Video über die Sammlung Frauennachlässe an der Uni Wien

Tagebücher: In Geschichte eingeschrieben. Die Sammlung Frauennachlässe an der Universität Wien from Sammlung Frauennachlässe on Vimeo.

Markus Hintermayer und Christian Steiner vom Zentralen Informatikdienst der Uni Wien haben ein zwanzigminütiges Video über die Sammlung Frauennachlässe an der Universität Wien erstellt, also sehet hin und informieret Euch!

Das Tagebuch einer pensionierten Sozialarbeiterin aus den 1990er-Jahren wird ebenso vorgestellt wie das eines Zuckerbäckers aus dem 19. Jahrhundert oder einer Wienerin, die die Zeit des Zweiten Weltkrieges in einer damals so genannten "nicht privilegierten Mischehe" (über)lebte.
Anhand dieser - und noch weiterer - Tagebuchbestände werden die Arbeit der Sammlung Frauennachlässe besprochen. Grundsätzliche Fragen der Genre-Diskussionen von auto/biographischen Quellen werden thematisiert und Projekte aus der Forschung und universitären Lehre präsentiert.


Mit: Christa Hämmerle, Li Gerhalter, Martin Scheutz und Theresa Adamski

Quelle: http://adresscomptoir.twoday.net/stories/1022394713/

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Blog: Geschichte verwalten. Studienmanagement im Historischen Seminar

http://geschichtsadmin.hypotheses.org Dieser Blog ist für Reflexionen aus der Praxis des Studienmanagements gedacht. Neben Forschung und Lehre ist auch die Administration von Forschung und Lehre inzwischen einem Professionalisierungsschub unterworfen. Das Studienmanagement (Organisation, Koordination und Kommunikation aller Fragen, die mit dem Betrieb und der Weiterentwicklung von Studium und Lehre zu tun haben) hat dabei im Fach Geschichte […]

Quelle: http://www.einsichten-online.de/2015/02/5647/

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Bibliotheksreferendare im DH-Bereich

In Baden-Württemberg sind jetzt Referendarsstellen im Bibliotheksbereich ausgeschrieben, die für Wissenschaftler mit DH-Hintergrund von Interesse sein könnten. Nach freundlicher Information von Frau Dr. Hiller von Gaertringen (Karlsruhe) sucht Freiburg einen Philologen mit Schwerpunkt Digital Humanities, Karlsruhe einen Historiker mit Schwerpunkt Digital Humanities und Tübingen einen Computerlinguisten.
Nähere Infos finden Sie unter:
http://www.wlb-stuttgart.de/die-wlb/ausbildung/einstellung-von-bibliotheksreferendaren-innen-fuer-den-hoeheren-dienst-an-wissenschaftlichen-bibliotheken-in-baden-wuerttemberg/

Quelle: http://dhd-blog.org/?p=4672

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Eine Brücke zwischen Journal und Blog: Interview mit Marko Demantowsky über „Public History Weekly“ #wbhyp

PHWMareike König (MK): Public History Weekly (PHW) ist ein Blogjournal zu den Themen Geschichte und Geschichtsdidaktik, das seit etwa eineinhalb Jahren auf den Verlagsseiten von Oldenbourg/De Gruyter im Open Access angeboten wird. Was genau ist ein Blogjournal, oder anderes: Was ist das „Bloghafte“ an Public History Weekly, was entspricht eher einem Journal?

Mario Demantowsky (MD): Wir sind ein internationales und multilinguales Journal, das den öffentlichen Umgang mit Geschichte thematisiert, unsere BeiträgerInnen sind HistorikerInnen mit dem Schwerpunkt Geschichtsdidaktik und Geschichtskultur. Anfang September 2013 sind wir gestartet, seitdem haben wir 63 Ausgaben produziert mit jeweils 1 bis 2 sogenannten Initialbeiträgen. Auf diese Initialbeiträge haben bisher 190 in der Regel sehr ausführliche und fundierte Kommentare geantwortet.

In der Tat ist das Format ein neuartiger Hybrid, eher Wochenzeitschrift als Weblog. Die Ausgangsfrage lautete: Wie sollte eine Zeitschrift in unserem Fach heute beschaffen sein, damit sie möglichst viele potentiell Interessierte erreicht? Viele Features, die man vom Bloggen kennt, schienen uns für eine solche neuartige Zeitschrift außerordentlich hilfreich. Auch der Spirit des Bloggens, das unfertige, sich angreifbar machende Schreiben schien uns sehr hilfreich, um Interessierte zu erreichen.

Aber es gibt natürlich wesentliche Unterschiede zu einem Weblog, vor allem in Hinsicht Periodizität und Formatstandards. Die LeserInnen können sich auf Folgendes verlassen:

-          Die Beiträge erscheinen absolut regelmäßig zu einer festen Zeit, ja zu einer festen Minute: donnerstags, 8 Uhr MEZ.
-          Sie haben ein festes Format und erfüllen alle Ansprüche an wissenschaftliches Publizieren.
-          Die Kommentare werden redaktionell betreut. Bei PHW erscheint nichts, was nicht durch eine formale und inhaltliche Qualitätskontrolle gegangen ist.
-          Auch die Kommentare erscheinen zu festgelegten Zeiten.
-          Es ist möglich, ganz frei zu kommentieren. Wir bitten allerdings bei den meisten Beiträgen, auch 1-2 ExpertInnen um eine Stellungnahme (Peer Comment).

Aber auch von Fachzeitschriften unterscheidet uns natürlich vieles:

-          Unsere thematischen Beiträge beginnen mit einem "Initialbeitrag", der möglichst "anstößig" geschrieben, nicht für sich stehen soll, sondern auf direkte Diskussion abzielt. Die nach allen Regeln der Kunst erfolgende Erschließung in wissenschaftlichen Datenbanken bezieht sich dann auf die gesamte Texteinheit, die Initialbeiträge, Kommentare und AutorIn-Replik einschließt. Diese multiperspektivischen, kontroversen Texteinheiten sind m.E. eine ganze neue wissenschaftliche Textgattung. Damit das so sein kann, muss der Thread nach der Replik auch abgeschlossen werden. Soziales digitales Publizieren muss kein endlos mäanderndes Geschehen sein, zitierfähig wird das Ganze erst durch den Abschluss (siehe dazu auch Groebners Kritiken am digitalen Publizieren).

-          Wir arbeiten mit festen Stammautoren, die sich mindestens für 2 Jahre verpflichten. Auch diese Eigenart hat ganz pragmatische Gründe: Ein zuverlässiger wöchentlicher Erscheinungsturnus braucht im Hintergrund für Redaktion und Autoren absolut verlässliche Strukturen. Dank unserer Stammautorenriege können wir Redaktionspläne mit einem Vorlauf von 12 Monaten erarbeiten. Darüber hinaus stellt das Schreiben bei uns an unserer AutorInnen ganz neue Anforderungen, die einen formatspezifischen Professionalisierungsprozess nach sich ziehen, dem dient eine intensive Betreuung der AutorInnen durch die Redaktion ebenso wie nicht zuletzt unsere jährlichen Editorial Meetings in Basel. Dazu stossen immer wieder GastautorInnen als Überraschungsgäste.

Schließlich: Wir sind kein klassisches Verlagsprodukt und sind auch nicht auf Verlagsseiten verankert, sondern wir sind ein Kooperationsprojekt der Pädagogischen Hochschule Nordwestschweiz mit dem De Gruyter Oldenbourg Verlag. Deshalb ist der Website auch neutral, seine technische Basis wird allerdings vom Verlag bereitgestellt und gewartet. Auch das macht unseren neuartigen Hybridcharakter aus. Wir lösen uns aus der müßigen Konfrontation von "alten" Wissenschaftsverlagen contra neuer Publikationskultur. Es ist De Gruyter Oldenbourg und dort v.a. Martin Rethmeier außerordentlich hoch anzurechnen, dass er sich auf dieses (teure) Experiment eingelassen hat.

MK: Der Untertitel von PHW lautet „Blogjournal for History and Civil Education“. Welche Themen werden in den wöchentlichen Ausgaben aufgegriffen? Wie kommen Sie auf Ihre Autorinnen und Autoren?

MD: Der Untertitel auf der Website ist renovierungsbedürftig. Bei Twitter und Facebook firmieren wir als BlogJournal for Public Use of History and History & Civics Education. Der explizit geschichtsdidaktische Bezug erscheint uns sinnvoll, weil der Einbezug des schulischen Geschehens in die kritische Geschichtskulturdebatte nach unserem Dafürhalten für beide Seiten wichtig und – zumindest in der angelsächsischen Community – neu ist. Geschichtsunterricht ist ein sublimer Ausdruck vorherrschender historischer Basisnarrative und bedarf der kritischen geschichtskulturellen Einordnung. Gleichermaßen wird man die Rezipienten musealer oder massenmedialer Angebote nicht erklären können, wenn man den Geschichtsunterricht als historische Sozialisationsinstanz außer Acht lässt. Wir wollen bei PHW die beiden Diskurse also zusammenführen.

Die thematische Wahl der einzelnen Beiträge bleibt den StammautorInnen völlig überlassen. Die jährlichen Meetings und ihre Diskussionen helfen natürlich, ein sinnvolles thematisches Spektrum näher zu bestimmen, aber für die Zuverlässigkeit der Texteinreichung bleibt die pure, wissenschaftsbetriebsferne Lust entscheidend, mit der sich AutorInnen auf uns einzulassen vermögen.

Wir haben uns in einem ersten Schritt bewusst bemüht, jüngere, namhafte und gleichwohl nicht-netzaffine ProfessorInnen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz anzusprechen und sind dabei auf ein großes Wohlwollen gestoßen, wofür ich auch nach zwei Jahren noch dankbar bin. In einem zweiten Schritt haben wir 2013 die Riege unserer StammautorInnen multilingual erweitert. Das Ziel bestand darin, führende VertreterInnen aus den separierten Diskursen zur Public History aus Argentinien, Australien, Kanada, Mexiko, Russland, Südafrika, USA und der Türkei zu gewinnen. Auch das hat sehr gut funktioniert. Im Herbst 2015 wird es bei PHW einen weiteren Globalisierungsschub geben.

MK: Ein kurzer Blick auf die Statistik, wenn es erlaubt ist: Wie hoch sind die Zugriffe auf das wöchentlich erscheinende Blogjournal? Welche Themen laufen besonders gut, sowohl vom Zugriff als auch von den Kommentaren her?

MD: Ich habe auf diese Frage vor Monaten freimütiger geantwortet als heute. Das liegt daran, dass ich den uns zugänglichen Zählmethoden nicht mehr ganz traue. Es gibt den eigenen WordPress-Zähler, es gibt das WordPress Add-on Google Analytics Summary, und es gibt das Google Analytics Tool selbst. Jeweils differente Zahlen. Hält man sich an letzteres, was mir am zuverlässigsten scheint, sollte man bedenken, dass alle User mit Cookie-Blocker nicht erfasst werden. Das dürften gerade in unserer netzaffinen Leserschaft nicht wenige sein. Insofern sind die Zahlen mit Vorsicht zu behandeln, solche Angaben sind grundsätzlich ja auch schwer nachzuprüfen ... Google Analytics bietet allerdings eine Reihe interessanter Features, die Tendenzen erkennen lassen. Mit einigen konservativen Berechnungen sind wir im vorigen Jahr  auf mindestens 4000 StammleserInnen gekommen (ca. 32.000 unique clients). Im vergangenen September haben wir auf multilingualen Betrieb umgestellt, seitdem wächst die Leserschaft, und sie wird naturgemäß internationaler.

In der Tat gibt es große Zugriffsdifferenzen zwischen den einzelnen Beiträgen. Das ist jeweils kein inhaltliches Gut/Schlecht-Kriterium, Aufsehen erregen die Besonderheiten. Inzwischen haben sich aber doch echte PHW-Stars mit stabil großem Erfolg herausgebildet, wie Prof. Dr. Markus Bernhardt, der für 2013/14 von unserem Advisory Board denn auch ausgezeichnet worden ist. Es laufen aber bei allen AutorInnen die Themen gut, die einen wirklichen Informationsgewinn versprechen, die eine These verfechten und die auch gerne Angriffsfläche bieten. Unsere Artikel sind im wahrsten Sinne anstößig, wenn sie funktionieren. Ein letzter Punkt: In den ersten Monaten hat sich das Interesse immer sehr fokussiert einzelnen Beiträgen zugewandt, inzwischen bemerken wir eine breite Diversifizierung des Interesses. Dafür ist zum einen die gestiegene Zahl der Beiträge verantwortlich (inzwischen 79). Aber vor allem auch im Nachhinein eingebaute Features wie das Issues- und das Contents-Menü, die die Vielfalt und die Vielzahl unserer Artikel wie ein klassisches Inhaltsverzeichnis dauerhaft präsent halten. Wir sind von daher nicht mehr nur eine Art von Wochenzeitschrift, sondern zunehmend auch ein Ideen- und Anregungspool.

MK: Die Beiträge des Blogjournals können kommentiert werden. Jedoch nicht beliebig: die Kommentare werden redaktionell betreut, laut Guidelines sollen sie „eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Initialbeitrag"[1] darstellen, teilweise werden Kommentare auch eingeworben, und sie werden nur zu Office-Zeiten freigeschalten. Nach einigen Wochen wird der Kommentar-Threat geschlossen. Warum diese Beschränkungen?

MD: Einiges habe ich oben schon beantwortet. Hier möchte ich nur auf einen weiteren wichtigen Aspekt eingehen: Social Media hat außerhalb der "Social-Media-Bubble" einen schlechten Ruf. Dieser speist sich einerseits natürlich aus einer gewissen grundsätzlichen kulturkonservativen Distanz gegenüber dem "Neuland". (Früher musste man bei diesem Begriff übrigens auf Scholochow verweisen, heute auf Merkel. Wer Merkels Neuland-Begriff aber verstehen will, sollte die DDR-Schulpflichtlektüre "Neuland unterm Pflug" einmal nachholen. Ich schweife ab.) Andererseits stehen dahinter natürlich auch mehr oder minder substantielle Erfahrungen mit wirklichen Fehlentwicklungen in der Social-Media-Kommunikation, vor allem der Trollerei. Unsere Hauptarbeit besteht also darin, diese Widerstände zu verflüssigen, jenseits der Probleme die wissenschaftlichen Potentiale deutlich zu machen. Wir sehen uns da tatsächlich als Brückenbauer. Also haben wir ein Tool konstruiert, dass die Vorteile der Social Media für Wissenschaftskommunikation ausschöpft und gleichzeitig die Risiken zu minimieren versucht. Das erreichen wir durch eine kleine Retardierung der Echtzeitigkeit und durch vorsichtige und sehr liberale Moderation.

MK: Welche Erfahrungen haben Sie mit dem Kommentieren gemacht? Wie schwierig ist es, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zum Kommentieren zu bringen?

MD: Sehr schwierig, oft. Zur Begründung siehe vorige Antwort. Allerdings ist schon zu sagen, dass im Sinne des Formats gute, also anstößige Beiträge nicht lange auf Kommentare zu warten brauchen. Uns liegt aber auch schon sehr daran, zusätzlich ExpertInnen-Stimmen in die Diskussionen einzuladen, die von sich aus wegen der hinlänglich bekannten strapazierten Zeitbudgets vielleicht nicht kommentieren würden. Manch prominente Stimme will auch grundsätzlich eingeladen werden. Das zu den "Peer Comments".

Dazu kommt, das gilt aber ebenso für die Initialbeiträge: Viele KollegInnen sind es gar nicht gewöhnt, für eine echte Öffentlichkeit zu schreiben, so wie wir sie fachspezifisch sicher erreichen. Man wacht aus dem Schreiben von länglichen Sammelbandbeiträgen auf und soll für uns kommentieren, am besten von einem Tag auf den anderen. So schnell, so öffentlich und widersprechbar, da werden bei manchen offenbar doch Gefühle der Beklemmung geweckt. Das kann zurzeit sicher gar nicht anders sein, aber es markiert auch die große kulturelle Herausforderung, vor der sich die hochspezialisierte Wissenschaft, heute im digitalen Wandel mehr als je zuvor, plötzlich wieder sieht. Die berufliche Dimension "public intellectual" haben viele KollegInnen gar nicht mehr auf dem Zettel.

MK: Haben Sie Tipps und Hinweise für Bloggende, die mehr Kommentare einwerben möchten? Was ist zu beachten? Oder werden Kommentare überschätzt?

MD: Nein, Kommentare werden nicht überschätzt, sondern sind das Elixier des digitalen und sozialen Publizierens.

Das Grundproblem, angesehene WissenschaftlerInnen zum Kommentieren zu bringen, ist ein ökonomisches: Das Zeitbudget ist so extrem verknappt, der Arbeitsstau so hoch, dass man – wenn schon nicht nach dem finanziellen – dann nach dem Kriterium des Reputationsgewinns Aufgaben sortieren und aussortieren muss. Wir haben durch die Zusammenarbeit mit einem angesehenen Verlag, durch die Auswahl der StammautorInnen und des Advisory Boards, durch die Investition in Datenbankerschließung und in das Layout versucht, das Reputationsproblem zu lösen. Das war und ist für uns eine große Herausforderung, vor allem in der Perspektive einer nachhaltigen Etablierung von Reputationszuweisung! Ich denke, wir sind auf einem guten Weg.

MK: Kann eine Mischform zwischen Blog und Journal, wie es „Public History Weekly“ darstellt, dem Bloggen zu mehr wissenschaftlicher Akzeptanz verhelfen?

MD: Ja, das hoffe ich. Allgemeiner besteht die Hoffnung darin, das mehr und mehr KollegInnen über die Brücke von PHW sich der Kommunikation in den sozialen Medien annehmen, verstehen, welches Potential diese Formate bereitstellen und wie wichtig es ist, dass ihre Stimmen auch dort gehört werden und zur Geltung kommen.

MK: Bloggen Sie selbst? Wenn ja, worüber?

MD: Ich setze mich als geschäftsführender Herausgeber von PHW auch der Beurteilung und der Diskussion um eigene Initialbeiträge aus. Das führt manchmal in einen double bind, aber es macht mir auch Spaß. Neben meiner aufreibenden Tätigkeit in Basel, meinen "normalen" wissenschaftlichen Verpflichtungen und der Redaktionsarbeit bei PHW komme ich leider nicht zu einem eigenen Weblog (meine Professur pflegt allerdings einen). In einer idealen Welt hätte ich dafür Zeit, irgendwann hoffentlich ist es möglich. Ich verstehe und schätze das Prinzip des Wissenschaftsbloggens und bin ein wirklich großer Bewunderer der bloggenden KollegInnen, die ich jetzt nicht einzeln nennen möchte, die aber wissen, dass ich sie meine.

MK: Wie geht es weiter mit dem Blogjournal? Welche Pläne haben Sie für die Zukunft? Wird die Waage eher in Richtung Journal oder eher in Richtung Blog ausschlagen?

MD: Wir kultivieren erst einmal unseren Hybridcharakter. Ich glaube, nur so können wir unsere Brückenfunktion wahrnehmen. Bis 2016 läuft der Kooperationsvertrag, ist unsere Finanzierung gesichert. Meine Hochschule investiert einen erheblichen Betrag in die Redaktionsarbeit, der Verlag in die technische Basis und das Marketing. Wie es ab 2016 weitergeht, wissen wir im Moment noch nicht. Insbesondere unsere neuartige Multilingualität sorgt für Kosten, die wir ursprünglich nicht budgetiert hatten. Wir starten dazu in diesem Frühjahr ein Crowdfunding, und es wäre für das Projekt insgesamt von größter Bedeutung, dass sich möglichst viele unserer LeserInnen bereit finden könnten, etwas dazu beizutragen.

MK: Vielen Dank für das Interview!

____

Das Interview versteht sich als Beitrag zur Blogparade "Wissenschaftsbloggen - zurück in die Zukunft #wbhyp". Marko Demantowsky hat die Fragen schriftlich beantwortet.

 

  1. Siehe Guidelines von Public History Weekly, http://public-history-weekly.oldenbourg-verlag.de/contribute/.

Quelle: http://dhdhi.hypotheses.org/2358

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Eine Brücke zwischen Journal und Blog: Interview mit Marko Demantowsky über „Public History Weekly“ #wbhyp

PHWMareike König (MK): Public History Weekly (PHW) ist ein Blogjournal zu den Themen Geschichte und Geschichtsdidaktik, das seit etwa eineinhalb Jahren auf den Verlagsseiten von Oldenbourg/De Gruyter im Open Access angeboten wird. Was genau ist ein Blogjournal, oder anderes: Was ist das „Bloghafte“ an Public History Weekly, was entspricht eher einem Journal?

Mario Demantowsky (MD): Wir sind ein internationales und multilinguales Journal, das den öffentlichen Umgang mit Geschichte thematisiert, unsere BeiträgerInnen sind HistorikerInnen mit dem Schwerpunkt Geschichtsdidaktik und Geschichtskultur. Anfang September 2013 sind wir gestartet, seitdem haben wir 63 Ausgaben produziert mit jeweils 1 bis 2 sogenannten Initialbeiträgen. Auf diese Initialbeiträge haben bisher 190 in der Regel sehr ausführliche und fundierte Kommentare geantwortet.

In der Tat ist das Format ein neuartiger Hybrid, eher Wochenzeitschrift als Weblog. Die Ausgangsfrage lautete: Wie sollte eine Zeitschrift in unserem Fach heute beschaffen sein, damit sie möglichst viele potentiell Interessierte erreicht? Viele Features, die man vom Bloggen kennt, schienen uns für eine solche neuartige Zeitschrift außerordentlich hilfreich. Auch der Spirit des Bloggens, das unfertige, sich angreifbar machende Schreiben schien uns sehr hilfreich, um Interessierte zu erreichen.

Aber es gibt natürlich wesentliche Unterschiede zu einem Weblog, vor allem in Hinsicht Periodizität und Formatstandards. Die LeserInnen können sich auf Folgendes verlassen:

-          Die Beiträge erscheinen absolut regelmäßig zu einer festen Zeit, ja zu einer festen Minute: donnerstags, 8 Uhr MEZ.
-          Sie haben ein festes Format und erfüllen alle Ansprüche an wissenschaftliches Publizieren.
-          Die Kommentare werden redaktionell betreut. Bei PHW erscheint nichts, was nicht durch eine formale und inhaltliche Qualitätskontrolle gegangen ist.
-          Auch die Kommentare erscheinen zu festgelegten Zeiten.
-          Es ist möglich, ganz frei zu kommentieren. Wir bitten allerdings bei den meisten Beiträgen, auch 1-2 ExpertInnen um eine Stellungnahme (Peer Comment).

Aber auch von Fachzeitschriften unterscheidet uns natürlich vieles:

-          Unsere thematischen Beiträge beginnen mit einem "Initialbeitrag", der möglichst "anstößig" geschrieben, nicht für sich stehen soll, sondern auf direkte Diskussion abzielt. Die nach allen Regeln der Kunst erfolgende Erschließung in wissenschaftlichen Datenbanken bezieht sich dann auf die gesamte Texteinheit, die Initialbeiträge, Kommentare und AutorIn-Replik einschließt. Diese multiperspektivischen, kontroversen Texteinheiten sind m.E. eine ganze neue wissenschaftliche Textgattung. Damit das so sein kann, muss der Thread nach der Replik auch abgeschlossen werden. Soziales digitales Publizieren muss kein endlos mäanderndes Geschehen sein, zitierfähig wird das Ganze erst durch den Abschluss (siehe dazu auch Groebners Kritiken am digitalen Publizieren).

-          Wir arbeiten mit festen Stammautoren, die sich mindestens für 2 Jahre verpflichten. Auch diese Eigenart hat ganz pragmatische Gründe: Ein zuverlässiger wöchentlicher Erscheinungsturnus braucht im Hintergrund für Redaktion und Autoren absolut verlässliche Strukturen. Dank unserer Stammautorenriege können wir Redaktionspläne mit einem Vorlauf von 12 Monaten erarbeiten. Darüber hinaus stellt das Schreiben bei uns an unserer AutorInnen ganz neue Anforderungen, die einen formatspezifischen Professionalisierungsprozess nach sich ziehen, dem dient eine intensive Betreuung der AutorInnen durch die Redaktion ebenso wie nicht zuletzt unsere jährlichen Editorial Meetings in Basel. Dazu stossen immer wieder GastautorInnen als Überraschungsgäste.

Schließlich: Wir sind kein klassisches Verlagsprodukt und sind auch nicht auf Verlagsseiten verankert, sondern wir sind ein Kooperationsprojekt der Pädagogischen Hochschule Nordwestschweiz mit dem De Gruyter Oldenbourg Verlag. Deshalb ist der Website auch neutral, seine technische Basis wird allerdings vom Verlag bereitgestellt und gewartet. Auch das macht unseren neuartigen Hybridcharakter aus. Wir lösen uns aus der müßigen Konfrontation von "alten" Wissenschaftsverlagen contra neuer Publikationskultur. Es ist De Gruyter Oldenbourg und dort v.a. Martin Rethmeier außerordentlich hoch anzurechnen, dass er sich auf dieses (teure) Experiment eingelassen hat.

MK: Der Untertitel von PHW lautet „Blogjournal for History and Civil Education“. Welche Themen werden in den wöchentlichen Ausgaben aufgegriffen? Wie kommen Sie auf Ihre Autorinnen und Autoren?

MD: Der Untertitel auf der Website ist renovierungsbedürftig. Bei Twitter und Facebook firmieren wir als BlogJournal for Public Use of History and History & Civics Education. Der explizit geschichtsdidaktische Bezug erscheint uns sinnvoll, weil der Einbezug des schulischen Geschehens in die kritische Geschichtskulturdebatte nach unserem Dafürhalten für beide Seiten wichtig und – zumindest in der angelsächsischen Community – neu ist. Geschichtsunterricht ist ein sublimer Ausdruck vorherrschender historischer Basisnarrative und bedarf der kritischen geschichtskulturellen Einordnung. Gleichermaßen wird man die Rezipienten musealer oder massenmedialer Angebote nicht erklären können, wenn man den Geschichtsunterricht als historische Sozialisationsinstanz außer Acht lässt. Wir wollen bei PHW die beiden Diskurse also zusammenführen.

Die thematische Wahl der einzelnen Beiträge bleibt den StammautorInnen völlig überlassen. Die jährlichen Meetings und ihre Diskussionen helfen natürlich, ein sinnvolles thematisches Spektrum näher zu bestimmen, aber für die Zuverlässigkeit der Texteinreichung bleibt die pure, wissenschaftsbetriebsferne Lust entscheidend, mit der sich AutorInnen auf uns einzulassen vermögen.

Wir haben uns in einem ersten Schritt bewusst bemüht, jüngere, namhafte und gleichwohl nicht-netzaffine ProfessorInnen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz anzusprechen und sind dabei auf ein großes Wohlwollen gestoßen, wofür ich auch nach zwei Jahren noch dankbar bin. In einem zweiten Schritt haben wir 2013 die Riege unserer StammautorInnen multilingual erweitert. Das Ziel bestand darin, führende VertreterInnen aus den separierten Diskursen zur Public History aus Argentinien, Australien, Kanada, Mexiko, Russland, Südafrika, USA und der Türkei zu gewinnen. Auch das hat sehr gut funktioniert. Im Herbst 2015 wird es bei PHW einen weiteren Globalisierungsschub geben.

MK: Ein kurzer Blick auf die Statistik, wenn es erlaubt ist: Wie hoch sind die Zugriffe auf das wöchentlich erscheinende Blogjournal? Welche Themen laufen besonders gut, sowohl vom Zugriff als auch von den Kommentaren her?

MD: Ich habe auf diese Frage vor Monaten freimütiger geantwortet als heute. Das liegt daran, dass ich den uns zugänglichen Zählmethoden nicht mehr ganz traue. Es gibt den eigenen WordPress-Zähler, es gibt das WordPress Add-on Google Analytics Summary, und es gibt das Google Analytics Tool selbst. Jeweils differente Zahlen. Hält man sich an letzteres, was mir am zuverlässigsten scheint, sollte man bedenken, dass alle User mit Cookie-Blocker nicht erfasst werden. Das dürften gerade in unserer netzaffinen Leserschaft nicht wenige sein. Insofern sind die Zahlen mit Vorsicht zu behandeln, solche Angaben sind grundsätzlich ja auch schwer nachzuprüfen ... Google Analytics bietet allerdings eine Reihe interessanter Features, die Tendenzen erkennen lassen. Mit einigen konservativen Berechnungen sind wir im vorigen Jahr  auf mindestens 4000 StammleserInnen gekommen (ca. 32.000 unique clients). Im vergangenen September haben wir auf multilingualen Betrieb umgestellt, seitdem wächst die Leserschaft, und sie wird naturgemäß internationaler.

In der Tat gibt es große Zugriffsdifferenzen zwischen den einzelnen Beiträgen. Das ist jeweils kein inhaltliches Gut/Schlecht-Kriterium, Aufsehen erregen die Besonderheiten. Inzwischen haben sich aber doch echte PHW-Stars mit stabil großem Erfolg herausgebildet, wie Prof. Dr. Markus Bernhardt, der für 2013/14 von unserem Advisory Board denn auch ausgezeichnet worden ist. Es laufen aber bei allen AutorInnen die Themen gut, die einen wirklichen Informationsgewinn versprechen, die eine These verfechten und die auch gerne Angriffsfläche bieten. Unsere Artikel sind im wahrsten Sinne anstößig, wenn sie funktionieren. Ein letzter Punkt: In den ersten Monaten hat sich das Interesse immer sehr fokussiert einzelnen Beiträgen zugewandt, inzwischen bemerken wir eine breite Diversifizierung des Interesses. Dafür ist zum einen die gestiegene Zahl der Beiträge verantwortlich (inzwischen 79). Aber vor allem auch im Nachhinein eingebaute Features wie das Issues- und das Contents-Menü, die die Vielfalt und die Vielzahl unserer Artikel wie ein klassisches Inhaltsverzeichnis dauerhaft präsent halten. Wir sind von daher nicht mehr nur eine Art von Wochenzeitschrift, sondern zunehmend auch ein Ideen- und Anregungspool.

MK: Die Beiträge des Blogjournals können kommentiert werden. Jedoch nicht beliebig: die Kommentare werden redaktionell betreut, laut Guidelines sollen sie „eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Initialbeitrag"[1] darstellen, teilweise werden Kommentare auch eingeworben, und sie werden nur zu Office-Zeiten freigeschalten. Nach einigen Wochen wird der Kommentar-Threat geschlossen. Warum diese Beschränkungen?

MD: Einiges habe ich oben schon beantwortet. Hier möchte ich nur auf einen weiteren wichtigen Aspekt eingehen: Social Media hat außerhalb der "Social-Media-Bubble" einen schlechten Ruf. Dieser speist sich einerseits natürlich aus einer gewissen grundsätzlichen kulturkonservativen Distanz gegenüber dem "Neuland". (Früher musste man bei diesem Begriff übrigens auf Scholochow verweisen, heute auf Merkel. Wer Merkels Neuland-Begriff aber verstehen will, sollte die DDR-Schulpflichtlektüre "Neuland unterm Pflug" einmal nachholen. Ich schweife ab.) Andererseits stehen dahinter natürlich auch mehr oder minder substantielle Erfahrungen mit wirklichen Fehlentwicklungen in der Social-Media-Kommunikation, vor allem der Trollerei. Unsere Hauptarbeit besteht also darin, diese Widerstände zu verflüssigen, jenseits der Probleme die wissenschaftlichen Potentiale deutlich zu machen. Wir sehen uns da tatsächlich als Brückenbauer. Also haben wir ein Tool konstruiert, dass die Vorteile der Social Media für Wissenschaftskommunikation ausschöpft und gleichzeitig die Risiken zu minimieren versucht. Das erreichen wir durch eine kleine Retardierung der Echtzeitigkeit und durch vorsichtige und sehr liberale Moderation.

MK: Welche Erfahrungen haben Sie mit dem Kommentieren gemacht? Wie schwierig ist es, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zum Kommentieren zu bringen?

MD: Sehr schwierig, oft. Zur Begründung siehe vorige Antwort. Allerdings ist schon zu sagen, dass im Sinne des Formats gute, also anstößige Beiträge nicht lange auf Kommentare zu warten brauchen. Uns liegt aber auch schon sehr daran, zusätzlich ExpertInnen-Stimmen in die Diskussionen einzuladen, die von sich aus wegen der hinlänglich bekannten strapazierten Zeitbudgets vielleicht nicht kommentieren würden. Manch prominente Stimme will auch grundsätzlich eingeladen werden. Das zu den "Peer Comments".

Dazu kommt, das gilt aber ebenso für die Initialbeiträge: Viele KollegInnen sind es gar nicht gewöhnt, für eine echte Öffentlichkeit zu schreiben, so wie wir sie fachspezifisch sicher erreichen. Man wacht aus dem Schreiben von länglichen Sammelbandbeiträgen auf und soll für uns kommentieren, am besten von einem Tag auf den anderen. So schnell, so öffentlich und widersprechbar, da werden bei manchen offenbar doch Gefühle der Beklemmung geweckt. Das kann zurzeit sicher gar nicht anders sein, aber es markiert auch die große kulturelle Herausforderung, vor der sich die hochspezialisierte Wissenschaft, heute im digitalen Wandel mehr als je zuvor, plötzlich wieder sieht. Die berufliche Dimension "public intellectual" haben viele KollegInnen gar nicht mehr auf dem Zettel.

MK: Haben Sie Tipps und Hinweise für Bloggende, die mehr Kommentare einwerben möchten? Was ist zu beachten? Oder werden Kommentare überschätzt?

MD: Nein, Kommentare werden nicht überschätzt, sondern sind das Elixier des digitalen und sozialen Publizierens.

Das Grundproblem, angesehene WissenschaftlerInnen zum Kommentieren zu bringen, ist ein ökonomisches: Das Zeitbudget ist so extrem verknappt, der Arbeitsstau so hoch, dass man – wenn schon nicht nach dem finanziellen – dann nach dem Kriterium des Reputationsgewinns Aufgaben sortieren und aussortieren muss. Wir haben durch die Zusammenarbeit mit einem angesehenen Verlag, durch die Auswahl der StammautorInnen und des Advisory Boards, durch die Investition in Datenbankerschließung und in das Layout versucht, das Reputationsproblem zu lösen. Das war und ist für uns eine große Herausforderung, vor allem in der Perspektive einer nachhaltigen Etablierung von Reputationszuweisung! Ich denke, wir sind auf einem guten Weg.

MK: Kann eine Mischform zwischen Blog und Journal, wie es „Public History Weekly“ darstellt, dem Bloggen zu mehr wissenschaftlicher Akzeptanz verhelfen?

MD: Ja, das hoffe ich. Allgemeiner besteht die Hoffnung darin, das mehr und mehr KollegInnen über die Brücke von PHW sich der Kommunikation in den sozialen Medien annehmen, verstehen, welches Potential diese Formate bereitstellen und wie wichtig es ist, dass ihre Stimmen auch dort gehört werden und zur Geltung kommen.

MK: Bloggen Sie selbst? Wenn ja, worüber?

MD: Ich setze mich als geschäftsführender Herausgeber von PHW auch der Beurteilung und der Diskussion um eigene Initialbeiträge aus. Das führt manchmal in einen double bind, aber es macht mir auch Spaß. Neben meiner aufreibenden Tätigkeit in Basel, meinen "normalen" wissenschaftlichen Verpflichtungen und der Redaktionsarbeit bei PHW komme ich leider nicht zu einem eigenen Weblog (meine Professur pflegt allerdings einen). In einer idealen Welt hätte ich dafür Zeit, irgendwann hoffentlich ist es möglich. Ich verstehe und schätze das Prinzip des Wissenschaftsbloggens und bin ein wirklich großer Bewunderer der bloggenden KollegInnen, die ich jetzt nicht einzeln nennen möchte, die aber wissen, dass ich sie meine.

MK: Wie geht es weiter mit dem Blogjournal? Welche Pläne haben Sie für die Zukunft? Wird die Waage eher in Richtung Journal oder eher in Richtung Blog ausschlagen?

MD: Wir kultivieren erst einmal unseren Hybridcharakter. Ich glaube, nur so können wir unsere Brückenfunktion wahrnehmen. Bis 2016 läuft der Kooperationsvertrag, ist unsere Finanzierung gesichert. Meine Hochschule investiert einen erheblichen Betrag in die Redaktionsarbeit, der Verlag in die technische Basis und das Marketing. Wie es ab 2016 weitergeht, wissen wir im Moment noch nicht. Insbesondere unsere neuartige Multilingualität sorgt für Kosten, die wir ursprünglich nicht budgetiert hatten. Wir starten dazu in diesem Frühjahr ein Crowdfunding, und es wäre für das Projekt insgesamt von größter Bedeutung, dass sich möglichst viele unserer LeserInnen bereit finden könnten, etwas dazu beizutragen.

MK: Vielen Dank für das Interview!

____

Das Interview versteht sich als Beitrag zur Blogparade "Wissenschaftsbloggen - zurück in die Zukunft #wbhyp". Marko Demantowsky hat die Fragen schriftlich beantwortet.

 

  1. Siehe Guidelines von Public History Weekly, http://public-history-weekly.oldenbourg-verlag.de/contribute/.

Quelle: http://dhdhi.hypotheses.org/2358

Weiterlesen

Eine Brücke zwischen Journal und Blog: Interview mit Marko Demantowsky über „Public History Weekly“ #wbhyp

PHWMareike König (MK): Public History Weekly (PHW) ist ein Blogjournal zu den Themen Geschichte und Geschichtsdidaktik, das seit etwa eineinhalb Jahren auf den Verlagsseiten von Oldenbourg/De Gruyter im Open Access angeboten wird. Was genau ist ein Blogjournal, oder anderes: Was ist das „Bloghafte“ an Public History Weekly, was entspricht eher einem Journal?

Mario Demantowsky (MD): Wir sind ein internationales und multilinguales Journal, das den öffentlichen Umgang mit Geschichte thematisiert, unsere BeiträgerInnen sind HistorikerInnen mit dem Schwerpunkt Geschichtsdidaktik und Geschichtskultur. Anfang September 2013 sind wir gestartet, seitdem haben wir 63 Ausgaben produziert mit jeweils 1 bis 2 sogenannten Initialbeiträgen. Auf diese Initialbeiträge haben bisher 190 in der Regel sehr ausführliche und fundierte Kommentare geantwortet.

In der Tat ist das Format ein neuartiger Hybrid, eher Wochenzeitschrift als Weblog. Die Ausgangsfrage lautete: Wie sollte eine Zeitschrift in unserem Fach heute beschaffen sein, damit sie möglichst viele potentiell Interessierte erreicht? Viele Features, die man vom Bloggen kennt, schienen uns für eine solche neuartige Zeitschrift außerordentlich hilfreich. Auch der Spirit des Bloggens, das unfertige, sich angreifbar machende Schreiben schien uns sehr hilfreich, um Interessierte zu erreichen.

Aber es gibt natürlich wesentliche Unterschiede zu einem Weblog, vor allem in Hinsicht Periodizität und Formatstandards. Die LeserInnen können sich auf Folgendes verlassen:

-          Die Beiträge erscheinen absolut regelmäßig zu einer festen Zeit, ja zu einer festen Minute: donnerstags, 8 Uhr MEZ.
-          Sie haben ein festes Format und erfüllen alle Ansprüche an wissenschaftliches Publizieren.
-          Die Kommentare werden redaktionell betreut. Bei PHW erscheint nichts, was nicht durch eine formale und inhaltliche Qualitätskontrolle gegangen ist.
-          Auch die Kommentare erscheinen zu festgelegten Zeiten.
-          Es ist möglich, ganz frei zu kommentieren. Wir bitten allerdings bei den meisten Beiträgen, auch 1-2 ExpertInnen um eine Stellungnahme (Peer Comment).

Aber auch von Fachzeitschriften unterscheidet uns natürlich vieles:

-          Unsere thematischen Beiträge beginnen mit einem "Initialbeitrag", der möglichst "anstößig" geschrieben, nicht für sich stehen soll, sondern auf direkte Diskussion abzielt. Die nach allen Regeln der Kunst erfolgende Erschließung in wissenschaftlichen Datenbanken bezieht sich dann auf die gesamte Texteinheit, die Initialbeiträge, Kommentare und AutorIn-Replik einschließt. Diese multiperspektivischen, kontroversen Texteinheiten sind m.E. eine ganze neue wissenschaftliche Textgattung. Damit das so sein kann, muss der Thread nach der Replik auch abgeschlossen werden. Soziales digitales Publizieren muss kein endlos mäanderndes Geschehen sein, zitierfähig wird das Ganze erst durch den Abschluss (siehe dazu auch Groebners Kritiken am digitalen Publizieren).

-          Wir arbeiten mit festen Stammautoren, die sich mindestens für 2 Jahre verpflichten. Auch diese Eigenart hat ganz pragmatische Gründe: Ein zuverlässiger wöchentlicher Erscheinungsturnus braucht im Hintergrund für Redaktion und Autoren absolut verlässliche Strukturen. Dank unserer Stammautorenriege können wir Redaktionspläne mit einem Vorlauf von 12 Monaten erarbeiten. Darüber hinaus stellt das Schreiben bei uns an unserer AutorInnen ganz neue Anforderungen, die einen formatspezifischen Professionalisierungsprozess nach sich ziehen, dem dient eine intensive Betreuung der AutorInnen durch die Redaktion ebenso wie nicht zuletzt unsere jährlichen Editorial Meetings in Basel. Dazu stossen immer wieder GastautorInnen als Überraschungsgäste.

Schließlich: Wir sind kein klassisches Verlagsprodukt und sind auch nicht auf Verlagsseiten verankert, sondern wir sind ein Kooperationsprojekt der Pädagogischen Hochschule Nordwestschweiz mit dem De Gruyter Oldenbourg Verlag. Deshalb ist der Website auch neutral, seine technische Basis wird allerdings vom Verlag bereitgestellt und gewartet. Auch das macht unseren neuartigen Hybridcharakter aus. Wir lösen uns aus der müßigen Konfrontation von "alten" Wissenschaftsverlagen contra neuer Publikationskultur. Es ist De Gruyter Oldenbourg und dort v.a. Martin Rethmeier außerordentlich hoch anzurechnen, dass er sich auf dieses (teure) Experiment eingelassen hat.

MK: Der Untertitel von PHW lautet „Blogjournal for History and Civil Education“. Welche Themen werden in den wöchentlichen Ausgaben aufgegriffen? Wie kommen Sie auf Ihre Autorinnen und Autoren?

MD: Der Untertitel auf der Website ist renovierungsbedürftig. Bei Twitter und Facebook firmieren wir als BlogJournal for Public Use of History and History & Civics Education. Der explizit geschichtsdidaktische Bezug erscheint uns sinnvoll, weil der Einbezug des schulischen Geschehens in die kritische Geschichtskulturdebatte nach unserem Dafürhalten für beide Seiten wichtig und – zumindest in der angelsächsischen Community – neu ist. Geschichtsunterricht ist ein sublimer Ausdruck vorherrschender historischer Basisnarrative und bedarf der kritischen geschichtskulturellen Einordnung. Gleichermaßen wird man die Rezipienten musealer oder massenmedialer Angebote nicht erklären können, wenn man den Geschichtsunterricht als historische Sozialisationsinstanz außer Acht lässt. Wir wollen bei PHW die beiden Diskurse also zusammenführen.

Die thematische Wahl der einzelnen Beiträge bleibt den StammautorInnen völlig überlassen. Die jährlichen Meetings und ihre Diskussionen helfen natürlich, ein sinnvolles thematisches Spektrum näher zu bestimmen, aber für die Zuverlässigkeit der Texteinreichung bleibt die pure, wissenschaftsbetriebsferne Lust entscheidend, mit der sich AutorInnen auf uns einzulassen vermögen.

Wir haben uns in einem ersten Schritt bewusst bemüht, jüngere, namhafte und gleichwohl nicht-netzaffine ProfessorInnen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz anzusprechen und sind dabei auf ein großes Wohlwollen gestoßen, wofür ich auch nach zwei Jahren noch dankbar bin. In einem zweiten Schritt haben wir 2013 die Riege unserer StammautorInnen multilingual erweitert. Das Ziel bestand darin, führende VertreterInnen aus den separierten Diskursen zur Public History aus Argentinien, Australien, Kanada, Mexiko, Russland, Südafrika, USA und der Türkei zu gewinnen. Auch das hat sehr gut funktioniert. Im Herbst 2015 wird es bei PHW einen weiteren Globalisierungsschub geben.

MK: Ein kurzer Blick auf die Statistik, wenn es erlaubt ist: Wie hoch sind die Zugriffe auf das wöchentlich erscheinende Blogjournal? Welche Themen laufen besonders gut, sowohl vom Zugriff als auch von den Kommentaren her?

MD: Ich habe auf diese Frage vor Monaten freimütiger geantwortet als heute. Das liegt daran, dass ich den uns zugänglichen Zählmethoden nicht mehr ganz traue. Es gibt den eigenen WordPress-Zähler, es gibt das WordPress Add-on Google Analytics Summary, und es gibt das Google Analytics Tool selbst. Jeweils differente Zahlen. Hält man sich an letzteres, was mir am zuverlässigsten scheint, sollte man bedenken, dass alle User mit Cookie-Blocker nicht erfasst werden. Das dürften gerade in unserer netzaffinen Leserschaft nicht wenige sein. Insofern sind die Zahlen mit Vorsicht zu behandeln, solche Angaben sind grundsätzlich ja auch schwer nachzuprüfen ... Google Analytics bietet allerdings eine Reihe interessanter Features, die Tendenzen erkennen lassen. Mit einigen konservativen Berechnungen sind wir im vorigen Jahr  auf mindestens 4000 StammleserInnen gekommen (ca. 32.000 unique clients). Im vergangenen September haben wir auf multilingualen Betrieb umgestellt, seitdem wächst die Leserschaft, und sie wird naturgemäß internationaler.

In der Tat gibt es große Zugriffsdifferenzen zwischen den einzelnen Beiträgen. Das ist jeweils kein inhaltliches Gut/Schlecht-Kriterium, Aufsehen erregen die Besonderheiten. Inzwischen haben sich aber doch echte PHW-Stars mit stabil großem Erfolg herausgebildet, wie Prof. Dr. Markus Bernhardt, der für 2013/14 von unserem Advisory Board denn auch ausgezeichnet worden ist. Es laufen aber bei allen AutorInnen die Themen gut, die einen wirklichen Informationsgewinn versprechen, die eine These verfechten und die auch gerne Angriffsfläche bieten. Unsere Artikel sind im wahrsten Sinne anstößig, wenn sie funktionieren. Ein letzter Punkt: In den ersten Monaten hat sich das Interesse immer sehr fokussiert einzelnen Beiträgen zugewandt, inzwischen bemerken wir eine breite Diversifizierung des Interesses. Dafür ist zum einen die gestiegene Zahl der Beiträge verantwortlich (inzwischen 79). Aber vor allem auch im Nachhinein eingebaute Features wie das Issues- und das Contents-Menü, die die Vielfalt und die Vielzahl unserer Artikel wie ein klassisches Inhaltsverzeichnis dauerhaft präsent halten. Wir sind von daher nicht mehr nur eine Art von Wochenzeitschrift, sondern zunehmend auch ein Ideen- und Anregungspool.

MK: Die Beiträge des Blogjournals können kommentiert werden. Jedoch nicht beliebig: die Kommentare werden redaktionell betreut, laut Guidelines sollen sie „eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Initialbeitrag"[1] darstellen, teilweise werden Kommentare auch eingeworben, und sie werden nur zu Office-Zeiten freigeschalten. Nach einigen Wochen wird der Kommentar-Threat geschlossen. Warum diese Beschränkungen?

MD: Einiges habe ich oben schon beantwortet. Hier möchte ich nur auf einen weiteren wichtigen Aspekt eingehen: Social Media hat außerhalb der "Social-Media-Bubble" einen schlechten Ruf. Dieser speist sich einerseits natürlich aus einer gewissen grundsätzlichen kulturkonservativen Distanz gegenüber dem "Neuland". (Früher musste man bei diesem Begriff übrigens auf Scholochow verweisen, heute auf Merkel. Wer Merkels Neuland-Begriff aber verstehen will, sollte die DDR-Schulpflichtlektüre "Neuland unterm Pflug" einmal nachholen. Ich schweife ab.) Andererseits stehen dahinter natürlich auch mehr oder minder substantielle Erfahrungen mit wirklichen Fehlentwicklungen in der Social-Media-Kommunikation, vor allem der Trollerei. Unsere Hauptarbeit besteht also darin, diese Widerstände zu verflüssigen, jenseits der Probleme die wissenschaftlichen Potentiale deutlich zu machen. Wir sehen uns da tatsächlich als Brückenbauer. Also haben wir ein Tool konstruiert, dass die Vorteile der Social Media für Wissenschaftskommunikation ausschöpft und gleichzeitig die Risiken zu minimieren versucht. Das erreichen wir durch eine kleine Retardierung der Echtzeitigkeit und durch vorsichtige und sehr liberale Moderation.

MK: Welche Erfahrungen haben Sie mit dem Kommentieren gemacht? Wie schwierig ist es, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zum Kommentieren zu bringen?

MD: Sehr schwierig, oft. Zur Begründung siehe vorige Antwort. Allerdings ist schon zu sagen, dass im Sinne des Formats gute, also anstößige Beiträge nicht lange auf Kommentare zu warten brauchen. Uns liegt aber auch schon sehr daran, zusätzlich ExpertInnen-Stimmen in die Diskussionen einzuladen, die von sich aus wegen der hinlänglich bekannten strapazierten Zeitbudgets vielleicht nicht kommentieren würden. Manch prominente Stimme will auch grundsätzlich eingeladen werden. Das zu den "Peer Comments".

Dazu kommt, das gilt aber ebenso für die Initialbeiträge: Viele KollegInnen sind es gar nicht gewöhnt, für eine echte Öffentlichkeit zu schreiben, so wie wir sie fachspezifisch sicher erreichen. Man wacht aus dem Schreiben von länglichen Sammelbandbeiträgen auf und soll für uns kommentieren, am besten von einem Tag auf den anderen. So schnell, so öffentlich und widersprechbar, da werden bei manchen offenbar doch Gefühle der Beklemmung geweckt. Das kann zurzeit sicher gar nicht anders sein, aber es markiert auch die große kulturelle Herausforderung, vor der sich die hochspezialisierte Wissenschaft, heute im digitalen Wandel mehr als je zuvor, plötzlich wieder sieht. Die berufliche Dimension "public intellectual" haben viele KollegInnen gar nicht mehr auf dem Zettel.

MK: Haben Sie Tipps und Hinweise für Bloggende, die mehr Kommentare einwerben möchten? Was ist zu beachten? Oder werden Kommentare überschätzt?

MD: Nein, Kommentare werden nicht überschätzt, sondern sind das Elixier des digitalen und sozialen Publizierens.

Das Grundproblem, angesehene WissenschaftlerInnen zum Kommentieren zu bringen, ist ein ökonomisches: Das Zeitbudget ist so extrem verknappt, der Arbeitsstau so hoch, dass man – wenn schon nicht nach dem finanziellen – dann nach dem Kriterium des Reputationsgewinns Aufgaben sortieren und aussortieren muss. Wir haben durch die Zusammenarbeit mit einem angesehenen Verlag, durch die Auswahl der StammautorInnen und des Advisory Boards, durch die Investition in Datenbankerschließung und in das Layout versucht, das Reputationsproblem zu lösen. Das war und ist für uns eine große Herausforderung, vor allem in der Perspektive einer nachhaltigen Etablierung von Reputationszuweisung! Ich denke, wir sind auf einem guten Weg.

MK: Kann eine Mischform zwischen Blog und Journal, wie es „Public History Weekly“ darstellt, dem Bloggen zu mehr wissenschaftlicher Akzeptanz verhelfen?

MD: Ja, das hoffe ich. Allgemeiner besteht die Hoffnung darin, das mehr und mehr KollegInnen über die Brücke von PHW sich der Kommunikation in den sozialen Medien annehmen, verstehen, welches Potential diese Formate bereitstellen und wie wichtig es ist, dass ihre Stimmen auch dort gehört werden und zur Geltung kommen.

MK: Bloggen Sie selbst? Wenn ja, worüber?

MD: Ich setze mich als geschäftsführender Herausgeber von PHW auch der Beurteilung und der Diskussion um eigene Initialbeiträge aus. Das führt manchmal in einen double bind, aber es macht mir auch Spaß. Neben meiner aufreibenden Tätigkeit in Basel, meinen "normalen" wissenschaftlichen Verpflichtungen und der Redaktionsarbeit bei PHW komme ich leider nicht zu einem eigenen Weblog (meine Professur pflegt allerdings einen). In einer idealen Welt hätte ich dafür Zeit, irgendwann hoffentlich ist es möglich. Ich verstehe und schätze das Prinzip des Wissenschaftsbloggens und bin ein wirklich großer Bewunderer der bloggenden KollegInnen, die ich jetzt nicht einzeln nennen möchte, die aber wissen, dass ich sie meine.

MK: Wie geht es weiter mit dem Blogjournal? Welche Pläne haben Sie für die Zukunft? Wird die Waage eher in Richtung Journal oder eher in Richtung Blog ausschlagen?

MD: Wir kultivieren erst einmal unseren Hybridcharakter. Ich glaube, nur so können wir unsere Brückenfunktion wahrnehmen. Bis 2016 läuft der Kooperationsvertrag, ist unsere Finanzierung gesichert. Meine Hochschule investiert einen erheblichen Betrag in die Redaktionsarbeit, der Verlag in die technische Basis und das Marketing. Wie es ab 2016 weitergeht, wissen wir im Moment noch nicht. Insbesondere unsere neuartige Multilingualität sorgt für Kosten, die wir ursprünglich nicht budgetiert hatten. Wir starten dazu in diesem Frühjahr ein Crowdfunding, und es wäre für das Projekt insgesamt von größter Bedeutung, dass sich möglichst viele unserer LeserInnen bereit finden könnten, etwas dazu beizutragen.

MK: Vielen Dank für das Interview!

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Das Interview versteht sich als Beitrag zur Blogparade "Wissenschaftsbloggen - zurück in die Zukunft #wbhyp". Marko Demantowsky hat die Fragen schriftlich beantwortet.

 

  1. Siehe Guidelines von Public History Weekly, http://public-history-weekly.oldenbourg-verlag.de/contribute/.

Quelle: http://dhdhi.hypotheses.org/2358

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Eine kurze Geschichte der Kinderbetreuung

Barack Obama und seine Partei der Democrats haben ein neues Thema auf die Tagesordnung gesetzt: erste Priorität für die Betreuung und vorschulische Bildung von Kindern. Zumindest in Sonntagsreden ist dieses Thema auch hierzulande seit mehreren Jahren ein Dauertopos. Nur, woher kommt das eigentlich? Warum müssen Kinder inzwischen ganztags betreut werden? Reichen die Familien nicht mehr aus, handelt es sich hier um ein weiteres Ausgreifen eines wildgewordenen Wohlfahrtsstaats, der in die Familien hineinregiert?

Nein. Den Staat musste man hier eher zum Jagen tragen. Der gewaltige Bedarf an vorkindlicher Betreuung und Bildung, der zweifellos existiert, kommt durch die Eltern. Es gibt ihn aber noch nicht wirklich lange. Woher also kommt das? Die Antwort darauf finden wir bei einem kurzen Blick in die Geschichte, der vielleicht auch hilft, einen Kontext für die aktuellen Diskussionen herzustellen.

Die Idee, dass Kinder besondere Bedürfnisse haben und daher besondere Fürsorge benötigen - also nicht einfach nur "kleine Erwachsene " oder "unfertig" sind - ist noch nicht sehr alt und hat erst im 19. Jahrhundert begonnen, sich langsam durchzusetzen. Angesichts der sozialen Missstände jener Zeit - Stichwort Kinderarbeit - war die Frage vorkindlicher Betreuung ein reines Elitenproblem. Alle anderen mussten die Kinder so früh wie möglich für den Broterwerb einspannen und überließen sie vorher sich selbst, beziehungsweise häufig der Fürsorge einer Amme oder einer ähnlichen Einrichtung.

Tatsächlich ist überraschend, wie groß der Anteil der Eltern, die ihre kleinen Kinder in fremde Pflege gaben, früher tatsächlich war. Im Paris der Zeit vor der Französischen Revolution etwa waren über 90% der Kinder unter drei Jahren in Pflege, und zwar rund um die Uhr. Die Eltern gaben die Kinder häufig  direkt nach der Geburt weg und holten sie erst mit zwei bis vier Jahren wieder zu sich - mit oftmals traumatischen Folgen für die Kinder, die dabei ihre Bezugspersonen komplett verloren. Von den üblichen pädagogischen Maßnahmen jener Tage überhaupt nicht zu reden, die größtenteils aus Schlägen bestanden, oder von der Verfütterung von hochprozentigem Alkohol als Beruhigungsmittel selbst für Säuglinge.

Es dauerte bis ins 20. Jahrhundert hinein ehe sich die Idee durchgesetzt hatte, dass die Kindheit eine schützenswerte Phase im Leben der Kinder sei. Zu diesem Zeitpunkt war allerdings etwas bemerkenswertes geschehen: der Kapitalismus, seiner übelsten Auswüchse durch progressive Gesetzgebung beraubt, hatte sich zu einer Wundermaschine für die Wohlstandsentwicklung entpuppt. Der Lebensstil des Bürgertums, früher nur einer schmalen Schicht vorbehalten, wurde nun von allen Schichten imitiert. Wir sehen dies in einem gewaltigen Rückgang der Frauenerwerbsquoten zugunsten des Ein-Ernährer-Modells selbst in den Arbeiterschichten.

Genau diese Entwicklung aber - die ökonomische Basis für das Ein-Ernährer-Modell - schaffte eine permanent verfügbare Bezugsperson, die sich zu 100% Haushalt und Kindeserziehung widmen konnte: die Ehefrau. Durch den größten Teil des 20. Jahrhunderts hindurch ermöglichte es dieser historische Ausnahmezustand, sowohl die Rechte der Kinder zu schützen und gewaltige Fortschritte in Fürsorge und Pädagogik zu machen, was zu den wohl gesündesten, gebildetsten und glücklichsten Kindergenerationen in der Geschichte der Menschheit führte. Doch durch die Entwicklung seit den 1980er Jahren, gerne landläufig unter "Neoliberalismus" zusammengefasst, wurde die ökonomische Basis dieser Arbeitsteilung in Frage gestellt - flankiert von einem ideologischen Angriff auf das Rollenmodell der Hausfrau durch die beginnende Frauenbewegung, die darin zu Recht ein Unterdrückungsmodell erkannte.

Wenn jedoch sowohl Männer als auch Frauen dem freiheitsspendenden Vollerwerb nachgehen, so wiederholt sich das Dilemma des 19. Jahrhunderts auf materiell überlegendem Niveau: wer versorgt die Kinder, wenn man diese nicht frühzeitig in das System des Broterwerbs einbinden will (was heutzutage auch keine praktische Alternative mehr darstellt, selbst wenn man alle ethischen Bedenken beiseite lässt)? Da sich gleichzeitig auch die traditionellen Großfamilien aufgelöst haben, stehen die Großeltern nicht mehr als kostenlose Arbeitskräfte zur Verfügung. Angesichts der gewaltigen, von der Bevölkerungsmehrheit nicht zu stemmenden Kosten professioneller Betreuung bleibt als einzige Alternative daher der Staat übrig.

Das direkte Resultat ist ein rasch steigender Bedarf an Kinderbetreuungseinrichtungen, der auch in Zukunft kaum abebben dürfte. Er resultiert zwingend aus den Auflösungen traditioneller Familien- und Erwerbsstrukturen. In der bisherigen Debatte wurden diese Teile immer getrennt gedacht - das heißt, dass von konservativer Seite die Auflösung der Familie, von progressiver Seite häufig (und paradoxerweise) der Abschied vom Ein-Ernährer-Modell beklagt wurde. Beide hängen aber zwingend miteinander zusammen. Das Problem nur auf seine moralische oder nur seine ökonomische Komponente zu reduzieren hilft niemandem, am allerwenigsten den Kindern.

Quelle: http://geschichts-blog.blogspot.com/2015/02/eine-kurze-geschichte-der.html

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Lenin and Marx as symbols of liberation?

Are historical representations and collective memories one and the same thing? Why and how do they coincide or differ? Local and national contexts most definitely play an important role …

English

Are historical representations and collective memories one and the same thing? Why and how do they coincide or differ? Local and national contexts most definitely play an important role in this respect. But it is also important and necessary to examine which social and cultural processes influence citizens in aligning memory and history. Let us consider a recent and very drastic example.

 

 

Communism is still alive

The picture above shows a students’ meeting in Guerrero, Mexico, on November 23, 2014.[1] The students gathered are discussing protest actions in response to the disappearance of 43 fellow students on September 26, 2014.[2] The students who disappeared were most probably abducted for protesting against discrimination and other forms of political violence. This incredible incident has produced the most important political scandal in Mexico in recent years. As can be seen, images of Marx, Engels, and Lenin are among the permanent political symbols at this educational establishment. The image includes the well-known sentence from Marx’s thesis about Feuerbach. It is an image very similar to those found in many places throughout Latin America. Plausibly, the presence of these images indicates that for this particular political movement, and probably for many others in Latin America, Marxist and revolutionary characters are very influential for the interpretation of the past. For a majority of Latin America’s youth, Marxist symbols and characters are no doubt representatives or models of resisting political oppression, economic exploitation, and human rights violations. In this vein, it is important to consider that the Marxist weltanschauung has traditionally drawn on history as a social scientific underpinning of its grand narrative of progress and emancipation, ultimately carried out by the Russian revolution. It is very likely that this grand narrative is being represented on the Mexican mural seen above. However, comparing this image with the numerous images depicting the destruction of Marxist monuments all over the former Soviet Union immediately after the collapse of communism raises several questions. For example, how is it possible that Mexican students consider Lenin and Marx as cultural and political models of liberation whereas both figures represent oppression in other parts of the world?

A new view of Marx

Both viewpoints are based more on collective memories than on historiographic research. As I mentioned, collective memories involve selective forgetting. This may also happen in a historiographic endeavor, but the latter at least aims to systematically avoid forgetfulness. For example, various recent publications [3] have shown how Soviet regimes were characterized by an enormous repression of political adversaries and citizens, close allegiance with the Nazi regime, and produced more than 11 million victims. This is clearly “forgotten” by the Mexican students. But at the same time it can be argued that the massive destruction of Marxist monuments “forgets” the systematic repression of Marxist political leaders and citizens by military regimes in Latin America, often supported by the government of the United States of America.[4] In short, it is clear that collective memories are basically contextual and to some extent reactive. In other words, they appear in the context of a particular inherited social and political past. It is along these lines that these Mexican students vindicate the revolutionary role of Marxist figures because these represent their attempt to gain emancipation and civil rights. Probably the students do not consider Marxist figures as symbols of oppression, because this has not been the case in their local and national experience. On the other hand, citizens from former communist countries see in monuments inspired by Marxism the oppression they experienced for decades in their societies. Historiographic research strives for a broader view of social and political problems and takes into account more than one perspective on the past. Collective memories, however, are contextual and local. The most relevant social, cultural, and political context for citizens is their own current national society.

A nationalist trend in history education?

Interestingly, these two divergent settings—Latin American countries and former communist societies—have something in common: their tendency to ground their history education and curriculum mostly in nationalist contents. In both cases, a nationalist view of the past is taken to be perfectly compatible with a particular position regarding the Marxist-Leninist grand narrative. This nationalist trend in history education has been analyzed in much detail.[5] For example, in Mexico students and teachers took to the streets when the government tried to change the school history curriculum through educational reforms in 1992 and 2000 respectively.[6] These historical contents mainly concerned national figures, such as the Child Heroes who fought against the North American army. These children are popular heroes in Mexico, even though their actual role in the military conflict has not been well documented until now. The Mexican government tried to implement a new history curriculum, in which these and similar figures were not present anymore. The attempt to change the history curriculum, and to make it less nationalist, was perceived by a part of the citizenry as an assault on both their collective memory and their historical knowledge. On the other hand, according to Ahonen,[7] both Estonia and the former German Democratic Republic transformed their history curricula radically after the collapse of the communism in order to base them on nationalist narratives and concepts. This tendency is even stronger now and takes into account the very nationalist and patriotic orientation adopted by Russia in recent years under President Putin.[8] Comparing these examples of collective memories, as framed by certain contexts, reveals the contribution of modern history as a discipline to constructing multi-perspective accounts of the past. On the other hand, particularly as regards the collapse of the Soviet Union,[9] the contribution of collective memory to history writing is very clear. As Le Goff observes, “Popular archives can correct official archives, even though the latter can hide and therefore reveal some truths that have been kept a secret.”[10] Thus, collective memory and historiography combined can counteract the attempts of political, ideological, or economic powers to use, suppress, or manipulate history to suit their own interests.[11]

 

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Literature

  • Carretero M. and van Alphen F. (forthcoming) History, Collective Memories or National Memories? How the representation of the past is framed by master narratives. In B. Wagoner ( Ed.) Oxford Handbook of Culture and Memory. Oxford: Oxford University Press.
  • Carretero, M. (2011). Constructing patriotism. Teaching history and memories in global worlds. Charlotte, NC: Information Age Publishing.
  • Levintova, E. (2010). Past imperfect: The construction of history in the school curriculum and mass media in post-communist Russia and Ukraine. Communist and Post-Communist Studies, 43, 125-127.

External link

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[1] http://internacional.elpais.com/internacional/2014/10/17/actualidad/1413568451_060339.html (last accessed 18.12.2014).
[2] See: http://elpais.com/elpais/2014/11/10/inenglish/1415647325_524994.html. (last accessed 14.01.2015).
[3] Snyder, T. (2012). Bloodlands: Europe Between Hitler and Stalin. New York, NY: Basic Books.
[4] See for example the collective memory of political violence during the 70´s in South America: Jelin, E. (2003). State Repression and the Labors of Memory. Minneapolis, MN: University of Minnesota Press.
[5] Carretero, M., Asensio, M. & Rodriguez-Moneo, M. (Eds.) (2012) History Education and the Construction of National Identities. Charlotte, NC: Information Age Publishing.
[6] Carretero, M. (2011). Constructing patriotism. Teaching history and memories in global worlds. Charlotte, NC: Information Age Publishing, esp. chapter 2.
[7] Ahonen, A. (1997). A transformation of history: The official representations of history in East Germany and Estonia, 1986-1991. Culture and Psychology, 3, 41-62.
[8] Levintova, E. (2010). Past imperfect: The construction of history in the school curriculum and mass media in post-communist Russia and Ukraine. Communist and Post-Communist Studies, 43, 125-127. doi: 10.1016/j.postcomstud.2010.03.005.
[9] Brossat, A., Combe, S., Potel, J., & Szurek, J. (Eds.) (1992). En el este, la memoria recuperada. València: Edicions Alfons el Magnànim. [First published in 1990 as: A l’Est, la memoire retrouvée, Paris: Éditions La Découverte.]
[10] Ibid., p. 16; translated from Spanish.
[11] Le Goff, J. (1992). Prefacio. In A. Brossat, S. Combe, J. Potel, J. Szurek (Eds.), En el este, la memoria recuperada (pp. 11-17). València: Edicions Alfons el Magnànim. [First published in 1990 as: A l’Est, la memoire retrouvée, Paris: Éditions La Découverte.]

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Image Credits
© Saúl Ruiz, 2014. Mexican students of Education in a meeting about civil rights. The mural is quoting Marx: “Until now philosophers have only interpreted the world. What is necessary is to transform it.”.

Recommended Citation
Carretero, Mario: Lenin and Marx as symbols of liberation? In: Public History Weekly 3 (2015) 3, DOI:  dx.doi.org/10.1515/phw-2015-3302.

Copyright (c) 2015 by De Gruyter Oldenbourg and the author, all rights reserved. This work may be copied and redistributed for non-commercial, educational purposes, if permission is granted by the author and usage right holders. For permission please contact: elise.wintz (at) degruyter.com.

 

 

Deutsch

 

Sind historische Repräsentation und kollektive Erinnerung dasselbe? Warum und wie stimmen sie überein oder unterscheiden sie sich? Auf jeden Fall spielt der lokale und nationale Kontext dabei eine wichtige Rolle. Ebenso wichtig und notwendig ist es jedoch zu analysieren, welche sozialen und kulturellen Prozesse die BürgerInnen dabei beeinflussen, ihre Erinnerung und Geschichte miteinander in Einklang zu bringen. Betrachten wir dazu ein aktuelles und sehr drastisches Beispiel.

 

Der Kommunismus lebt!

Die Abbildung oben zeigt das Treffen von Studierenden in ihrer Bildungseinrichtung in Guerrero, Mexiko, am 23. November 2014.[1] Sie diskutieren über Protestaktionen als Reaktion auf das Verschwinden von 43 KommilitonInnen am 26. September 2014.[2] Diese wahrscheinlich gewaltsam entführten StudentInnen hatten gegen Diskriminierung und andere Formen der politischen Gewalt protestiert. Dieser unglaubliche Vorfall wurde zum bedeutendsten politischen Skandal in der jüngeren Geschichte Mexikos. Man kann dem Bild entnehmen, dass die Abbildungen von Marx, Engels und Lenin zu den permanenten politischen Symbolen an dieser Schule gehören. Der bekannte Satz aus Marx‘ Abhandlung über Feuerbach ist ebenfalls auf dem Plakat enthalten. Es ist eine Abbildung, die in ähnlicher Form an vielen Stellen in Lateinamerika gefunden werden kann. Das Vorhandensein dieser Bilder ist ein deutliches Indiz dafür, dass für diese spezielle politische Bewegung, und wahrscheinlich noch viele andere in Lateinamerika, marxistische und revolutionäre Persönlichkeiten sehr einflussreich für die Interpretation der Vergangenheit sind. Für die Mehrheit der lateinamerikanischen Jugend sind marxistische Persönlichkeiten und Symbole zweifellos Repräsentanten oder Vorbilder des Widerstands gegen politische Unterdrückung, wirtschaftliche Ausbeutung und Verletzungen der Menschenrechte. In diesem Sinne ist es wichtig zu berücksichtigen, dass die marxistische Weltanschauung traditionell die Geschichte als sozialwissenschaftliche Untermauerung ihrer historischen Meistererzählung von Fortschritt und Emanzipation heranzieht, der letztlich durch die russische Revolution vollzogen worden sei. Es ist sehr wahrscheinlich, dass sich diese Narration in dem mexikanischen Wandbild der Abbildung darstellt. Wenn wir nun die Porträts in der Abbildung mit den vielen Bildern vergleichen, die die Zerstörung marxistischer Denkmäler in der ehemaligen Sowjetunion unmittelbar nach dem Zusammenbruch des Kommunismus zeigen, dann entstehen sofort Fragen. Zum Beispiel: Wie ist es möglich, dass die mexikanischen StudentInnen Lenin und Marx als politische und kulturelle Vorbilder der Befreiung ansehen und diese Charaktere zur selben Zeit in anderen Teilen der Welt für Unterdrückung stehen?

Ein neuer Blick auf Marx

Beide Sichtweisen stützen sich mehr auf kollektive Erinnerung als auf historiografische Forschung. Wie bereits erwähnt, beinhaltet kollektive Erinnerung auch selektives Vergessen. Etwas, das auch bei einem historiografischen Zugriff passieren kann, doch zielt diese zumindest auf die systematische Vermeidung von Vergesslichkeit ab. Als Beispiel haben jüngere Publikationen gezeigt, wie das Sowjetregime sich durch enorme Unterdrückung politischer GegnerInnen sowie BürgerInnen im Allgemeinen auszeichnete, eine Allianz mit dem NS-Regime eingegangen ist und mehr als 11 Millionen Opfer verschuldete.[3] Dies wurde von den mexikanischen StudentInnen natürlich “vergessen”. Zugleich kann man argumentieren, dass die massive Zerstörung der marxistischen Denkmäler die systematische Unterdrückung von marxistischen politischen Führungspersönlichkeiten und BürgerInnen im Allgemeinen durch Militärregimes in Lateinamerika “vergessen” lässt, die oftmals durch die Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika unterstützt wurden.[4] Kurz gesagt ist es klar, dass kollektive Erinnerungen im Grunde kontextabhängig und in einem gewissen Maße reaktiv sind. Mit anderen Worten erscheinen sie im Kontext einer bestimmten, ererbten gesellschaftlichen und politischen Vergangenheit. In diesem Sinne rechtfertigen die mexikanischen StudentInnen die revolutionäre Rolle der marxistischen Abbildungen, da diese für ihr Bestreben stehen, Emanzipation und Bürgerrechte zu erlangen. Wahrscheinlich nehmen sie marxistische Abbildungen nicht als Symbole der Unterdrückung wahr, weil eine solche marxistisch begründete Unterdrückung in ihren lokalen und nationalen Erfahrungen nicht der Fall gewesen ist. Andererseits sehen BürgerInnen aus ehemals kommunistischen Ländern in marxistisch inspirierten Denkmälern die Unterdrückung, die sie in ihrer jeweiligen Gesellschaft während Jahrzehnten erfahren und durchmachen mussten. Historiografische Forschung versucht, einen umfassenderen Blick auf soziale und politische Probleme zu werfen und dabei mehr als nur eine Perspektive auf die Vergangenheit in Betracht zu ziehen. Kollektive Erinnerungen sind aber kontextabhängig und lokal verortet, und der bedeutsamste soziale, kulturelle und politische Kontext für BürgerInnen ist die eigene gegenwärtige nationale Gesellschaft.

Ein nationalistischer Trend beim historischen Lernen?

Interessant ist dabei, dass die beiden divergierenden Szenarien lateinamerikanischer Länder und früherer kommunistischer Staaten dennoch etwas gemeinsam haben. Wir beziehen uns auf deren Tendenz, den Geschichtsunterricht und die entsprechenden Curricula auf nationalistische Inhalte zu stützen. In beiden Fällen erweist sich eine nationalistische Sichtweise auf die Vergangenheit als komplett kompatibel mit der spezifischen Haltung der marxistisch-leninistischen Meistererzählung. Diese nationalistische Tendenz im Geschichtsunterricht ist bereits sehr ausführlich untersucht worden.[5] So demonstrierten zum Beispiel in Mexiko SchülerInnen und LehrerInnen – und traten in Streik – als die Regierung in den Jahren 1992 und 2000 versuchte, die Inhalte des schulbezogenen historischen Lernens mit einer Bildungsreform zu verändern.[6] Die historischen Inhalte bezogen sich zumeist auf nationale Symbole, wie etwa die Kinderhelden, die gegen die nordamerikanische Armee kämpften. Diese Kinder sind populäre Volkshelden in Mexiko, auch wenn ihre tatsächliche Rolle in diesem Konflikt bislang noch nicht hinreichend gut dokumentiert ist. Die mexikanische Regierung versuchte, im Unterrichtsfach Geschichte einen Lehrplan zu implementieren, in dem diese und ähnliche Symbole nicht mehr vorhanden sind. Der Versuch, den Geschichts-Lehrplan zu ändern und ihn weniger nationalistisch zu gestalten, wurde von Teilen der Bürgerschaft als ein Angriff auf ihre kollektive Erinnerung und ihr geschichtliches Wissen wahrgenommen. Andererseits, so eine Untersuchung von Ahonen,[7] wurden in Estland und in der früheren DDR nach dem Zusammenbruch des Kommunismus die geschichtlichen Inhalte der Lehrpläne radikal verändert, indem sie mehr auf nationalistische Narrative und Konzepte gestützt wurden. Dieser Trend ist gegenwärtig sogar noch stärker, wenn wir die stark nationalistische und patriotische Orientierung berücksichtigen, die sich in Russland in den letzten Jahren unter Präsident Putin etabliert hat.[8] Wenn wir diese Beispiele kollektiver Erinnerung, die von bestimmten Zusammenhängen umrahmt werden, vergleichen, kann der Beitrag der modernen disziplinären Geschichtswissenschaft durch die Konstruktion multiperspektivischer Zugänge deutlich gemacht werden. Andererseits, besonders beim Niedergang der Sowjetunion,[9] wird der Beitrag der kollektiven Erinnerung zur Geschichtsschreibung sehr deutlich. Le Goff formuliert es so: “Menschliche Archive können amtliche Archive korrigieren, selbst wenn letztere in der Lage sind, einige geheim gehaltene Wahrheiten zu verstecken und folglich auch aufzudecken.”[10] Werden kollektive Erinnerung und Geschichtsschreibung also kombiniert, können sie Versuchen der politischen, ideologischen oder wirtschaftlichen Mächte entgegenwirken, Geschichte in ihrem eigenen Interesse zu benutzen, zu unterwerfen oder zu manipulieren.[11]

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Literatur

  • Carretero, Mario  / van Alphen, Floor: History, Collective Memories or National Memories? How the representation of the past is framed by master narratives. In: B. Wagoner ( Hrsg.) Oxford Handbook of Culture and Memory. Oxford (im Erscheinen).
  • Carretero, Mario: Constructing patriotism. Teaching history and memories in global worlds. Charlotte, NC 2011.
  • Levintova, Ekaterina: Past Imperfect. The construction of history in the school curriculum and mass media in post-communist Russia and Ukraine. In: Communist and Post-Communist Studies 43 (2010) 2, S. 125-127.

Externer Link

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[1] http://internacional.elpais.com/internacional/2014/10/17/actualidad/1413568451_060339.html (zuletzt am 18.12.2014).
[2] See: http://elpais.com/elpais/2014/11/10/inenglish/1415647325_524994.html. (zuletzt am 14.01.2015).
[3] Snyder, Timothy: Bloodlands. Europe Between Hitler and Stalin. New York 2012.
[4] Vgl. z.B. die kollektive Erinnerung der politischen Gewalt während der 70’er Jahre in Südamerika: Jelin, Elizabeth: State Repression and the Labors of Memory. Minneapolis, MN 2003.
[5] Carretero, Mario / Asensio, Mikel / Rodriguez-Moneo, María (Hrsg.): History Education and the Construction of National Identities. Charlotte, NC 2012.
[6] Carretero, Mario: Constructing patriotism. Teaching history and memories in global worlds. Charlotte, NC 2011, besonders Kapitel 2.
[7] Ahonen, Sirkka: A transformation of history. The official representations of history in East Germany and Estonia, 1986-1991. In: Culture and Psychology (1997) 3, S. 41-62.
[8] Levintova, Ekaterina: Past Imperfect. The construction of history in the school curriculum and mass media in post-communist Russia and Ukraine. In: Communist and Post-Communist Studies 43 (2010) 2, S. 125-127. doi: 10.1016/j.postcomstud.2010.03.005.
[9] Brossat, Alain u.a. (Hrsg.): En el este, la memoria recuperada. València 1992. [Erstveröffentlichung 1990 unter dem Titel: A l’Est, la memoire retrouvée, Paris: Éditions La Découverte.]
[10] Ebd., S. 16; übersetzt aus dem  Spanischen.
[11] Le Goff, Jacques: Prefacio. In: Brossat, Alain u.a. (Hrsg.), En el este, la memoria recuperada.  València 1992 [Erstveröffentlichung 1990 unter dem Titel: Al’Est, la Memoire retrouvée, Paris: Editions La Découverte.] S. 11-17.

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Abbildungsnachweis
© Saúl Ruiz, 2014. Mexikanische Studenten der Erziehungswissenschaften bei einem Treffen über Bürgerrechte. Die Inschrift des Banners zitiert Marx: “Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt aber darauf an, sie zu verändern.”

Empfohlene Zitierweise
Carretero, Mario: Lenin und Marx als Symbole der Befreiung? In: Public History Weekly 3 (2015) 3, DOI:  dx.doi.org/10.1515/phw-2015-3302.

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„‚Das hat nichts mit dem Islam zu tun.‘ Doch!“ Oder?

„Das hat doch nichts mit dem Islam zu tun“

„Das hat doch nichts mit dem Islam zu tun“

„Das hat nichts mit dem Islam zu tun“ zitierte der Focus vor kurzem auf seinem Titelbild. Das Zitat sollte dabei wohl eher eine allgemeine Grundhaltung ausdrücken, der gleichzeitig mit einem fetten roten „Doch!“ widersprochen wurde. Was soll denn nun eigentlich nichts mit dem Islam zu tun haben, oder eben doch? Das beantwortete der Focus anschaulich mit der Abbildung eines Maschinengewehrs: Die Gewalt natürlich, der Krieg und der Terror.

Es ist eine Debatte im Gange, die deutlich größer ist als der provokative Titel des Focus. Norbert Lammert sagt dazu: „Die gutgemeinte Erklärung, man dürfe den Islam nicht mit dem Islamismus verwechseln, der religiös begründete Terrorismus habe mit dem Islam nichts zu tun, reicht nicht aus – und sie ist auch nicht wahr“. Aber er sagt auch: „… ebenso wenig wie die beschwichtigende Behauptung, die Kreuzzüge hätten nichts mit dem Christentum zu tun und die Inquisition auch nicht und die Hexenverbrennung natürlich auch nicht.“

Das Anliegen, Gewalt und Islam trennen zu wollen, ist erst einmal nachvollziehbar: Wenn Gewalt und Terror mit dem Islam zu tun hätten, wären dann nicht auch die Muslime verdächtig, die sich nicht gewalttätig verhalten? Die Aussage, der Terror habe nichts mit dem Islam zu tun, entspringt damit der gleichen Idee, die Islam und Islamismus unterscheidet: Gegen den Islam an sich hat man nichts, nur der Islamismus als politisierter, gewalttätiger Auswuchs des Islam ist ein Problem.

Die Idee ist nachvollziehbar, aber kann ich als Religionswissenschaftler sie unterschreiben? Wenn ich das nicht kann, ihr sogar widerspreche, befeuere ich damit nicht die Positionen derer, die den Islam für inkompatibel mit der westlichen Demokratie halten? Würde ich das wiederum wollen?

Das Problem liegt dabei in dem – häufig unausgesprochenen – „an sich“. Was ist denn der Islam an sich, der mit Gewalt nichts zu tun hat? Oder der Islam an sich, der mit Demokratie unvereinbar ist? Hinter beiden Gedanken steckt die Idee eines unveränderlichen Wesenskerns der unterschiedlichen Religionen. Leider ist diese Idee auch in der Religionswissenschaft nicht unbekannt, wenn man etwa Max Webers Ausführungen zu den Weltreligionen liest, nach denen der Buddhismus die Religion „weltablehnende[r] Bettelmönche“, der Islam aber die Religion „welterobernder Krieger“ war.1

Wenn der Islam also in seinem Wesen kriegerisch wäre, dann könnte  er nur oberflächlich gegen seine Natur befriedet werden. Wenn er aber seinem Wesen nach friedlich wäre – und auch dafür gibt es ja Stimmen –, dann wäre die Gewalt der Islamisten gegen seine Natur, und damit ein Missbrauch der Religion für politische Zwecke.

Nun ist das mit der Natur einer Religion an sich so eine Sache: Clifford Geertz zum Beispiel hat den Islam in Indonesien und Marokko studiert, und ist zu der Erkenntnis gelangt, dass die Religion zugleich die größte Gemeinsamkeit der beiden Länder ist und ihr größter Unterschied – so verschieden ist der Islam, den er vorgefunden hat.2 Für Geertz ist Religion ein soziales, kulturelles und psychologischen Phänomen.3Den Islam an sich gibt es nicht, es gibt nur das, was Menschen daraus machen. Der Islam ist sowohl gewalttätig als auch friedlich, ebenso wie das Christentum. Das Christentum ist sowohl Jorge Mario Bergoglio als auch Franz-Peter Tebartz-van Elst. Der Hinduismus ist sowohl Lal Krishna Advani als auch Mohandas Karamchand Gandhi.

Aus diesem Grund kann ich als Religionswissenschaftler auch nicht sagen, dass Gewalt nichts mit dem Islam zu tun hat. Mit dem Islam von Saïd und Chérif Kouachi hat sie schon etwas zu tun. Aber ebenso kann Ahmad Mansour feststellen: „Mein Islam ist ein anderer als der Islam der Hassprediger …“4

Als Religionswissenschaftler bringt mich das gelegentlich in eine schwierige Lage. Wenn jemand sagt: „Ich weiß, das hat mit dem Islam nichts zu tun“, dann müsste ich widersprechen. Im besten Falle könnte man zu einer Debatte kommen, welche historischen und sozialen Gründe dazu geführt haben, das in bestimmten Regionen und bestimmten Milieus ein Islam entstanden ist, zu dem Gewalt und Krieg eben doch gehören. Denn es ist ja richtig, dass darüber diskutiert werden muss. Und auch darüber, ob es Traditionen im Islam gibt, die militante Strömungen vielleicht nicht aktiv fördern, aber doch dulden. Im besten Falle würde man darüber ins Gespräch kommen. Aber im schlimmsten Fall bleibt nur der viel einfachere Gedanke zurück, dass die Gewalt eben doch etwas mit dem Islam zu tun hat. Und deshalb schweige ich manchmal.

fe

  1. Weber, Max: „Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Vergleichende religionssoziologische Versuche. Einleitung“, Max Weber Gesamtausgabe, Bd. 19, Tübingen: Mohr Siebeck 1989, S. 83–127, hier S. 86f.
  2. Geertz, Clifford: Islam Observed: Religious Development in Morocco and Indonesia, University of Chicago Press 1971, S. 4.
  3. Ebd., S. viii.
  4. Mansour, Ahmad: „Jetzt mal unter uns“, Der Spiegel 4 (2015), S. 132–135, hier S. 135.

Quelle: http://marginalie.hypotheses.org/101

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