachte man uns hinsichtlich des Umgangs mit den Handschriften kein allzu großes Vertrauen entgegen und legte uns diese in der Kungliga biblioteket folglich lediglich unter der umblätternden Aufsicht einer gestrengen Bibliotheksmitarbeiterin vor.

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Universitätsbibliothek Uppsala
Foto: Annabell Engel

Neben den Bibliotheken stand insbesondere in Stockholm der Besuch einiger historischer Sehenswürdigkeiten auf dem Programm. – Alles in allem eine nette, für den Inhalt des Kurses jedoch nicht unbedingt notwendige Ergänzung, die zugunsten niedrigerer Kursgebühren wohl auch problemlos hätte eingespart werden können. Dies umso mehr, wenn man uns stattdessen die Möglichkeit eingeräumt hätte, die Bestände in München, Wolfenbüttel und Bamberg zu nutzen, die denen in Uppsala und Stockholm – sieht man einmal vom Codex Gigas ab, den wir zudem lediglich hinter Glas betrachten durften – in ihrer Pracht und Vielfalt sicher in nichts nachstehen.

Bereichernd hingegen war die Tagesexkursion zur Pfarrbibliothek in Neustadt an der Aisch: In einer kleinen, über der Sakristei gelegenen und seit dem 16. Jahrhundert praktisch unveränderten Kammer wird hier ein Teil des etwa 9500 Bände

umfassenden Bestandes aufbewahrt und von Bibliothekar Reinhold Ohlmann in aufopferungsvoller, ehrenamtlicher Arbeit gepflegt und erforscht. Ihren Reichtum verdankt die Kirchenbibliothek in erster Linie der Auflösung des Klosters St. Wolfgang in Riedfeld im Zuge der Bauernaufstände 1525, dessen Bestand ihren Grundstock bildet. Vorteilhaft hat sich zudem neben diversen Bücherspenden und Neuerwerbungen auch ein Paragraph in der Bibliotheksordnung ausgewirkt, der jeden neuen Pfarrer bei Amtsantritt zu einer Bücherabgabe verpflichtete und außerdem bei seinem Tode das wertvollste Stück aus seiner Bibliothek einforderte.2 Dankenswerterweise stellte uns Herr Ohlmann für die Dauer des Kurses einige Bände aus dem Bestand der Bibliothek als Leihgabe zur Verfügung.

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Ein Stundenbuch aus der Stadtbibliothek Nürnberg
(Hert. Ms. 3, http://www.manuscripta-mediaevalia.de/hs/katalogseiten/HSK0177_b131_JPG.htm)
Foto: Jan Odstrčilik

Sowohl in Nürnberg als auch in München hatten wir zudem die Gelegenheit, einen Blick in die dortigen Restaurierungswerkstätten zu werfen und uns mit den Restauratorinnen zu unterhalten. Fasziniert befühlten wir die unterschiedlichen Pergament- und Lederarten und übten uns im Erkennen der jeweiligen Tierart. Man ließ uns am Fischleim schnuppern und die der Eisengallustinte als Grundlage dienenden Galläpfel befühlen. Gruseln konnten wir uns beim Anblick von Bänden mit Insektenbefall oder Wasserschäden; einen fast größeren Schrecken erweckten jedoch die berüchtigten Restaurierungsopfer der 70er Jahre – mittelalterliche Codices mit Kunstledereinband und säurehaltigem Papiervorsatz! Alles in allem kam der Aspekt der Restaurierung und Bestandserhaltung während des Kurses allerdings etwas zu kurz, die meisten von uns wären hier gern noch tiefer eingetaucht.

Zu den regulären Modulen und Exkursionen kamen außerdem Workshops und Vorträge externer Referenten hinzu: Höhepunkt war hier sicher der Besuch des insbesondere durch seine Blog- und Twitteraktivitäten bekannten Paläographen Dr. Erik Kwakkel (@erik_kwakkel) aus Leiden, der uns passenderweise am gefühlt heißesten Tag des Jahres mit Kissing, Biting and the Treatment of Feet (einer Kommilitonin verdanken wir zudem die Entdeckung des spooning) in den Schriften des 12. Jahrhunderts vertraut machte und am Abend zudem über Books in the Medieval Classroom referierte. Dr. Andrea Fleischer von der UB Heidelberg brachte uns im Rahmen des Franken-Seminars die Handschriftenbestände aus dem Kloster Heilsbronn näher, bei Prof. Dr. Andrea Stieldorf aus Bamberg besuchten wir ein Halbtagesseminar zur Funktion mittelalterlicher Chartulare, und schließlich präsentierte man uns als Beispiel einer erfolgreichen SCRIPTO-Absolventin Dr. Anette Creutzburg aus Florenz. Sie hielt einen Vortrag über die Ikonographie Birgittas von Schweden und berichtete insbesondere auch von ihrer Arbeit am Sehnsuchtsort Kunsthistorisches Institut in Florenz sowie dem unter ihrer Leitung durchgeführten Umbau der dortigen Institutsbibliothek – eine Karriere, die uns vor Neid erblassen ließ!

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Handschriftenlesesaal der Stadtbibliothek Nürnberg
Foto: Jan Odstrčilik

Ergänzt wurde das Angebot zudem durch eine den Kurs begleitende und an dessen ursprünglichem Zweck, der Befähigung zur Handschriftenkatalogisierung, ausgerichtete Praxisaufgabe: Die Beschreibung einer Handschrift aus der Neustädter Pfarrbibliothek. Bewaffnet mit den entsprechenden Richtlinien machten wir uns in Gruppen ans Werk, um jeweils einen Codex bzw. ein Fragment zu autopsieren – eine ideale Möglichkeit, um die bisher im Kurs erworbenen Kenntnisse anzuwenden, die Richtlinien auf ihre Praxistauglichkeit zu testen sowie die teils ungeahnten, mit der Handschriftenbeschreibung verbundenen Schwierigkeiten am eigenen Leib zu erfahren und im besten Falle auch zu überwinden. Lediglich eine Auswertung der Ergebnisse enthält man uns nun, gut zwei Monate nach Kursende leider noch immer vor.

Nachdem ich mit großem Hunger auf grundwissenschaftliches Input und die Arbeit mit Originalen nach Erlangen gekommen war, hat mich der Kurs einerseits vorerst gesättigt – gesättigt, was die rein grundwissenschaftliche Arbeit, die Beschäftigung mit Paläographie und Philologie zum Selbstzweck betrifft –, mir andererseits aber auch weiteren Appetit gemacht: Appetit auf das für ein Semester vernachlässigte historische Arbeiten, auf Quelleninterpretation und Forschungsdebatten. Appetit aber auch auf weiteren Haut- (oder wenigstens Handschuh-)kontakt mit mittelalterlichen Originalquellen – auf Archivarbeit. Und hierbei werden mir die im Kurs gewonnenen Kenntnisse sicherlich hilfreich sein.

1 Zu nennen sind u.a. die Sommerschule der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften „Die historischen Grundwissenschaften in der mediävistischen Praxis“ (vgl. auch die Ankündigung der Veranstaltung hier auf dem Blog, die in diesem Jahr paläographisch-editorisch ausgerichtete Sommerakademie des Mediävistenverbandes „Distanzen überwinden – Briefkommunikation und Briefdokumentation im Mittelalter“, der dritte Alfried Krupp-Sommerkurs für Handschriftenkultur „Handschriftenkultur des Mittelalters für Fortgeschrittene“ sowie die Münchner Sommerakademie Grundwissenschaften 2013 „Schriftkunde des Mittelalters“.

2 Siehe für nähere Informationen Kirchenbibliothek Neustadt (Aisch), in: Handbuch der historischen Buchbestände in Deutschland, Österreich und Europa – http://fabian.sub.uni-goettingen.de/?Kirchenbibliothek_(Neustadt/Aisc) – letzter Aufruf am 05.09.2013.

Anmerkung zu den Bildern: Da es nicht in allen Bibliotheken gleichermaßen erwünscht war zu fotografieren und uns diese Möglichkeit in der Stadtbibliothek Nürnberg besonders großzügig eingeräumt wurde, stammt ein Großteil der hier veröffentlichten Bilder aus diesem Kontext und steht somit lediglich exemplarisch für die den gesamten Kurs durchziehende Arbeit mit Handschriften.

Quelle: http://mittelalter.hypotheses.org/2042

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