Wilma’s Tutorials: Gruppendiskussion
Wilma’s Tutorials sind die Produkte des Projekts “Let’s Learn – Screencasts zu Studien-, Lern- und Arbeitstechniken von Studierenden für Studierende”. Gruppendiskussion In diesem Tutorial wird die Methode der Gruppendiskussion als Strategie der empirischen Sozialforschung vorgestellt. Thematisiert werden vor allem folgende Punkte: Wofür ist die Methode der Gruppendiskussion sinnvoll? Was sollte bei der Vorbereitung einer Gruppendiskussion beachtet werden? Welche Arbeitsschritte sind im Rahmen der Vorbereitung nötig? Wie ist der Ablauf bei einer Gruppendiskussion? Was kann als Diskussionsimpuls genutzt werden? Wie können die Teilnehmenden gut ins […]
Wenn der Tote falschrum in der Grube liegt
Die Archäologie ist die Wissenschaft der materiellen Hinterlassenschaften des Menschen. Eine dieser Hinterlassenschaften ist der Mensch selbst, nach dem er gestorben ist. Damit ist die Erforschung der Bestattungskultur von zentraler Bedeutung.
Mit dem Durchsetzen des Christentums in der Spätantike und dem frühen Mittelalter veränderte sich auch die Bestattungssitte. Die Leute wurden auf Gräberfeldern und später auf Friedhöfen bei der Pfarrkirche beigesetzt. Die Leichname wurde ausgestreckt auf den Rücken und mit dem Kopf nach Westen in den Sarg bzw. in ein Tuch gehüllt in die Grube gelegt. Das bleibt im Wesentlichen bis in das 19.-20. Jahrhundert so. Natürlich gibt es Entwicklungen in der Bestattungssitte durch die Jahrhunderte und Traditionen, die von Region zu Region differieren. Aber darauf möchte ich gar nicht so genau eingehen. Klarzustellen ist nur: Auf christlichen Friedhöfen werden die Verstorbenen in der Regel mit ausgetrecktem Körper, den Kopf in Richtung Osten zeigend, beigesetzt.
Wenn das nicht so ist, wird das für Archäologen interessant.
Auch im Umfeld der Elisabethkirche in Marburg war ein Friedhof, der vom Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert hinein belegt wurde. Die archäologische Untersuchung von menschlichen Gräbern ist nicht einfach und vor allem zeitaufwendig. Die in der Regel skelettierten Überreste müssen vorsichtig freipräpariert werden. Dann werden die Toten geborgen und, sofern es finanziell möglich ist, anthropologisch untersucht. Im Umfeld der Elisabethkirche wurde im Laufe der Jahrhunderte eigentlich überall um die Kirche herum begraben und diese Gräber entsprechen alle, von Details abgesehen, der oben beschriebenen „Norm“ der christlichen Bestattung: ausgetreckte Rückenlage und der Kopf liegt im Westen. So weit, so unspektakulär.
Vier Gräber weichen davon ab, da liegt der Kopf im Osten und der Blick ist gen Westen gerichtet. Aber warum?
Ab dem 16./17. Jahrhundert gibt es auf Friedhöfen immer wieder unterschiedlich orientierte Gräber, was mit einer wachsenden Individualisierung zusammenhängen kann, aber nicht muss. Was die umgekehrte Orientierung betrifft, gibt es Hinweise, die für einen bestimmten gesellschaftlichen Stand des Verstorbenen sprechen und zwar in katholischen Kreisen.
In einem der weitverbreitetsten katholischen Erbauungsbücher des 17./18. Jahrhunderts Leonard Goffinés Hauspostill bzw. „Christ-Catholische Unterrichtungen von allen Sonn- und Feyr-Tagen des gantzen Jahrs“ ist zu lesen, dass die die Leiche eines Priesters während der Aufbahrung mit den Kopf zum Hochaltar gerichtet in der Kirche liegen soll, also nach Osten. Bei den anderen Verstorbenen sollen die Füße in Richtung Hauptaltar zeigen.
„Die Gläubigen werden gegen Sonnenaufgang begraben, um anzudeuten, dass sie Christo entgegenharren, der der Aufgang auf der Höhe genannt wird und dessen Stimme sie hören werden, wenn er sie zur Auferstehung ruft; die Priester aber gegen Abend, zum Zeichen, dass sie am letzten Gerichtstage der ihnen anvertrauten Seelen gegenübergestellt werden, um Rechenschaft über ihre Pflege und Zeugnis wider oder für sie abzulegen.“
Auch im Rituale Romanum von 1614 ist ähnliches zu lesen. Ein Rituale ist ein liturgisches Buch, das die Beschreibungen aller liturgischen Handlungen enthält, die nicht die Heilige Messe betreffen. Das Rituale Romanum ist das Rituale, welches im Zuge des Konzils von Trient, des Konzils der sogenannten Gegenreformation, zusammengestellt worden ist.
Bereits in der ersten vorbereitenden Zusammenstellung des Rituales Kardinals Julius Antonius Sanctorius, ist die Vorschrift, wie ein verstorbener Priester aufgebahrt und bestattet werden soll, enthalten.
Das Spannende daran ist, dass es diese Vorschrift im Mittelalter nicht zu geben scheint. Auch archäologisch ist diese einigermaßen regelmäßig auftretende Sitte nicht nachgewiesen.
Die Frage ist nur, warum sollen Priester ab dem 16. Jahrhundert anders herum bestattet werden?
Hier liegt die Antwort in der Gegenreformation selbst. Martin Luther lehrte das „Priestertum aller Getauften“, in Rom sah man das bekanntermaßen anders und betonte die hervorgehobene Stellung des Priesters, offenbar auch nachdem dieser gestorben war.
Im Umfeld der Elisabethkirche in Marburg wurden vier Bestattungen freigelegt, bei denen der Kopf nach Osten gerichtet war. Die Skelette waren allerdings so stark beschädigt, dass bei keinem anthropologisch einwandfrei das Geschlecht bestimmt werden konnte. Nur ein Skelett konnte als „tendenziell männlich“ angesprochen werden.
Und da haben wir auch schon eines der Hauptprobleme bei der Untersuchung von Bestattungssitten. In den wenigsten Fällen liegt dem/der Verstorbenen im Grab eine Plakette mit Namen, Geburtsdatum und gesellschaftlichem Rang und Konfessionszugehörigkeit bei. Und so bleibt, die Ansprache der vier Gräber, deren Kopf nach Osten zeigt, als katholische Priestergräber eine gut begründete Hypothese.
Der Blogpost beruht im Wesentlichen auf den Artikel Tilmann Mittelstraß in den Bayrischen Vorgeschichtsblättern:
T. Mittelstraß, Zur Archäologie der christlichen Priesterbestattung, BayVgBl 68, 2003, 137-171
Eine brauchbare einigermaßen aktuelle Zusammenfassung des Forschungsstandes:
Ein Eintrag über einen Eintrag, den es dann doch nicht gibt
Eigentlich könnte dieser Eintrag auch in mein (auto-)ethnografisches1 Forschungstagebuch geschrieben werden. Ich möchte aber diesen Weg wählen, um etwas transparent zu machen.
Bei den aktuellen Analysen, an denen ich für meine Dissertation sitze – gerade sind das Einträge des SozBlogs – kommen mir zunehmend auch Gedanken, die in eine erste, zaghafte Konzeptualisierung eristischen Sprachhandelns führen (die auch über das Streiten im engeren Sinne hinausgehen).2 Gerade habe ich wieder an einer Word-Datei gesessen, von der ich während des Schreibprozesses dachte, sie könne sich als Eintrag für den METABLOCK eignen.
An diesen Gedanken des Schreibens für den METABLOCK knüpften sich zwei Überlegungen, die mit dem promotionsbegleitenden Bloggen zusammenhängen:
1) Die im erwähnten Word-Dokument formulierten konzeptuellen Fragen und Antworten sind recht vorläufiger Natur. Entsprechend rar ist darin die Anbindung an den Forschungsstand. Daran knüpfte sich die Überlegung, inwieweit dies einer expliziten Rahmung im Blog bedarf oder auch nicht; ob ich es darauf ankommen lasse, die Unfertigkeit der Gedanken auch im Hinblick auf Unvollständigkeit des zur Kenntnis genommenen Forschungsstandes zu präsentieren und daraus eine Art Experiment mache, das überprüft, wie auf so ein Noch-nicht-wissenschaftlich-Sein eines Eintrags in einem wissenschaftlichen Weblog reagiert wird. Die andere Variante wäre die explizite Rahmung dieser Unvollständigkeit gewesen und die sich anschließende Frage, ob das gattungsbezogen eigentlich (noch) notwendig ist.
Das ist, wie ich schön öfters gemerkt habe, eine Überlegung, die mein gesamtes wissenschaftliches Bloggen prägt. Vielleicht ist das bei Euch ähnlich ähnlich?
2) Die andere Überlegung ist verbunden mit der Promotionsordnung der Universität Siegen/Fakultät I, die für mich und mein Projekt ja ausschlaggebend ist. Dort ist in §4(3) festgeschrieben, dass max. 25% der Dissertation vor der Einreichung schon veröffentlicht sein dürfen. Ich denke, das ist ein Sachverhalt, der alle promotionsbegleitenden Weblogs betrifft. Daran knüpft sich die Frage, ob Einträge in Weblogs vom Promotionsausschuss als Veröffentlichungen in dem Sinne angesehen werden, dass sie diese Regelung betreffen? Besonders in meinem Fall wäre es geradezu eine Farce, das Argument so zu drehen, dass das für Weblogs nicht in Anschlag genommen werden sollte! Wenn ich nun also im besagten Word-Dokument auf konzeptuelle Pfade gelangt bin, die für meine Diss womöglich einmal besonders relevant werden könnten – so dachte ich mir – wie klug wäre es dann, diese im METABLOCK zu veröffentlichen? Wie haltet Ihr das eigentlich?
Daran knüpft sich die ethnografische Forschungsaufgabe, einmal beim Promotionsausschuss in Erfahrung zu bringen, wie mit dieser 25%-Regel und diesbezüglich mit unterschiedlichen Publikationsformen umgegangen wird!
Vor diesem Hintergrund habe ich mich dann erstmal dafür entschieden, den betreffenden Eintrag hier doch nicht zu veröffentlichen. An seiner Statt ist hiermit ein Eintrag entstanden, der dem Titel des Blogs vollkommen Rechnung trägt…
- Dass der Begriff der Autoethnografie im ethnologischen Sinne für mein Projekt nicht der richtige ist, sondern das, was ich mache, im klassischen Sinne einfach eine teilnehmende Beobachtung ist, wurde letztens durch meine Ethnologen-Kolleg_innen in einer Sitzung unseres Forschungskolloquiums nochmal deutlich.
- Das wiederum legt die Frage nahe, wie adäquat dann der Begriff der Eristik eigentlich noch ist. Aber ich schweife ab.
Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit
… so lautet der Titel eines Bielefelder Forschungsprojekts, das sich seit vielen Jahren mit dem Phänomen der Ideologie der Ungleichwertigkeit beschäftigt (www.uni-bielefeld.de/ikg). Heute morgen habe ich den Artikel “Von der Ungleichwertigkeit zur Ungleichheit: Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit” von Eva Groß/Andreas Zick/Daniela Krause gelesen (Aus Politik und Zeitgeschichte 16-17/2012, 11-18). Sehr zu empfehlen als Hinführung zu einer Langzeituntersuchung, die komparativen Charakter hat und mehrere Staaten in den Blick nimmt.
Menschenfeindlichkeit markiert und legitimiert die Ungleichwertigkeit von Individuen und Gruppen, sodass deren Diskriminierung wahrscheinlicher wird. Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit umfasst Stereotype, Vorurteile und Diskriminierungen gegen Menschen aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu schwachen Gruppen in unserer Gesellschaft.
…
Neben Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und der Abwertung von Menschen, die Asyl suchen oder Sinti und Roma angehören, umfasst das Konzept auch die Abwertung von Menschen mit religiösen Überzeugungen… Einbezogen ist auch die Herabsetzung von Menschen mit anderem Geschlecht oder einer anderen sexuellen Orientierung sowie von Menschen, die arbeitslos oder obdachlos sind. Daneben umfasst das Konzept auch ganz allgemein die Abwertung von allen, die neu hinzugekommen sind, also Etabliertenvorrechte als Prototyp des Vorurteils.
Womit wir also auch bei Migranten wären. Die Frage, die sich mir dazu stellt, lautet: Welchen Einfluss hat der Umstand, dass Migranten von jeher das Statusgefüge der Aufnahmegesellschaft herausgefordert haben und damit quasi automatisch Stereotypen, Vorurteilen und Abwertungen ausgesetzt waren und sind, haben, auf die Erinnerungspraktiken, die im Rahmen der jeweiligen Integrationsprozesse beobachtet werden können? Sind das mithin also “Wiedergutmachungserinnerungen”? Oder spielt da noch mehr mit?
aussichten Nr. 39 [06.02.2014]: Neue Einträge bei aussichten-online.net; Digest 01.11.2013-31.12.2013
Evolution der Informationsinfrastruktur – Kooperation zwischen Bibliothek und Wissenschaft
Zum zehnjährigen Bestehen der Abteilung Forschung und Entwicklung (F&E) der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen ist ein Sammelband mit dem Titel “Evolution der Informationsinfrastruktur – Kooperation zwischen Bibliothek und Wissenschaft” erschienen. Das Werk resümiert entlang ausgewählter Meilensteine die Arbeit im vergangenen Jahrzehnt. Dabei begibt es sich auf die Spuren des Wandels im Leitbild wissenschaftlicher Bibliotheken. Der Sammelband wird herausgegeben von Dr. Heike Neuroth, Prof. Dr. Norbert Lossau und Prof. Dr. Andrea Rapp.
Gemeinsam mit Partnern aus der Wissenschaft wurden zahlreiche, wegweisende Projekte auf dem Gebiet der digitalen Forschung vorangebracht. Dieser Pionierarbeit in der deutschen Bibliothekslandschaft wird in 19 Aufsätzen von über 30 Autorinnen und Autoren nachgegangen.
Das Buch ist beim vwh-Verlag in Kooperation mit dem Universitätsverlag Göttingen erschienen. Sie können die digitale Open Access-Fassung für nicht-kommerzielle Zwecke hier herunterladen: http://dx.doi.org/10.3249/webdoc-39006.
Eine gedruckte Fassung des Buches kann beim vwh-Verlag für 24,90€ bestellt werden.
Eine Dokumentationsseite zur Tagung anlässlich des zehnjährigen Bestehens der Abteilung F&E ist unter diesem Link verfügbar.
ISBN: 978-3-86488-043-8 DOI-URL: http://dx.doi.org/10.3249/webdoc-39006
Quelle: http://dhd-blog.org/?p=3012
Das niederländische CLARIAH startet
Nachdem in Österreich die Verschmelzung von den Projekten zum Aufbau von digitalen Forschungsinfrastrukturen DARIAH (Digital Research Infrastructure for the Arts and Humanities) und CLARIN (Common Language Resources and Technology Infrastructure) bereits vollzogen wurde, geschah dies jetzt auch in den Niederlanden. Unter dem Namen CLARIAH (Common Lab Research Infrastructure for the Arts and Humanities) arbeiten nun beide Projekte zusammen.
Ziel ist es digitale Tools zu Verfügung zu stellen, um innovative Forschung in den Geisteswissenschaften zu ermöglichen. Die CLARIAH-Infrastruktur bietet Forschenden zudem Zugang zu großen digitalen Datensammlungen sowie nutzerfreundlichen Anwendungen um die Daten zu analysieren. Tools wie Daten sollen langfristig nachnutzbar sein – für alle geisteswissenschaftlichen Disziplinen, z.B. Linguistik, Geschichtswissenschaft, Archäologie, Medienwissenschaft, …
Auf der ESFRI (European Strategy Forum on Research Infrastructures) Roadmap sind DARIAH und CLARIN die einzigen Projekte im Bereich der Geisteswissenschaften.
Quelle: http://dhd-blog.org/?p=3004
Karl Lutz: Fotos aus dem 1. Weltkrieg (Auswahl)
Ein kleiner Einblick in die Ergebnisse der Digitalisierung der Fotos von Karl Lutz aus dem 1. Weltkrieg. Die Vorlagen sind leider nicht immer in einem guten Zustand, anders als vielfach im 2. Weltkrieg hat der Fotograf seine Aufnahmen nicht (rückseitig z.B.) datiert oder Orte/Personen genannt. Anzunehmen ist hier als Region in jedem Fall aber das Oberelsaß (Frontgebiet). Fotos: Bestand 192-20 Nr. 4.
Abschied vom Geschichtsbewusstsein?
In der Geschichtsdidaktik gibt es offenbar wieder ein verstärktes Interesse an Fragen der Theorie. Das zeigt nicht nur die Gründung eines neuen Arbeitskreises in der Konferenz für Geschichtsdidaktik, das zeigen vor allem auch die Publikationen, die in den vergangenen Wochen und Monaten in diesem Blog-Journal erschienen sind. Christian Heuer fordert in einem provokativen und zugleich äußerst anregenden Beitrag, tradierte Begriffe und Konzepte infrage zu stellen. Diese Forderung beziehen einige Geschichtsdidaktiker offenbar auch auf die Zentralkategorie Geschichtsbewusstsein. Steht sie damit grundsätzlich zur Disposition?
„Was ist denn Geschichtsbewusstsein?“
Wirft man einen Blick auf die Argumente der Kritiker, dann gibt es scheinbar drei Gründe, die die Kategorie des Geschichtsbewusstseins in Misskredit bringen. Das erste Argument ist ein pragmatisches. „Was ist denn“, so fragt Christoph Pallaske hier in diesem BlogJournal „– kurz und knapp auf den Punkt gebracht – Geschichtsbewusstsein?“ Einerseits sind diese Frage und der mit ihr verbundene Wunsch nach praxisrelevanten „verbindlichen Antworten“ nachvollziehbar. Andererseits lebt Wissenschaft nun einmal von Kontroversen, nicht von endgültigen Antworten. Und zentrale Kategorien lassen sich wohl auch deshalb nicht kurz und knapp auf den Punkt bringen, weil sie dazu einfach zu komplex sind. Unabhängig davon wäre es allerdings zielführend, wenn sich die Geschichtsdidaktik stärker um die Synthese unterschiedlicher Geschichtsbewusstseinstheorien bemühen würde. Zugleich gibt es einen Bedarf an weiterer Differenzierung und psychologischer bzw. neurowissenschaftlicher Fundierung. Und nicht zuletzt müsste die Geschichtsdidaktik über die Systematik ihres Kategoriengefüges insgesamt neu nachdenken.1 Das zweite Argument ist ein empirisches und trotz bemerkenswerter Fortschritte in den vergangenen Jahren nach wie vor relevant. Immer noch sind einschlägige Geschichtsbewusstseinstheorien nicht oder nur teilweise empirisch validiert; immer noch mangelt es an plausiblen Operationalisierungen; immer noch sind Studien zur Entwicklung und Graduierung von Geschichtsbewusstsein rar gesät bzw. in ihren Befunden widersprüchlich; immer noch wissen wir viel zu wenig darüber, wie Lehrerinnen und Lehrer reflektiertes Geschichtsbewusstsein erfolgreich fördern können. Für die geschichtsdidaktische Empirie bleibt also auch in Zukunft viel zu tun.2 Das dritte Argument schließlich betrifft die theoretischen Prämissen. Bärbel Völkel hat hier vor Kurzem die These aufgestellt, die Kategorie des Geschichtsbewusstseins (und im Zusammenhang damit die der Geschichtskultur) sei unzeitgemäß, denn sie bedeute „stets auch, ethnozentrisch zu denken“.
Eine nach wie vor aktuelle Kategorie
Dieses Argument mag diskursstrategisch effektiv sein, überzeugend ist es nicht. Jörn Rüsen, auf den Bärbel Völkel Bezug nimmt, hat sich in seiner Historik erneut für Geschichtsbewusstsein und Geschichtskultur als zentrale Kategorien der Geschichtsdidaktik ausgesprochen.3 Er sieht zwar das Problem des Ethnozentrismus, plädiert aber dafür, „an der Menschheitsdimension der Geschichtskultur [und damit zugleich des Geschichtsbewusstseins, H.T.] festzuhalten“ und auf diese Weise „die monozentrische Perspektivierung des ethnozentrischen Denkens“ aufzubrechen. Ganz ausdrücklich spricht Rüsen sogar vom „Polyzentrismus der einen Welt“.4 Und Karl-Ernst Jeismann, dessen Beiträge an Relevanz nichts verloren haben, aber zum Teil überraschenderweise nicht rezipiert werden,5 schrieb bereits 1988: „Geschichtsbewußtsein [...] macht die Kommunikation verschiedener Personen oder Gruppen, Völker oder Religionen möglich, ja, erforderlich und erweist sich […] als ein tendenziell ,weltbürgerliches‘ Bewußtsein“.6 Angesichts dessen stellt sich die Frage, ob die Kategorie des Geschichtsbewusstseins nicht weitaus zeitgemäßer ist als ihre teilweise unzeitgemäße Rezeption.
Emanzipation als Alternative?
Unabhängig davon kann man natürlich über Alternativen nachdenken. Bärbel Völkel erinnert in diesem Zusammenhang an Annette Kuhns emanzipatorische Geschichtsdidaktik. Man muss die scharfsinnige Kritik, die die Protagonisten anderer Konzepte an Kuhns anspruchsvollem Ansatz geübt haben,7 nicht unbedingt teilen. Man kann aber die Frage stellen, ob es sich bei der Emanzipations-Kategorie um eine echte Alternative handelt. Zum einen hat Peter Schulz-Hageleit bereits vor 15 Jahren den Vorschlag gemacht, das Verhältnis zwischen Geschichtsbewusstsein und Emanzipation nicht als Gegensatz zu beschreiben, sondern komplementär zu fassen.8 Wäre es im Anschluss an diese Überlegung nicht naheliegend, Emanzipation – verstanden als eine Form kritischer Sinnbildung – als einen bestimmten Modus historischen Denkens in Rüsens und Jeismanns Konzept des Geschichtsbewusstseins zu integrieren? Zum anderen sollte man darüber nachdenken, ob es disziplinpolitisch überzeugend ist, Geschichtsbewusstsein als Zentralkategorie der Geschichtsdidaktik nicht nur zur Diskussion (das ist zweifelsohne sinnvoll, dazu regen Christian Heuer und andere zu Recht an), sondern grundsätzlich zur Disposition zu stellen. Denn immerhin hat die Kategorie Geschichtsbewusstsein nicht nur den entscheidenden Vorteil, dass sie fachspezifisch ist,9 sie ist auch international anschlussfähig,10 und sie ist nach der Irritation, die die geschichtsdidaktische Kompetenzdebatte nicht nur bei vielen Lehrerinnen und Lehrern ausgelöst hat, vielleicht die einzige tragfähige kategoriale Brücke zwischen Theorie und Praxis, zwischen Wissenschaft und Unterricht. In Deutschland jedenfalls gibt es im Moment kaum ein Bundesland, das in seinen Lehrplänen für das Fach Geschichte ohne die Kategorie Geschichtsbewusstsein auskommt. Ganz im Gegenteil – in den meisten Lehrplänen spielt sie eine zentrale Rolle.
Literatur
- Jeismann, Karl-Ernst: Geschichtsbewußtsein als zentrale Kategorie der Geschichtsdidaktik. In: Gerhard Schneider (Hrsg.): Geschichtsbewußtsein und historisch-politisches Lernen, Pfaffenweiler 1988 (= Jahrbuch für Geschichtsdidaktik, Bd. 1), S. 1-24.
- Rüsen, Jörn: Historik. Theorie der Geschichtswissenschaft, Köln 2013.
- Schulz-Hageleit, Peter: Emanzipation und Geschichtsbewußtsein. Anregungen für die Wiederaufnahme und Fortsetzung einer Diskussion. In: Arnold, Udo u. a. (Hrsg.): Stationen einer Hochschullaufbahn. Festschrift für Annette Kuhn zum 65. Geburtstag, Dortmund 1999, S. 52-61.
Externe Links
- Centre for the Study of Historical Consciousness (The Historical Thinking Project): http://www.cshc.ubc.ca/ (zuletzt am 5.2.14)
- Forschungsprojekt FUER (zur Förderung und Entwicklung von reflektiertem Geschichtsbewusstsein): http://www.fuer-geschichtsbewusstsein.de/ (zuletzt am 5.2.14)
Abbildungsnachweis
© Coyau, Wikimedia Commons. Versailles, salon de la guerre, Clio écrivant l’histoire du Roi, von Antoine Coysevox.
Empfohlene Zitierweise
Thünemann, Holger: Abschied vom Geschichtsbewusstsein? In: Public History Weekly 2 (2014) 5, DOI: dx.doi.org/10.1515/phw-2014-1266.
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